Irmgard Keun trägt als Autorin, Beobachterin und Kritikerin nicht nur dazu bei, die Zeit vor, während und nach Hitlers Herrschaft zu fassen. Weil Keun zu lesen so großartig ist, liegt auf der Hand, warum kein Kanon ohne sie auskommen sollte.
Von Anna-Lena Heckel
Als Irmgard Keun am 31. Mai 1946 im Nordwestdeutschen Rundfunk spricht, hat man sie seit sechs Jahren totgeglaubt. Der Daily Telegraph vom 16. August 1940 hatte die Nachricht von Keuns Suizid verbreitet und auch in Deutschland fand sie Widerhall. Keun war 1940 aus dem niederländischen Exil nach Deutschland gereist und hatte seither dort gelebt, totgeglaubt unter Nazis. In besagter NWDR-Sendung sagt Keun über die Exilzeit:
Ich hatte mich damit abgefunden, nicht am Leben zu bleiben. Wenn man kämpft, muß man schließlich damit rechnen, gelegentlich umzukommen.
Die Exilerfahrung stehe in keinem Vergleich zu Nazideutschland, so Keun im NWDR 1946. Dort nämlich sei es »überall […] gleich ekelhaft« gewesen. Sie geht hier, wie in ihren Romanen, über zur Analyse der Gesellschaft, der Menschen, die sie konstituieren, und deren Verhalten in der Diktatur:
Sie waren gegen die Nazis, aber den Krieg wollten sie gewinnen. Sie waren gegen Hitler, aber manches an ihm fanden sie gut. So, als wenn einer von einem Raubmörder erzählt: ›Er geht zwar in alle Häuser und bringt die Leute drin um, aber er tritt sich immer vorher so sauber die Füße ab – und das muß man ihm doch gerade als Raubmörder hoch anrechnen.‹
Wie Keun hier berichtet, ist bestimmend für ihr Werk. Sie beobachtet und schreibt darüber: wütend, bitter, unversöhnlich mit einer weit verbreiteten Verlogenheit. In aller Bitterkeit klingt Keuns Humor durch, sodass sie ihre Beobachtungen nicht nur pointiert, sondern auch ironisiert. Sie bleibt unbestechlich und denkt das Agieren der Bevölkerung zu Ende, sodass sie auch schon vor dem Kriegsende in der Lage ist, ähnliche Inkonsistenzen wie die zitierten literarisch zu entlarven.
Nach MitternachtBevor Keun ins Exil ging, schrieb sie wesentliche Teile des Romans Nach Mitternacht. Er erzählt von Sanna, Ich-Erzählerin und eine typisch Keun᾽sche Protagonistin: Eine schlaue junge Frau, die scharf beobachtet und mit ihren
Dabei hat Sanna klare Moralvorstellungen, die sich nicht mit dem Faschismus vereinbaren lassen. So erweisen sich ihre Naivität und ihr Nachplappern von Werbeversprechen und politischen Äußerungen als parodistische Kritik am Regime und an der Gesellschaft, die es trägt: »Das Buch vom Algin liegt nicht mehr auf dem Tisch neben der Theke, weil die Nationalsozialisten es auf eine schwarze Liste gesetzt haben. Es ist nämlich zersetzend und vergeht sich an dem elementaren Aufbauwillen des Dritten Reiches. Das hat die nationalsozialistische Zeitung in Koblenz geschrieben. Mein Vater war zuerst nicht Nationalsozialist, aber er war für einen elementaren Aufbauwillen.«
Hier deutet sich bereits an, wie Keun mit den anderen Figuren des Romans umgeht. Sie zeigt das Hitler stützende Deutschland als Konglomerat aus Typen, die sich dennoch durch Individualität auszeichnen. Da ist der Vater, »für einen elementaren Aufbauwillen«, dort »die Frau Amtswalter Silias«, die verraten könnte, »daß die Frau Breitwehr bei Juden gekauft hat und […] das in der NS.-Frauenschaft erzählen« könnte, und »die Tant Adelheid«, deren autoritärer Charakter beispielhaft für die NS-Gesellschaft ist, in der Sanna lebt und arbeitet. Adelheid »hat durchgekämpft«, dass sie Hauswart wird. »Das bedeutet, daß sie im Falle echter Fliegergefahr eine Schußwaffe bekommt und alle Leute im Haus ihrem Befehl unterstehen. Und sie hat das Recht, jeden zu erschießen, der sich ihrem Willen nicht fügt.«
