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Wahnvorstellung Übermensch

Uwe Timm erzählt in seinem neuen Roman Ikarien die Lebensgeschichte von Alfred Ploetz, dem Prediger des »Aufartungs«-Gedankens. Ploetz entwickelte sich vom Kommunisten zum Vordenker der nationalsozialistischen Rassentheorie.

Von David Kreitz

Der Titel von Uwe Timms neuem Roman Ikarien geht zurück auf die utopische Erzählung von Étienne Cabet: Voyage en Icarie. Inspiriert davon bildeten sich insbesondere in den USA im ausgehenden 19. Jahrhundert ikarische Kommunen, deren Ziel eine Gesellschaft war, in der Arbeit, Freizeit und Einkommen gleichmäßig auf alle verteilt wird.
Selbstverständlich steckt in Ikarien aber auch der Name Ikarus, in Timms Roman personifiziert durch den Arzt, Rassentheoretiker, Erfinder des Begriffs »Rassenhygiene« und somit geistigen Wegbereiter der NS-Massenmorde Alfred Ploetz. Dessen moralischer Absturz vom Sozialisten zum Eugeniker und schließlich zum mit den Nazis sympathisierenden Forscher wird im Roman mit dem Besuch einer ikarischen Kommune in den USA verknüpft. Ploetz, der mit messianischem Eifer die Umsetzungen der Vorstellungen Cabets predigte, ist von den dortigen Erfahrungen desillusioniert und schließlich davon überzeugt, dass eine ideale Gesellschaft zunächst einer körperlich-geistigen Verbesserung des Menschen bedarf.1 Statt Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit proklamiert er später »Zuchtwahl«, »kontraselektorische Humanität«, »Aufartung«.
Wie erfolgreich Ploetz an eine verbreitete eugenische Denkrichtung anknüpfte, sieht man daran, dass er 1936 beinahe den Friedensnobelpreis bekommen hätte. Und zwar für die These, Kriege müssten deswegen überkommen werden, weil sie die Degenerierung der Menschheit förderten, weil durch sie vornehmlich die Starken und Tapferen sterben würden.

Timm erzählt Ploetz´ Geschichte durch Interviews, die der Protagonist Michael Hansen mit dem fiktiven Karl Wagner führt. Hansen ist amerikanischer Offizier mit deutschen Wurzeln. Im April 1945 kommt er nach Deutschland und soll im Auftrag der U.S. Army herausfinden, worin Ploetz´ Forschung bestand und ob dessen Geheimbünde und Eugeniker-Netzwerke immer noch aktiv sind.
Wagner ist ein ehemaliger Freund von Ploetz (eine weitere intertextuelle Verknüpfung Timms: Wagner, so heißt auch der Assistent von Goethes Faust ‒ eine Anspielung auf Ploetz‘ Pakt mit den Nationalsozialisten). Sie kannten sich seit gemeinsamen Studienjahren in Breslau, reisten zusammen zur Ikarier-Gemeinde in die USA. Sie liebten die gleiche Frau, die Ploetz schließlich heiratete. Wagner blieb politisch allerdings immer ein Linker (erst in der SPD, dann als unabhängiger Anarcho-Syndikalist), verbrachte die 12 Jahre des »Tausendjährigen Reichs« im KZ Dachau und im Keller eines Antiquariats. Seine Position, gleichzeitig Dissident und langjähriger Weggefährte von Ploetz zu sein, macht Wagner zum vertrauenswürdigen Informanten.

