von Ann Cotten
Das Palindrom ist nicht Palingenese,
die wäre, übertragen, Anagramm.
Das macht man sonst mit Steinen oder Käse, nicht?
Doch wer sagt, dass mans nicht mit andren Dingen machen kann?
Ich schüttele den Rucksack, wenn ich gehe,
und auch meine Gedanken sind ja palingen;
ich schüttele im Auge, was ich sehe,
und hoffe, etwas anderes zu sehn.
Sie nämlich, wenn ich in die Fluchten schaue
und mich vor Hoffnungen den Blick nicht senken traue,
und setze Fuß vor Fuß der Mitte zu,
wo man in jede Richtung bis zum Ende schauen kann.
Dort schaue ich das Nichts, und schüttle mich, und dann
nehm ich den besten Weg und finde Ruh.
Nehm ich den ersten besten Weg und finde keine Ruh,
liegt es vielleicht am Weg, vielleicht an mir.
Denn diesen Weg hab ich ja nur genommen,
weil ich glaubte, er führt vielleicht zu dir.
Wie aber, wenn das Ziel sich bewegt,
muss man dann nicht, ums zu erreichen, stehen bleiben?
Die Schritte, die den Vorgang weiter treiben
werden in anderen Alphabeten hinterlegt.
Zenith wäre schon gut, wäre das Maß bekannt.
Nicht alle Wege aber kommen gut zurück.
Man sollte, wenn man ich ist, vielleicht lieber weitergehen.
Um von den süßen Schmerzen abzusehen,
die C und G und T und A verrücken,
in sich verschlungen sind wir manchmal redundant.
Palindrome sind bekanntermaßen Sätze, Wörter oder Zahlen, die »von hinten wie von vorne – A-N-N-A –.«, gleich daherkommen, um es mit Kurt Schwitters und Max Herre zu sagen. Und so, wie man den Satz »Die Liebe ist Sieger, rege ist sie bei Leid« aus beiden Richtungen lesen kann, so sollte man es auch mit Ann Cottens Band Fremdwörterbuchsonette und vielleicht probeweise auch mit jedem einzelnen darin enthaltenen Text anstellen. Bewusst palindromisch, d.h. vorwärts und rückwärts funktioniert nämlich zumindest die erstgenannte Zeichensammlung.
Was nun weder die Avantgarde des frühen (Schwitters), noch die des ausgehenden 20. Jahrhunderts (Herre) – wohl aber Cotten – gewusst haben dürfte, ist, dass palindromische Zeichenfolgen auch in der Genetik eine nicht unwesentliche Rolle spielen. Es gibt Enzyme, die dazu dienen, die beiden Stränge der DNA zu zerschneiden. Die Orte, an denen geschnitten werden soll, erkennen diese Restriktionsenzyme daran, dass sich eine bestimmte Basen-Passage auf den beiden Strängen jeweils zueinander verhält wie ein Palindrom (also beispielsweise GAATTC zu CTTAAG).
Die Palindrome der Zeichensprachen sind demnach solche, die eine doppelte Linearität – von hinten und von vorne eben – aufweisen. Die Dimension, welche das Wissen um die Spezialenzyme diesem Sachverhalt hinzufügen kann, verlässt die horizontale Linie der Sprachspiele. Palindromische Sequenzen in der DNA sorgen schließlich dafür, dass die organisierte Basenkette zerschnitten und zerstört wird. Und das hat viel mehr mit der Poetik Ann Cottens zu tun, als es das eindimensionale und abgeschlossene Liebessprüchlein des Titels verraten mag. Anders als die A-N-N-A-Besinger weiß A-N-N nämlich um die Ähnlichkeit von Genetik und Lyrik. Sie benutzt nicht nur einzelne Motive aus der Molekularbiologie für ihr Palindromgedicht, sondern auch auf formaler Ebene lassen sich Überschneidungen finden.
Cottens Texte wirken auf der horizontalen Ebene nicht weniger restringiert als der genetische Code (der schließlich aus zwei mal zwei Basenpaaren besteht, die notwendig und ausschließlich miteinander kombiniert werden). Hier gibt es ein Reglement, das den erwähnten Merz-Palindromisten hätte erschaudern lassen: durchgängig gereimte Sonette. Jedes Gedicht besteht aus derer zwei. Dieses starre Gerüst ist aber nötig. So wie die Enzyme die doppelt-linearen Informationsketten nämlich benötigen, um die Kette dann zu zerstören, so können nur in der intakten geradlinigen Grundform (vier-vier-sechs-vier-vier-sechs Verse) heterogenste Fragmentgedanken sinnvoll zu einem bezugsreichen Zeichengeflecht in der Vertikalen verschmolzen werden.
Je nachdem, ob das Restriktionsenzym die DNA so schneidet, dass ein glatter oder ein asymmetrischer Schnitt entsteht, unterscheidet die Genetik terminologisch zwischen einem blunt end und einem sticky end. Glatt aber endet die Sammlung von semantischen Fragmenten trotz der scheinbar so klaren Sonettform keineswegs. Das dominante Spiel mit Zeichenrepertoires aus entferntesten Bereichen sorgt dafür, dass eher die Schnittkanten als kohärente Gedankenketten sichtbar werden. Und auch klebrig wird es nicht, selbst wenn Liebe und Leid im Titel auf ein sticky end hätten hindeuten können. Zwar ist von »süßen Schmerzen« die Rede, doch spricht hier erneut eher die Doppelhelix als ein Menschenpaar. »Doch wer sagt, dass mans nicht mit andren Dingen machen kann?«