Dass der Surrealismus keineswegs auf die Zeit der Avantgarden der 20er und 30er Jahre des 20. Jahrhunderts zu beschränken ist, sondern für den Film bis heute produktiv geblieben ist, und zwar von Hollywood bis Hongkong, vom Mainstream- bis zum Independentkino: Dies zeigt in eindrucksvollen Einzelstudien ein aktueller Sammelband.
Von Anton Dechand
Dass sich von allen Avantgarden des 20. Jahrhunderts der Surrealismus als eine der bekanntesten und am stärksten rezipierten Strömungen erwies – dieser Feststellung wird jeder zustimmen könne. Auch scheint jeder mit dem Adjektiv »surreal« etwas anfangen zu können. Und das obwohl der Surrealismus spätestens nach den Zweiten Weltkrieg nicht mehr existierte. Oder etwa doch? So argumentiert die vorliegende Aufsatzsammlung Surrealismus und Film, welche die Ergebnisse eines Workshops im Rahmen des kulturwissenschaftlichen Forschungskollegs Medienumbrüche am 14 und 15. Dezember 2006 an der Universität Siegen zusammenfasst.
Filmtheoretiker zählen zum surrealistischen Film in der Regel nur Un chien andalou (1929) von Luis Buñuel. Manchmal wird der Nachfolger L’Age d’Ôr (1930) gnädig einbezogen. Die Herausgeber von Surrealismus und Film versuchen dagegen, neue filmische und intermediale Spielformen des Surrealismus in die Betrachtung einzubeziehen. Das Schlagwort lautet: »Ästhetik des Surrealen«. In insgesamt sechzehn Einzelanalysen wird dieser Ästhetik in ihren unterschiedlichen Metamorphosen von Federico Fellinis Giulietta degli spiriti (1965) bis zu David Lynchs Kultfilm Lost Highway (1997) nachgespürt. Dabei bedienen sich die Verfasser nicht nur bei der Filmtheorie, sondern auch bei der Kulturanthropologie, Literatur, Soziologie und Philosophie, um dieses vielschichtige Thema in seiner ganzen Komplexität und in seinem medienübergreifenden Charakter zu würdigen.
Was ist unter der »Ästhetik des Surrealen« zu verstehen? Die Prämisse der Beiträge ist, dass sich surrealistische Motive und Verfahren entdecken lassen, wenn eine »nicht mehr chronologische, sondern archäologische, Diskontinuitäten reflektierende Konzeption der Kinogeschichte« vorausgesetzt wird. Begriffe wie »klassischer Surrealismus« und »Neosurrealismus« werden gemieden. Der Surrealismus erweist sich stattdessen »als inspirierendes und konspiratives Prinzip auch für (scheinbar) konventionell erzählte, populäre Filme«. Seine Mechanismen wirken oft unerkannt im Hintergrund und sind dem Zuschauer mittlerweile so vertraut, dass sie übersehen werden. Ein solcher Ausgangspunkt erklärt die Tatsache, dass Filme von David Lynch ebenso Beachtung finden wie jene von Jean-Luc Godard, Stanley Kubrick, Jean-Pierre Jeunet oder gar Orson Welles.
Michael Lommel zählt als Kriterien einer Ästhetik des Surrealen folgende Punkte auf: 1. die zentrale Bedeutung der einzelnen Szene gegenüber der ganzen Handlung; 2. Verfremdung, Absurdität, A-Logik; 3. Metamorphose und Transgression; schließlich 4. das Verschmelzen von Realität und Traum/Halluzination. Man kann sagen, dass allen untersuchten Filmen eben dieses Spiel mit der Wahrnehmung und die Auflösung oder Erweiterung der Wahrnehmungskriterien gemeinsam ist.
In ihrem sehr lesenswerten Aufsatz zu David Lynchs Fernsehserie Twin Peaks unterscheiden Nicola Glaubitz und Jens Schröter zwischen dem »Surrealistischen« und dem »Surrealen«. Ersteres sind Zitate oder Anspielungen auf surrealistische Klassiker; das Zweite ist ein Verfahren von unerwarteten grotesken Kombinationen oder auffälligen Inszenierungen von Gegenständen, die eine surreale Atmosphäre erzeugen. Auch wenn leider kein anderer Beitrag diese Unterscheidung berücksichtigt, spielen die intertextuellen und intermedialen Zitate in den analysierten Filmen eine große Rolle. Gerade die Intermedialität, so argumentiert der Band überzeugend, ist hier nicht nur ein Collageprinzip, so wie die Surrealisten es praktizierten, sondern ein integraler Bestandteil der filmischen (Selbst-)Reflexion. Im Zusammentreffen von Bild, Ton, Foto, Buch und Kunstwerk werden der illusionäre Charakter des Kinos verhandelt und die Grenzen von Realität und Konstruktion verschoben.