Die Biographie als »Hebel« des Erzählens

Uwe Timm hat sich bereits in Morenga (1978) mit Rassismus und Kolonialismus beschäftigt. Daher nimmt es nicht wunder im Nachwort zu Ikarien zu erfahren, dass die Idee dazu bereits aus dem Jahr 1978 stammt. Überraschender ist die Information, dass Ploetz der Großvater von Uwe Timms Frau, der Übersetzerin Dagmar Ploetz, gewesen ist. Auf seiner Lesung am 20. 9. 2017 im Literarischen Salon Hannover berichtete der Autor, er habe lange Zeit keine Möglichkeit gefunden, die Geschichte von Ploetz zu erzählen. Ein »Hebel« sei eine »Was-wäre-wenn«-Überlegung zur eigenen Familiengeschichte gewesen. Timms Bruder, der als Mitglied der Waffen-SS in Russland starb (Am Beispiel meines Bruders, 2003), diente als Vorlage für die Figur des Michael Hansen. Timms Vater bekam, ebenso wie der Hansens, eine Anstellung als Präparator in New York angeboten. Anders als im Roman aber nahm er sie nicht an. In der Geschichte Hansens spiegelt sich also auch die Alternativbiographie des Bruders wider. Auch eine der von Hansen begehrten Frauenfiguren des Romans ist biographisch inspiriert. Molly, eine Deutsche, verschafft sich alles, was sie zum Überleben benötigt, durch den Einsatz ihrer Reize. Der Autor nahm sich eine Tante als Vorlage: »Die ging da in Hamburg an die Briten ran«, so Timm.

»Übermenschen in kackbrauner Uniform«

Ploetz zitiert im Roman gerne Charles Darwin: »Ein wissenschaftlicher Mann sollte keine Wünsche haben, keine Gefühle – nichts als ein Herz aus Stein.«
Wagner berichtet Hansen von einem Gespräch mit Ploetz über dessen Werk Die Tüchtigkeit unserer Rasse und der Schutz der Schwachen (1895): »Im Zentrum steht das Verhältnis von Rassenhygiene und kontraselektorischer Humanität. Mitleid widerspricht dem Kampf ums Dasein. […] Das Schwache darf sich nicht vermehren. Damit beginnt der Untergang der Rasse. Darf ich Ihnen sagen, dass mir das Wort Rasse, wenn ich es nur ausspreche, ja, jetzt aussprechen muss, Übelkeit verursacht? Damals war es in seinem Mund noch neu […]. [N]ach all den Rassepässen, Rassegesetzen, Rassenhauptamt, Rassenschande, ist es nur noch zum Kotzen. Denn natürlich steckte schon damals das Unmenschliche in dem Wort«.

Bereits zuvor gab Wagner zu Protokoll, dass Ploetz als Arzt »etwas Wichtiges fehlte: Die Demut vor dem Leben«. Und mit dieser Demut versagte sich »diesem Begabten, das Große wollenden Freund […] auch die Geduld zur Heilung. […] Und es ist nicht verwunderlich das der Freund, damals noch der Freund, sich nicht dem Heilen des Einzelnen zuwandte, sondern Zucht und Züchtung. […] Und das Wort Aufartungsprozess führte zum Übermenschen in kackbrauner Uniform. Da hatte er seinen Pakt geschlossen, staatlich organisiert und rechtlich abgesichert wurde das sogenannte nicht lebenswerte Leben ausgelöscht«.2

Der Begriff des Übermenschen, von Nietzsche (Also sprach Zarathustra) entlehnt, lebt heute in der Idee des Transhumanismus weiter ‒ allerdings ohne massenmörderische Konsequenzen. Die ›neuen‹ AnhängerInnen des Übermenschen reden keiner staatlich durchzusetzenden Menschenverbesserung und -züchtung das Wort, jedoch der individuellen Selbstoptimierung und baldiger Unsterblichkeit durch die Verschmelzung mit modernster Technik.3

Buch


Uwe Timm
Ikarien
Kiepenheuer&Witsch 2017
512 Seiten, 24€

 
 

Wider die Entzauberung der Welt

Verwissenschaftlichung, Technisierung, Rationalisierung, Intellektualisierung, die Vorstellung, »daß man vielmehr alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne. Das aber bedeutet: die Entzauberung der Welt.«4
Uwe Timm ist recht deutlich in seiner Kritik5 an dieser Entzauberung. In seinem Roman Vogelweide (2013), eine Liebesgeschichte, motivisch angelehnt an Goethes Wahlverwandtschaften, wendet sich Timms Protagonist Eschenbach gegen die Algorithmisierung der Liebe. Die Berechnung, die kalkulatorische Rationalität, zerstört jedoch nicht nur jedes Geheimnis und macht Entdeckungen unmöglich (so die Kritik in Vogelweide), vielmehr entbehrt sie jeglicher Grundlage für Menschlichkeit – wie Ikarien zeigt.

