Für ihren biografisch gefärbten Debütroman Berlin liegt im Osten wurde die russische Übersetzerin und Journalistin (u.a. der Freitag) Nellja Veremej 2014 mit dem Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis geehrt. Eine feinfühlige Nachbarschaftsstudie von Ost und West, für Litlog besprochen von Isabel Keinert.
Von Isabel Keinert
Osten und Westen – die Grenzen sind fließend und variieren je nach Perspektive. Zwischen diesen nicht nur geographischen Welten bewegt sich Lena, die Ich-Erzählerin des Romans Berlin liegt im Osten (Jung & Jung, Salzburg und Wien 2013). Sie ist es, deren Gedanken den Bewusstseinsstrom bilden, welcher in Berlin in der Umgebung um den Alexanderplatz entspringt. Rückblickend bricht er von dort in Nebenflüsse aus, mäandert nach Kema, ihren Heimatort in den Weiten Russlands, und fließt schließlich zum Kaukasus und nach Leningrad. Seine Mündung liegt jedoch in der Nachbarschaft zum Alexanderplatz, in welcher Lena mit ihrer Tochter Marina wohnt. Von ihrem ehemaligen Lebensgefährten Schura lebt sie getrennt – mit ihm ist sie damals voll von Hoffnungen und Träumen nach der Wende gen Westen gezogen.
Die Lebensweise der Europäer war uns weniger vertraut als die der Marsbewohner, über deren Sitten uns sowjetische Unterhaltungsbücher bestens informierten. Wir sehnten uns nach dem unfassbaren Westen und waren sehr neugierig darauf. In Russland repräsentierten die Deutschen das wahre Abendland, sie waren unsere eigenen Fremden. Die anderen Europäer waren uns zu abstrakt. Die Deutschen aber schienen zum Greifen nah zu sein und auch so anders als wir: fleißig, nüchtern, sachlich, wie Herr Seitz.
Nicht alle Träume haben sich erfüllt – mit dem Diplom in Philologie und Englisch hoffte Lena im Westen etwas aus sich zu machen und einen Platz für sich und ihre junge Familie zu finden. Doch auch noch nach vielen Jahren fühlt sie sich wie in der Fremde. Ihr Osten, den sie doch hinter sich lassen wollte, war mitgereist und zog erneut Grenzen. Im mittleren Alter in der Altenpflege gestrandet, wird sie zur Archivarin der Erinnerungen ihrer Patienten. Aus Scham, es nicht geschafft zu haben, verschweigt sie der Mutter im fernen Russland ihren Beruf.
Mir ist es peinlich, dass ich hier im Paradies nicht so weit gekommen bin wie erhofft. Und dass ich die fremden Alten mit dem Löffel füttere, während meine eigene Mutter irgendwo im weiten Osten allein in ihrem weißen, einäugigen Häuschen sitzt.
So kümmert sie sich um den gebrechlichen Ulf Seitz, mit dem sie mehr verbindet als das Pflegeverhältnis. Er stammt ebenfalls aus dem Osten, der ehemaligen DDR, und die Erinnerungen an sein vergangenes Leben von der Kindheit bis zur Einsamkeit der Rente sind es, die den anderen roten Faden im Roman bilden. Sie sind sich vertraut geworden:
Man könnte es als Ehestreit bezeichnen, wenn wir ein Paar wären. Wir sind aber kein Paar, genauer gesagt, kein richtiges. Unsere Zweisamkeit lässt sich schwer einordnen, unsere Freundschaft hat vage Konturen, wie aufeinander gestapelte Dias: Samariterin und Verwundeter, Vater und Tochter, Deutscher und Russin, Siegerin und Besiegter – zwischen uns liegen Welten, Jahrzehnte, Flüsse, Gräber, Meilen, und die Seilbrücke über diesen Abgrund ist gespannt wie eine Saite, die seltsame und nur für uns wahrnehmbare Töne hervorbringt.
Dabei kommen beide Seiten zu Wort, die östlich und die westlich der Grenze, so dass sich eine gemeinsame Geschichte entspinnt. Verdrängte und scheinbar vergessene Erinnerungen steigen aus den Tiefen des Unterbewussten auf – manche entpuppen sich als Illusionen aus der Retrospektive. Lena erinnert ihre Kindheit in Kema:
Einsamkeit war ein rares Gut in den übervölkerten Räumlichkeiten und ich phantasiere mir zusammen, dass sie sich alle auch wirklich geliebt haben. Das muss aber nicht wahr sein, denn das Ganze ist nichts mehr als ein Stummfilm, an dessen Montage mein launisches Gedächtnis jahrelang hartnäckig gearbeitet hat.
Lenas scharfsinniger und ungewöhnlicher Blick auf die Schicksale der Menschen ihres Umfelds sorgt für facettenreiche Berlin-Impressionen. Sie will die Grenze zum Osten hinter sich lassen – ob und wie sie diese Grenze zu überschreiten vermag, die womöglich nur in unseren Köpfen und Herzen gezogen ist, beleuchtet der Roman auf wunderbare Weise.