Nicht nur die Macht über ihr Unterstellte beflügelt Adelheid. Umgekehrt unterwirft sie sich ebenso leidenschaftlich der Macht von oben und steht ihr eifrig zu Diensten, sodass sie die Eigenarten eines autoritären Charakters abbildet, wie ihn die (erst nach Keun wirkende) Frankfurter Schule begrifflich geprägt hat: »Als der Führer kam, wurde die Tant Adelheid politisch und hing Bilder von ihm auf und kaufte Hakenkreuzfahnen und ging in die NS.-Frauenschaft, wo sie auch mit besseren Damen zusammenkam als deutsche Frau und Mutter.«
Wann endet der Faschismus?Nach Mitternacht wurde breit diskutiert, auch kontrovers, der Roman »wird innerhalb kurzer Zeit ein Welterfolg«.1 Dann folgt die Nachkriegszeit und Keun verschwindet ein zweites Mal, nach ihrem Beitrag im NWDR. Dies hängt mit der Gesellschaftskonstitution nach 1945 zusammen. Herrmann Kesten, ein Freund Keuns und langjähriger Förderer deutscher Exilliteratur, schreibt dazu 1974 rückblickend:
Ein Teil der Kritik, des Buchhandels, der Verleger, der maßgebenden Autoren waren Leute, die im dritten Reich kräftig mitgemacht hatten, Mitläufer, oder zumindest geschwiegen hatten. […] Die innere Emigration, die Gruppe 47, der führende Literaturkritiker, Sieburg, ein alter Nazi, die Verfemung der Exilliteratur bei Germanisten und politischen Parteien, das führte nicht zum Nachlassen des Erfolgs der Keun, sondern es hat diesen Erfolg abgeschnitten, gewaltsam verhindert.2
All das deckt sich mit Keuns Erfahrungen im Nachkriegsdeutschland, das so wenig entnazifiziert ist wie die Gesinnung jener, die so seicht Mitläufer genannt werden. Nach 1945 verachtet Keun die deutsche Gesellschaft weiterhin, ist sie doch fortwährend von NS-Strukturen durchzogen, von NS-Gedanken und NS-Akteur*innen geprägt. Das spiegelt sich auch im Literaturbetrieb wider. In ihrem Werk, im Besonderen in Nach Mitternacht, wird noch mehr offenbar: Nicht nur dulden Sannas Vater, Frau Silias, Tante Adelheid und andere Hitlers Herrschaft, sie ermöglichen und verstärken sie. So fällt bei einer Keun-Lektüre in der heutigen Zeit auf, dass sich die ›gesellschaftliche Mitte‹, die neutrale Masse, die in der von staatlichen Behörden wie dem Verfassungsschutz gern genutzten Extremismustheorie zwischen ›extrem rechts‹ und ›extrem links‹ steht, also gemäßigt in jeder Hinsicht ist, wieder einmal als analytisch unzulässige Fiktion entlarvt. Dieser Erzählung sollte eine kritische Beobachterin nicht auf den Leim gehen. Keun darf man dafür dankbar sein, dass sie den Blick der heutigen Leser*innenschaft zu schulen vermag.
Keun laut und leiseDass Beate Kennedy und Heinrich Detering unlängst Keuns Werk kommentiert herausgegeben haben, bringt die Stimme der Autorin wieder zu Gehör. In den drei Bänden (Wallstein, siehe Infobox) findet man nicht nur ihre Romane und Kurzgeschichten; auch Briefwechsel und Gedichte sind hier versammelt. Keun kommt so umfassender als je zuvor wieder zum Vorschein, fiel doch in den letzten knapp hundert Jahren die Rezeption des kunstseidenen Mädchens deutlich umfänglicher aus als die etwa der anderen Romane: Gilgi, eine von uns aus der Weimarer Zeit, Nach Mitternacht aus dem NS, der im Exil veröffentlichte Jugendroman Das Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren durften (1936), oder der Nachkriegs-Roman Ferdinand, der Mann mit dem freundlichen Herzen (1950). Die Gesamtausgabe ermöglicht es nun, ein differenziertes Bild der antifaschistischen Schriftstellerin zu zeichnen, denn viel zu diskutieren und nachzudenken gibt es allemal über diese Autorin der Jahre voller historischer Umbrüche. Für den Moment verharrt der vorliegende Beitrag bei einer emphatischen Aufforderung, Keun ganz genau zu lesen.