Uwe Timm unterstreicht dies bereits in einem dem Roman vorangestellten Zitat Gustav Landauers: »Es ist tödlich, an die Stelle des alten Gottes eine löbliche und erfreuliche immer vorwärtswachsende Welt zu setzen.« Im Interview zwischen Hansen und Wagner resümiert letzterer mit Blick auf die Idee einer kommunistischen Gesellschaft: »[E]s braucht ein ästhetisch-ethisches Wollen. Eine Schulung der Gefühle. Grundlage müsste die Entwicklung von Mitempfinden sein, auch eine Schule der kritischen Rede und Gegenrede, die Verletzungen und persönliche Herabsetzung vermeidet. Man muss sich im Anderen und den Anderen in sich sehen.«
Empathie und Solidarität werden hier also hochgehalten, Werte, die derzeit auch von den Neuro- und sogar den Wirtschaftswissenschaften intensiv analysiert werden (»WIR statt Gier« titelte das Wirtschaftsressort der ZEIT).

›Entnazifizierung‹ des (eigenen) Körpers

Uwe Timm thematisiert immer wieder die unmittelbare Nachkriegszeit in seinen Werken, am bekanntesten dürfte Die Entdeckung der Currywurst (1993) sein. Die eigene Erfahrung, dass sich die Naziherrschaft dem Subjekt auch körperlich eingeschrieben hatte, findet sich auch in den Erzählungen wieder: Von heute auf morgen wurde vom jungen Timm ein anderes Auftreten gefordert, kein Strammstehen, rechten Arm recken und »Heil Hitler!« rufen mehr. Was vormals verlangt war, wird von Erwachsenen jetzt verboten, die selber völlige Verunsicherung ausstrahlen.
Im Roman Ikarien wird dieser Wandel vor allem an den Kaugummi kauenden US-Soldaten vorgeführt. Sie strahlen eine Lässigkeit aus, die nicht mit Nachlässigkeit (so Protagonist Wagner) verwechselt werden darf, sondern auf Gelassenheit zurückzuführen ist, auf Selbstvertrauen. Eine Kultur des »Jawoll!« wird vom »Okay« abgelöst.

Vielstimmigkeit

Ikarien zeigt, welche fatalen Irrwege die Suche nach Alternativen zum Bestehenden nehmen kann und plädiert immer wieder für Moral, Mitgefühl und Menschlichkeit. Uwe Timm hat aus Erlesenem, Erlebtem und Erfundenem eine Erzählung geschaffen, die sowohl historisch informiert, als auch schockiert und darüber hinaus überzeugende Figuren konstruiert, deren Handlungsweisen nachvollziehbar geschildert werden.
Die Stimme, die Timm der realen Geschichte, ihrer fiktionalen Auslegung und den AkteurInnen verleiht, lässt sich auf die Wirkung des Autors selbst übertragen: Er ist ein guter Vorleser; vielleicht, weil er sich beim Schreiben selber sprechen hört.6

  1. https://www.deutsche-biographie.de/sfz96415.html#ndbcontent
  2. http://www.h-ref.de/vernichtung/euthanasie/euthanasie.php; https://de.wikipedia.org/wiki/Aktion_T4
  3. https://www.zukunftsinstitut.de/artikel/transhumanismus-die-cyborgisierung-des-menschen/
  4. Max Weber (1919): Wissenschaft als Beruf, S. 488; http://www.wsp-kultur.uni-bremen.de/summerschool/download%20ss%202006/Max%20Weber%20-%20Wissenschaft%20als%20Beruf.pdf
  5. http://www.dw.com/de/interview-mit-uwe-timm-der-enge-naturwissenschaftliche-blick-ist-eine-gefahr/a-40935283
  6. Die Stimme beim Schreiben, in: Hielscher, M. (Hrsg.)(2005): Uwe Timm Lesebuch: Die Stimme beim Schreiben. München: dtv Verlagsgesellschaft, S. 399-406.


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 Autor*in:
 Veröffentlicht am 24. November 2017
 Kategorie: Belletristik
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