Das Junge Theater Göttingen gibt im aktuellen Stück Oleanna – ein Machtspiel ein heikles Statement ab: Eine Frau fügt dem hierarchisch höher gestellten Mann Schaden zu, indem sie ihn einer von ihr inszenierten Vergewaltigung bezichtigt. Oleanna reproduziert Mythen und Klischees und bleibt doch bis zum Ende kontrovers.
Ein Kommentar von Juliane Imbusch und Sina Rohde
Das Junge Theater schickt sein Ensemble an die Universität: mit dem Stück Oleanna vom US-amerikanischen Autoren David Mamet, das erstmals in einem Uni-Hörsaal aufgeführt wird. Oleanna – ein Machtspiel zeigt Machtstrukturen auf, die im Uni-Kontext eine wichtige Rolle spielen. Wie z.B. formale Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Studentin und Dozent, Geschlechterdebatten, sexuelle Belästigung und Übergriffe an der Uni und die Macht der (akademischen) Sprache.
Diese Themen treffen in einer spannungsvollen Konstellation aufeinander: die Studentin Carol sucht ihren Dozenten in seinem Büro auf, um ihre Seminararbeit zu besprechen und um ihn um Hilfe beim Lernen zu bitten. Im folgenden Gespräch übertritt John allerdings zahlreiche Grenzen des Verhältnisses zwischen Dozent und Studentin. Die Machtverhältnisse kehren sich analog zur Aktstruktur des Stückes um und die Spannung zwischen den beiden schaukelt sich hoch bis zur Eskalation.
Politisches Theater an der UniJohn hat – ob bewusst oder unbewusst – schon durch seine formale Position als Dozent Macht über Carol und nutzt diese aus. Er gibt ihr sogenannte »Nachhilfestunden«, ohne ihr im Mindesten zuzuhören, bietet ihr eine 1 an, weil er »sie mag« und versucht auch, ihr körperlich näher zu kommen. Zu diesem Zeitpunkt sind die Machtverhältnisse noch ganz klar, geradezu klischeemäßig aufgeteilt zwischen einem übergriffigen, lauten Dozenten und einer verschüchterten Studentin.
Später ändert sich dies jedoch, denn Carol hat ihn wegen sexueller Belästigung angezeigt und taucht wieder in Johns Büro auf, um die vorangegangene übergriffige Situation zu thematisieren. Nun überschreitet sie aber einige Grenzen und versucht, ihre eigenen Interessen durchzusetzen, indem sie ihn einer versuchten Vergewaltigung beschuldigt. Carol verwandelt sich von einem stillen Mäuschen in ein autoritäres Monster, das plötzlich auch einer mysteriösen (feministischen?) Gruppe angehört. Sie übt, wie vorher John, der akademische Phrasen gegen die unwissende Studentin einsetzt, ihre Macht durch Sprache aus, indem sie ihm den Mund verbietet und versucht, ihn mit bloßen Behauptungen zu erpressen.
Mythos auf der BühneWährend des Machtkampfes zwischen Carol und John ist es oft schwer zu entscheiden, wer im Recht oder Unrecht ist, denn die Sympathie wechselt von Moment zu Moment. John wird kontinuierlich als narzisstisch und arrogant dargestellt, er redet beispielsweise überheblich mit seiner Frau am Telefon. Carol hingegen macht eine plötzliche, unglaubwürdige Wandlung durch: Sie wird überraschend von einer unsicheren jungen Frau zu einer machtbewussten, wortgewaltigen und unberechenbaren Kämpferin.
Die Antipathie gegen Carol ist jedoch stärker. Das liegt nicht zuletzt an der Figurenzeichnung, denn man weiß viel über Johns Leben, während Carols Geschichte zahlreiche Leerstellen aufweist, die ihren Charakter misstrauenswürdig und ambivalent machen. Für die ZuschauerIn kann die Motivation ihrer Handlungen nur Spekulation sein, während Johns Handlungen aus dem Stück heraus erklärbar und nachvollziehbar sind. Dass die Studentin als hysterische Intrigenspinnerin gezeichnet wird, ist zwar für die Dramaturgie des Stückes plausibel, doch es ist höchst problematisch für den Diskurs zu sexueller Belästigung und sexualisierter Gewalt an der Universität. Der Fall, der hier großen Raum bekommt – eine Frau, die einen erfundenen Vergewaltigungsversuch benutzt, um die Karriere eines verhassten Mannes zu zerstören – kommt in der Realität fast nie vor.
