Ihren ersten Gedichtband druckte Doris Runge noch privat, um ihn in geringer Stückzahl an Freunde und Bekannte zu verteilen. Mittlerweile wurde die Lyrikerin mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, auf eine Litertaturprofessur berufen und mit einer umfangreichen Werksammlung geehrt. Der folgende Text erklärt, warum ihre Gedichte so faszinieren, wie sie Vieldeutigkeit zum literarischen Programm erhebt und wieso sie sich immer wieder den mythologischen »Wasserfrauen« zuwendet.
Von Yang Li
Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer. Aber wenn die Schwalben nach Süden ziehen, deutet es darauf hin, dass der Winter bald kommt. Im Gedicht september schildert Doris Runge diese Annäherung, aber nicht durch die Beschreibung, wie sich das Wetter ändert, sondern mit außergewöhnlichen Bildern: eine nach Süden fliegende Schwalbe mit gebrochenem Genick, die ein bisschen unheimlich scheint; eine Katze, die den Winter verhindert und das Gedicht mit einer unerwarteten Wendung abschließt. Es bleibt in der Schwebe, woher die Katze kommt und wohin sie geht:
licht runtergebrannt
erdtöne flackern
ein dünner rauchfaden
schwalben nach süden
eine mit gebrochenem
genick
die katze trägt
den sommer zurück1
Die Autorin dieser Zeilen wurde 1943 im mecklenburg-vorpommerschen Carlow geboren, siedelte im Alter von zehn Jahren mit ihrer Familie nach Schleswig-Holstein über und studierte später an der Universität Kiel. Nach einem fünfjährigen Aufenthalt auf Ibiza lebt Doris Runge seit 1976 in Cismar an der Ostsee. Schon seit 1977 veröffentlicht sie Gedichte, aber zunächst nur in Privatdrucken: Von ihren ersten drei Werken stellte sie nur wenige Exemplare her, die sie Freunden und Bekannten schenkte. Für ihren ersten öffentlich publizierten Gedichtband jagdlied wurde ihr 1985 der Friedrich-Hebbel-Preis verliehen. Darauf folgten weitere Publikationen, für die sie 1997 den Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Bad Homburg vor der Höhe, 1998 den Kunstpreis des Landes Schleswig-Holstein und 2007 den Ida-Dehmel-Literaturpreis der GEDOK (Gemeinschaft Deutscher und Oesterreichischer Künstlerinnenvereine aller Kunstgattungen) erhielt.
Außer Kunst-Märchen (1977), Schiff. Bildband mit Texten (1996) und Welch ein Weib! Mädchen- und Frauengestalten bei Thomas Mann (1998) handelt es sich bei all ihren Büchern um Gedichtsammlungen, was ihre Vorliebe für die literarische Gattung Lyrik zeigt. Sie selbst sagt: »Lyrik ist für mich die beste literarische Form, um das auszudrücken, was ich meine. Das Gedicht ist meine Möglichkeit, auf den Punkt zu kommen.«2 Neben ihrer literarischen Tätigkeit ist Doris Runge auch Professorin für Lyrik. 1997 wurde sie die erste Liliencron-Dozentin an der Universität Kiel. Sie hat ihre eigenen Theorien zur Dichtung, insbesondere zum Schreiben von Gedichten, die sie nicht nur in ihren Vorlesungen vorstellt, sondern auch in ihren Werken anwendet. Sie meint: »Die Form ist Prägung für das Gedächtnis. Sie stützt ab und fasst zusammen, sie macht die Syntax als Figur sichtbar. Die Statik des Gedichtes ergibt sich aus der Thematik, getragen wird sie vom Rhythmus.«3 Runges Gedichte haben sowohl in Hinsicht auf die Form als auch auf die Thematik typische Merkmale, wobei sich Form und Inhalt meistens gegenseitig bestimmen. Im Gedicht fisch den fischen gibt es beispielsweise drei Fragesätze, in denen die Zeitform vom Präteritum ins Präsens wechselt. Das lyrische Ich verabschiedet sich von der Vergangenheit und kommt in die Gegenwart:
sahst du das kind
am fluss
nun schweigt es
mit den fischen
sahst du die braut
den köder
fisch den fischen
siehst du mich
schwester
und die anderen
am toten arm4
Runges Verse sind ungereimt. Auffällig sind auch ihr lakonischer Stil und die syntaktische Zerbrochenheit ihrer Sätze. Die meisten Texte nehmen nur wenig Platz ein; selten umfasst ein Gedicht mehr als eine Seite. Ein Vers besteht normalerweise aus weniger als fünf Wörtern, die kaum einen vollständigen Satz bilden; sehr häufig bildet schon ein einziges Wort einen Vers. Sie verkürzt die Sprache jedoch nicht gedankenlos, sondern mit Überlegung, wie sie in ihrer Vorlesung sagt: »Wie Aschenputtel die Linsen, so müssen die Autoren die Wörter auslesen, die ›guten‹, ›schlechten‹, Wort für Wort ins Licht ziehen und prüfen, ob sie für die Dichtung noch zu retten sind.«5 Sie lässt die unnötigen Wörter weg und behält nur die wesentlichen. Eben diese Wörter sind diejenigen, die für die Analyse und Interpretation ihrer Gedichte eine wichtige Rolle spielen. Heinrich Detering schreibt im Nachwort der von ihm herausgegebenen Anthologie zwischen tür und engel: »Lyriker sind Schriftsteller, die mehr weglassen als schreiben.«6 Als Meisterin des Weglassens hat Doris Runge ihren eigenen Stil entwickelt.