Eine weitere Prämisse des Bandes ist, dass die surreale Ästhetik »zum ontologischen Kern des Films« vordringt. Dabei ist die Überlegung, dass sich die einzelnen Filmbilder durch eine eigentümliche Zeitlosigkeit auszeichnen. Sie verweisen weder auf Gegenwart noch auf die Vergangenheit – sie können bloß im Gefüge der Narration eine solche filmimmanente Funktion bekommen. Kinobilder folgen filmischen Konventionen, wie Schnitt, Vor- und Rückblenden, die dem Zuschauer eine Ordnung vorgeben (und vorgaukeln) können, doch letzten Endes stehen die einzelnen Bilder für sich und hängen nicht einmal mit dem Ton zusammen. Das heißt, die Informationsvergabe über die Bilder muss nicht mit derjenigen der Tonspur zusammenfallen, und die Kette der Bilder bleibt nicht immer intakt. Oft drängen sich einzelne Bilder in die filmische Diegese und ›sprengen‹ sie.
Da also jedes Bild eine relative Autonomie beansprucht, setzt die surreale Methode, so die These, dort an, wo sich Traum und Realität, Sichtbares und Imaginiertes, Gegenwart und Vergangenheit berühren und mischen. Mit Deleuze handelt es sich um Filme, die ihr surrealistisches Wesen, ihre Potenz als Simulakra nutzen und darstellen. In Tarsem Singhs The Cell (2000) ist es beispielsweise die Verbindung vom rätselhaften Geschehen im Unbewussten der Protagonisten und den Auswirkungen in der filmischen Realität. In David Lynchs Lost Highway, den Vera Schröder als vollends surrealistischen Film bezeichnet, werde die Symbiose am weitesten vorangetrieben. Anzeichen dafür ist zum einen die Unauflöslichkeit der Identität des Protagonisten Fred Madison/Pete Dayton. Zum anderen ist die Zeitachse ebenfalls beschädigt, und es werden Ereignisse angesagt, die erst später im Film geschehen. Schließlich führen die Erinnerungen, Träume und Vorahnungen der Protagonisten zur Verunklarung des Geschehens.
Insgesamt liefert die Aufsatzsammlung einen gewinnbringenden und spannenden Beitrag zur neueren Filmwissenschaft. Die archäologische Herangehensweise, welche Kontinuitäten der surrealistischen Verfahren im Kino reflektiert, und die Kategorie der »Ästhetik des Surrealen« erweisen sich als fruchtbar und werden in vielen detaillierten Analyen mit Erfolg angewendet. So öffnen sich neue Blickwinkel auf Filme wie Werner Herzogs Aguirre (1972), die auf den ersten Blick nichts mit dem Surrealismus zu tun haben. Herausragende Beiträge sind hier, neben den genannten Studien zu Twin Peaks und The Cell, die ausgezeichneten Analysen von Gerhard Wild und Michael Lommel. Die zahlreichen Abbildungen und movie stills, die die Analysen stützen, sind sehr hilfreich und auflockernd.
Weniger überzeugen können allein die Aufsätze von Kerstin Küchler und Uta Felten, die allzu knapp in der Auswertung der Filmbeispiele ausfallen. Einige Begriffsunklarheiten offenbaren sich zudem, wenn Walburga Hülk das »Surrealistische« und das »Surreale« anders definiert als Glaubitz/Schröter und das »Surreale« sehr weit als einen Begriff definiert, der auf ein »immenses Feld anthropologischer und ästhetischer Phänomene« verweise..
Diese kleinen Schönheitsfehler tun dem positiven Gesamteindruck aber keinen Abbruch. Anstatt unberechtigt einen Neosurrealismus zu proklamieren, besprechen die Autoren »Medienexperimente«, die »nicht mit offensiven Konventionsbrüchen arbeiten und sich Konventionen mimetisch angleichen [und damit] […] ästhetische Normalisierungsprozesse subtil […] unterlaufen.« Sie zeigen die Lebendigkeit und die Kombinationslust des Surrealismus in der heutigen Filmlandschaft, was natürlich nicht umfassend in einer Publikation geleistet werden kann. Da das Forschungskolleg der Universität Siegen im Rahmen des Projekts »Intermedialität im europäischen Surrealismus« weiterhin aktiv ist, kann man auch für die Zukunft mit spannenden Veröffentlichungen rechnen.