Im Gegenteil, am Campus gehören Vorfälle sexueller Belästigung zur traurigen gesellschaftlichen Realität. So belegt die aktuelle Studie »Gender-based Violence, Stalking and Fear of Crime« (2009-2011), dass jede zweite Studentin schon einmal sexuelle Belästigung erlebt hat. Viele Fälle werden jedoch nicht einmal angezeigt, da das Klima an der Universität von zahlreichen Abhängigkeitsverhältnissen geprägt ist. Außerdem werden die Betroffenen in der Öffentlichkeit sehr oft stigmatisiert und ausgegrenzt. Im medialen Diskurs z.B. wird dieser Mythos der erfundenen Vergewaltigung oft bemüht: ›wer weiß, ob sie das nicht nur erfunden hat, um ihm zu schaden‹ – zuletzt gesehen im Kachelmann-Prozess oder bei Strauss-Kahn. Betroffene Personen sind in dieser Gesellschaft immer in einer Beweispflicht, wenn es zu einer Anzeige kommt. Daher ist es für sie überhaupt nicht lohnenswert, solch eine Story zu erfinden, weil der psychische Druck extrem hoch ist. Der Mythos einer manipulativen Betroffenen macht eine Thematisierung sexueller Gewalt schwieriger, weil sofort an der Glaubwürdigkeit des Opfers gezweifelt wird.
Kammerspiel im HörsaalDie Inszenierung des JT überrascht hingegen durch eine differenziertere Sprache als sie im Originalstück zu finden ist. Carol spricht hier fast wortwörtlich von einer psychischen Vergewaltigung, der sie und andere Studierende seit mindestens zwei Semestern unter John ausgesetzt waren. Vor allem die schauspielerische Leistung von Henrike Richters und Jan Reinartz ist bemerkenswert. Entgegen der Vermutung, dass Kammerstücke vom Publikum teilweise einiges an Durchhaltevermögen abverlangen, ist die Umsetzung durch die beiden DarstellerInnen fesselnd und mitreißend. Vor allem Carols Rolle, die den plötzlichen Charakterwandel vom 1. zum 2. Akt vollzieht, wird von Henrike Richters beeindruckend glaubhaft inszeniert. Auch Jan Reinartz dozierender Part hat überzeugt, vor allem durch die Unterstützung des Ambientes im Hörsaal. Die Umkehrung der Machtstrukturen wird geschickt durch den drehbaren Schreibtisch, um den herum sich das Stück abspielt, unterstützt. Dieser ist übrigens ein ehemaliger Seziertisch, der aus der alten Pathologie stammt. Wechselnde hellere und dunklere Beleuchtung spielt mit dem Grad der bedrückten Stimmung.
Es hat eine Vergewaltigung auf einer anderen Ebene stattgefunden, die genau die gleichen Konsequenzen nach sich zieht. Es hat also keine und zugleich doch eine Vergewaltigung stattgefunden. (Udo Eidinger)
Leider ist in der gesellschaftlichen Realität und damit in den Köpfen der Menschen meist nur eine – nämlich die körperliche – Interpretation des Wortes ›Vergewaltigung‹ präsent und deshalb ist es problematisch, davon auszugehen, dass für die ZuschauerInnen diese Intention völlig klar wird.
Theater ist Handeln, Theater ist Macht.In einem Vorabgespräch mit der Regisseurin Ina Annett Keppel und Udo Eidinger äußerten sie sich nicht explizit zum politischen Statement des Stückes. Das Stück passe aufgrund der räumlichen Nähe und der Beziehungsthematik vor allem zum Spielzeitmotto »Zusammen«. Man wolle auch »aus dem Theater rauskommen, an andere Spielstätten«. Gerade wegen der Einführung des Kulturtickets wollte das JT deshalb auch ein Stück mit Unibezug aufführen. Oleanna verstehe sich als Angebot »Theater an dem Ort zu spielen, wo Studierende den größten Teil ihres studentischen Lebens verbringen«.
