Erwähnung von Antisemitismus
Der Nationalsozialismus beeinflusste auch das Kunsthistorische Seminar der Universität Göttingen. Anhand der Geschichten von Nikolaus Pevsner und Wolfgang Stechow wird nachgezeichnet, wie die Verfolgung und Vertreibung von Wissenschaftler*innen Biographien prägte.
Von Anna-Lena Brunecker und Simon Sendler
»In meinem Schreiben an den Herrn Kurator der Universität Göttingen habe ich erwähnt […], dass ich mich zu diesem Antrag nach langem Zögern und mit besonderer Rücksicht auf meinen durch einen Herzinfarkt bis zu einem gewissen Grade geschwächten Gesundheitszustand und im Interesse einer grösstmöglichen Sicherstellung meiner Familie […] entschlossen habe.«1
Mit diesen Worten stellt Wolfgang Stechow 1956 nach vielen Jahren in der Emigration seinen Antrag auf Wiedergutmachung.2 Jahrelange Entrechtungen und erlittenes Leid können durch eine materielle Entschädigung und juristische Rehabilitierung natürlich nicht gelindert oder gar rückgängig gemacht werden. Allerdings wird dieser Begriff in der Fachwelt verwendet, auch wenn seine Konnotationen durchaus umstritten sind.
Die Antragstellung fällt Stechow nicht leicht, doch aus Sorge um seine Familie versucht er, finanzielle Anerkennung für seine akademischen Leistungen zu bekommen.3 Hätten er und sein Kollege Nikolaus Pevsner in Deutschland bleiben und die venia legendi4 in Ruhe verfolgen können, wären ihre Leben natürlich ganz anders verlaufen.
Wie kam es überhaupt dazu, dass Stechow den Antrag stellen muss? Wolfgang Stechow habilitiert sich 1926 bei dem Göttinger Lehrstuhlinhaber Georg Graf Vitzthum von Eckstädt und wird 1931 zum apl. Professor ernannt.5 Stechows Tätigkeit ist insbesondere wichtig für die Kunstsammlung, deren ersten ausführlichen Katalog der Gemälde er 1926 verfasst.6 Unter der Leitung des Universitätskurators Justus Theodor Valentiner kauft Stechow zwischen 1927 und 1936 viele Werke an, wobei er einen Schwerpunkt auf die umstrittene Moderne setzt: So erwirbt er beispielsweise ein kleines Ölgemälde von Paula Modersohn-Becker, welches heute nicht mehr auffindbar ist, ein Gemälde von Tischbein sowie viele Graphiken (besonders Radierungen, Lithographien und Holzschnitte) von Lovis Corinth, Erich Heckel, Carl Hofer, Alexander Kanoldt, Wilhelm Lembruck, Max Liebermann, Emil Nolde, Auguste Renoir, Camille Pissaro, Max Slevogt und Leopold von Kalckreuth. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf niederländischen Graphiken des 17. Jahrhunderts. Darüber hinaus erwirbt Stechow verschiedene Plastiken aus dem 14. Jahrhundert, um 1500 und aus dem Barock.7
Die Machtübertragung an die Nationalsozialisten wird am kunsthistorischen Seminar nicht positiv aufgenommen. Der Lehrstuhlinhaber Vitzthum, dem sowohl Stechow als auch Pevsner durch ihre Habilitationen sehr nahe stehen, wird nie Mitglied der NSDAP,8 deren Ideologie er als »die Weltanschauung des Kleinbürgertums« ablehnt.9 Als die antisemitischen Repressalien immer weiter zunehmen, tritt er für den jüdischen Maler Max Liebermann ein, da er sein liberales Gewissen nicht mit dem Nationalsozialismus vereinbaren könne, wie Stechow in seinem Nachruf auf Vitzthum berichtet.10 Tatsächlich
Das intellektuelle Bürgertum soll allerdings auch als Ganzes geschwächt werden, und so systematisieren die Nationalsozialisten ihre Verfolgungen und berauben durch Gesetze viele Wissenschaftler*innen ihrer Lebensgrundlage.12 Zentral für die Verfolgung von Lehrenden ist das »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« (BBG) vom 7. April 1933. Dieses Gesetz regelt in §3 die Entlassung »nicht arischer« Beamter. Ausnahmen bilden zunächst noch die »Altbeamten«, die vor dem 1. August 1914 verbeamtet wurden und die »Frontkämpfer«, Veteranen des Ersten Weltkriegs. Ergänzend hierzu regelt §4 die Entlassung derjenigen, die nicht »jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat eintreten.«