Dabei kann jedoch das JT das eigene Bewusstsein für die brisante politische Ebene schwer abstreiten, da für die letzte Aufführung am 17.01.2013 eine öffentliche Diskussion angesetzt ist, zu der ExpertInnen zu den Themen Geschlechterverhältnisse und sexuelle Gewalt eingeladen sind, um das Thema »aus einer anderen, nicht-künstlerischen Perspektive zu beleuchten«. Die Außenwirkung des Stücks schätzt die Regisseurin jedoch weniger heikel ein: »Wir hoffen sogar darauf, dass es kontroverse Diskussionen zu dem Stück gibt«.
Die Grundannahme, dass es ein Machtverhältnis zwischen Dozent und Student gibt, ist ja Realität. Ich finde am entscheidendsten, dass man ein Bewusstsein dafür entwickelt, dass man sich in einem Machtverhältnis bewegt und wie man als Dozent mit Macht umgeht. Es ist ja ein Drama und wie der Autor selbst sagt, sieht er seine Verantwortung als Dramatiker darin, nicht einfach nur die Realität für die Bühne zusammenzufassen. Das Spannende am Stück ist deshalb, Leute dazu zu bekommen, sich darüber Gedanken zu machen: Wer ist im Recht? (Ina Annett Keppel)
Auch wenn Theater im klassischen Sinn als Raum gedacht ist, in dem man der Realität für eine kurze Zeit entfliehen kann, stehen die Themen nicht außerhalb bestehender Verhältnisse.
Theater ist nicht dafür da, Antworten zu liefern, die in Stein gemeißelt werden. Und auch nicht dafür, der Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten und eine Situation wie sie ist eins zu eins zu übertragen. Wozu? Das Leben ist doch schon da, dafür braucht man kein Theater. Theater kann nur ein Spiegel sein, der Verdichtung hat, ein Zerrspiegel, der etwas auf den Punkt bringt. Dadurch muss man natürlich Abstriche machen. (Udo Eidinger)
Natürlich kann man behaupten, dass es nicht Aufgabe des Theaters sei, der Gesellschaft den wahrhaftigen Spiegel vorzuhalten. Es sollte aber nicht unterschätzt werden, dass auch das Theater eine Machtposition hat und Einfluss auf Diskurse ausübt. Denn: Theater ist Handeln, Theater ist Macht. Durch die Setzung der Themen, durch den Fokus auf eine bestimmte Sicht der Dinge, und vor allem, wenn es (wie in diesem Falle das JT) uni-spezifische Themen einem studentischen Publikum zugänglich machen möchte. In Oleanna wird ein verzerrtes Bild der Realität gezeichnet, das keinen Mythos über Vergewaltigungen auslässt und ein klischeehaftes Bild von Feministinnen reproduziert.
Oleanna bietet Anlass für kontroverse Diskussionen. Trotzdem tut die Aufführung des Stückes niemandem einen Gefallen, der/die sich für eine Veränderung der Verhältnisse an der Uni einsetzt, was das Thema sexuelle Belästigung angeht. Stattdessen wird das Thema verzerrt und die Schuld derjenigen zugeschoben, die de facto Betroffene einer Machtstruktur ist. Notwendig wäre es stattdessen, eine Kritik an bestehenden Machtverhältnissen im Universitätskontext zu formulieren, weil der Umgang mit sexueller Belästigung und sexualisierter Gewalt auch 2012 noch problematisch ist. Außerdem wäre es hilfreich, eine Bestärkung für Betroffene zu transportieren anstatt sie zu dämonisieren. Natürlich ist es schon mal ein Schritt, das Thema überhaupt auf eine Theaterbühne zu bringen. Aber muss es dieses Stück sein, das eine eher antifeministische und konservative Position bezieht?
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