Das »Gesetz über die Führung akademischer Grade« vom 7. Juni 1939 fasst eine Reihe von Erlassen der Länder auf Reichsebene zusammen. Hier regelt §4. Abs. 1 die Entziehung des Doktorgrades nicht nur wegen »unwürdigen« Verhaltens, sondern auch, »wenn sich nachträglich herausstellt«, dass Träger*innen zum Zeitpunkt der Erteilung des Doktorgrades unwürdig gewesen seien. Das Gesetz hat noch bis in die Zeit der Bundesrepublik Bestand, das Land NRW setzt es erst 1987 außer Kraft. Zwischen 1935 und 1945 werden in Göttingen insgesamt 79 Titelaberkennungen vorgenommen. Der größte Teil der Titelentziehungen in Göttingen wurde auf Grundlage des »Gesetzes über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit« vom Juli 1933 vorgenommen. Von Seiten der Universitäten wird die Verfolgung von Wissenschaftler*innen erst relativ spät aufgearbeitet, mittlerweile ist die Verfolgung von Lehrenden weitgehend gut dokumentiert.
Individuelle SchicksaleDas erste Opfer der nationalsozialistischen Verfolgungspolitik am Kunstgeschichtlichen Seminar ist Nikolaus Pevsner. Nur wenig später als Stechow, 1928, habilitiert sich Nikolaus Pevsner ebenfalls bei Vitzthum und erhält im folgenden Jahr die Privatdozentur in Göttingen.13 Obwohl er bereits 1921 zum evangelischen Glauben übertritt, gilt er als Kind jüdischer Eltern für die Nationalsozialisten ebenfalls als Jude. Bereits im Februar 1933 – also noch vor der Erlassung des BBG – wird Pevsner beurlaubt.14 Als überzeugter Nationalist steht er dem nationalsozialistischen Regime anfangs trotz der Repressalien gegen jüdische Mitbürger*innen, die auch ihn treffen, nicht ausschließlich ablehnend gegenüber. So stellt er im Mai 1933 in einem Gespräch mit einer englischen Zeitschrift fest:
»I love Germany, it is my country. I am a Nationalist, and in spite of the way I am treated, I wanted this movement to succeed. There is no alternative but chaos, and I cannot want my country to be plunged into civil war. There are things worse than Hitlerism.«15
Pevsner ist zunächst noch der Überzeugung, dass der Nationalsozialismus bald vorübergehe und ein rechtsgerichtetes, aber modernistisch orientiertes und nicht antisemitisches Deutschland zurücklassen werde.
Am 09. September 1933 entzieht der Kultusminister nach §3 BBG Pevsner die Lehrbefugnis. Nach einem erfolglosen Versuch, in Italien Fuß zu fassen, erhält Pevsner schließlich 1934/35 ein Stipendium der Universität Birmingham. Auch hier hofft er weiterhin auf eine baldige Rückkehr: »As soon as the Aryan business fades out, I’m back home.«16 Erst nach der Verabschiedung der Nürnberger Rassengesetze stellt Pevsner resigniert fest: »I am condemned to stay in England.«17
Im Gegensatz zu Pevsner ist Stechow vom §3 des BBG als »Frontkämpfer« zunächst weniger betroffen als Pevsner. Trotzdem wird ihm als »Viertel-Jude« der Unterricht systematisch erschwert. Ab den Pfingstferien 1933 darf Stechow keine Vorlesungen, sondern nur noch Übungen anbieten.18 Die Fakultät beantragt zwar 1934 ein Stipendium in Höhe seines bisherigen Gehaltes, um ihm die Suche nach einer neuen Anstellung zu ermöglichen,19 dieses wird jedoch bereits 1935 nicht mehr verlängert.20 Ab dem Wintersemester 1936/37 ist Stechow zunächst für einen Aufenthalt in Madison, Wisconsin, beurlaubt.21 Von der dortigen Staatsuniversität erhält er schließlich 1937 einen Ruf als Associate Professor für Kunstgeschichte, den er am 2. Juni 1937 annimmt und somit »freiwillig« seine Stelle in Göttingen aufgibt.22
Die Kündigung Stechows ist nicht nur ein starker Verlust für die Lehre, sondern auch für die Kunstsammlung der Universität, da nach seinem Weggang 1936 keine Kunstankäufe mehr getätigt werden.23 Noch dazu werden im Sommer 1937 im Rahmen der Aktion »Entartete Kunst« zahlreiche Kunstwerke aus der Sammlung – trotz Protesten aus dem Seminar – beschlagnahmt.
Pevsner gelingt es im Gegensatz zu Stechow nach dem Auslaufen seines Stipendiums 1935 zunächst nicht, seinen Lebensunterhalt dauerhaft zu sichern. Er publiziert weiterhin wissenschaftliche Arbeiten, während er bis 1940 als Einkäufer und Berater für den englischen Designer und Kunsthändler Gordon Russell arbeitet. Im Dezember 1940 wird Pevsner als Deutscher kurzzeitig interniert, bevor er als »vollamtlicher Schuttschipper« und Luftschutzmann verpflichtet wird. 1941 schließlich findet er eine Anstellung als Dozent am Birbeck College der University of London und verliert im selben Jahr seine deutsche Staatsbürgerschaft. Die britische Staatsbürgerschaft erhält er allerdings erst 1946, nachdem er 1945 an dem College den Lehrstuhl für Kunstgeschichte übernimmt.24 Dieses Ordinariat hat er bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1969 inne.
Verschleppte Versöhnung und WiedergutmachungNach dem zweiten Weltkrieg unternimmt das Kunstgeschichtliche Seminar oder die Universität keine Versuche, wieder Kontakt zu Stechow oder Pevsner aufzunehmen. Immerhin unterstützen Göttinger Wissenschaftler*innen Pevsners Antrag auf Wiedergutmachung, den dieser erst im August 1957, lange nach dem Ende der Antragsfrist, stellt. Wegen dieser Fürsprache wird Pevsners Antrag stattgegeben und Pevsner erhält das Ruhestandsgehalt eines ordentlichen Professors zuerkannt.
Auch Stechows Antrag wird ohne Beanstandung bereits im November 1957 bewilligt.25 Stechow ist von der Anerkennung seines Antrags auf Wiedergutmachung hoch erfreut und bietet dem Kurator der Universität Konrad Müller im Januar 1958 an, die geplante Neuauflage von Stechows Katalog der Gemäldesammlung finanziell zu unterstützen.26 Müller leitete Stechows Angebot an Heinz Rudolf Rosemann, Leiter des Kunsthistorischen Seminars, weiter, der jedoch ablehnt: Stechows Angebot zeige »die noble Art seines Denkens und ist eine selten großzügige Handlungsweise, der gegenüber ich mich unterlegen fühle. Es wird mir persönlich schwer, eine Schenkung vor dem Hintergrund des Vergangenen entgegenzunehmen.«27 Erst unter Karl Arndt, der 1970 Rosemanns Nachfolge antritt, entsteht erneut Kontakt zu Stechow, der eingeladen wird, eine Gastvorlesung am Seminar in Göttingen zu halten.28 Wolfgang Stechow verstirbt 1974 in den USA. 1981 schenkt seine Witwe Ursula Stechow, obwohl sie weiterhin in Oberlin (Ohio)
Trotz des Unrechts, das vielen Wissenschaftler*innen der Universität im Nationalsozialismus zugefügt wurde, blicken Wissenschaftler wie Wolfgang Stechow nicht verbittert auf ihre Zeit in Göttingen zurück und unterstützen stattdessen sogar das Seminar. Dieses große Vertrauen in das Kunsthistorische Seminar sollte allerdings auch laufend dadurch verdient werden, dass die Geschichte des Seminars während des Nationalsozialismus weiterhin eine stetige Aufarbeitung erfährt.