Auch die konsequente Kleinschreibung und die radikale Interpunktionslosigkeit sind typisch für Doris Runge. Manchmal kann ein Wort sowohl als Nomen als auch als Verb verstanden werden, was eine Mehrdeutigkeit hervorruft. Wenn es im Gedicht keine Satzzeichen gibt, dann müssen die LeserInnen selbst entscheiden, wie sie Sätze bilden. Außerdem verwendet Doris Runge oft die rhetorische Figur »Apokoinu«, mit der ein Ausdruck sowohl Bezug auf den vorhergehenden als auch auf den folgenden Satzteil hat. Das führt dazu, dass ein Gedicht auf unterschiedliche Arten interpretiert werden kann. So im Gedicht sentenz:
angst macht
liebe
macht angst
das ende die
himmelfahrt
in der
schenkelschere
fällt angst fort
pflanzt sie sich
schlangenköpfig7
Der Teufelskreis ist nicht zu durchbrechen: Angst macht Liebe, Liebe macht wieder Angst. Das Ende scheint endlich zu kommen: die Himmelfahrt in der Schenkelschere. Aber in der Schenkelschere fällt die Angst fort, weil sie sich schlangenköpfig fortpflanzt. Ganz ähnlich wie bei der sich in den Schwanz beißenden Schlange gibt es nie ein Ende.
Durch die syntaktische Verkürzung, die Kleinschreibung, den Verzicht auf Satzzeichen und die Verwendung von Apokoinu verwirklicht Doris Runge den größten Bedeutungsreichtum mit den wenigsten Wörtern. »Es sind diese Abbreviaturen, diese energischen Abkürzungen der weitschweifigen Welt, die der Poesie von Doris Runge ihren eigentümlichen Reiz verleihen.«8
In Runges Gedichten gibt es keinen festen Raum und keine bestimmte Zeit. Gegenwart und Vergangenheit, Wirklichkeit und Irrealität sind miteinander verwoben. Der Schauplatz wechselt oft. Manchmal beginnt ein Gedicht mit einer Szene in der Wirklichkeit, aber darauf folgt eine andere Szene in der irrealen Welt, die entweder eine Phantasie oder ein Traum ist. Zwar ist Doris Runge eine moderne Lyrikerin, aber in ihren Gedichten kommen immer wieder romantische Themen vor, wie zum Beispiel die Märchen der Brüder Grimm, mittelalterliche Sagen und mystische Geschichten.
Wenn man in Runges Bänden herumblättert, kann man leicht herausfinden, dass sich ein großer Teil ihrer Gedichte auf Wasserfrauen bezieht, wie Hubert Holzmann in einem Artikel über zwischen tür und engel schreibt: »Dazu kommen manche Motive aus Heimatsagen, Gestalten aus Märchen und Anekdoten – im Mittelpunkt die Wasserfrauen, Undinen, Melusinen, Meerjungfrauen.«9
In dem Band grund genug (1995) gibt es sogar einen Gedichtzyklus, der sirenenlieder heißt und aus elf Gedichten über die verlockenden, aber gefährlichen Wasserfrauen besteht. Manchmal treten die Wasserfrauen als Undine oder Meerjungfrau auf: »löst ihr haar / aus der welle / das lied von der zunge«10 (undine); »für die standfestigkeit / eines zweibeinigen lebens«11 (aber das meer). Manchmal haben sie keine Namen, besitzen aber ihre Merkmale: »die zunge heraus / gerissen«12 (sirenenlied I); »die entseelte / mit dem phantomschmerz«13 (traumfrauen). Sie kommen vom Wasser ans Land, haben keine Seelen, leiden unter Messerschmerzen und klagen über ihr Schicksal, was an Fouqués Undine, Andersens Die kleine Meerjungfrau und Ingeborg Bachmanns Undine geht erinnert. Diese drei Werke, die sich mit dem Undine-Motiv beschäftigen, sind Prätexte für Runges Gedichte über Wasserfrauen.
Das Undine-Motiv in der Literatur basiert auf der gleichnamigen Sage, die bis ins frühe Mittelalter zurückgeht. Darin geht es hauptsächlich um die Liebe einer Wasserfrau zu einem irdischen Mann, ihre Beseelung durch die Ehe, den Verrat des Mannes und ihre Rache. So erzählt es etwa der mittelalterliche Arzt und Alchemist Paracelsus in seinem Werk Liber de nymphis, sylphis, pygmaeis et salamandris et de caeteris spiritibus14 (Buch über die Nymphen, Sylphen, Pygmäen, Salamander und die übrigen Geister) über die vier Elementargeister. Seiner Schilderung nach ist Undine von diesen das den Menschen ähnlichste Wesen. Sie lebt im Wasser und kommt manchmal an Land. Nur wenn sie einen irdischen Mann heiratet, kann sie eine Seele erhalten, doch wenn ihr Ehemann sie verrät und eine andere Frau heiratet, muss sie ihn umbringen.
Unter Rückgriff auf Paracelsus veröffentlichte Friedrich de la Motte Fouqué 1811 die Märchennovelle Undine. Hier heiratet die kindliche Undine den Ritter Huldbrand. Durch die Eheschließung bekommt sie eine menschliche Seele. Auch Hans Christian Andersens Märchen Die kleine Meerjungfrau (1837) entsteht im Zusammenhang mit der Undine-Sage, es beeinflusst auch deren spätere deutsche und internationale Bearbeitungen. Bezogen auf eine moderne französische Dramatisierung des Fouqué-Stoffes durch Jean Giraudoux (Ondine, 1939) veröffentlichte Ingeborg Bachmann 1961 die Erzählung Undine geht. Hier ist eine bewusst feministische Wendung des Motivs zu erkennen. Als Ich-Erzählerin klagt Undine hier ihrerseits über ihren Geliebten Hans. So gilt die Erzählung als Undines letzter Monolog.
Für Doris Runge ist das Dichten ein produktiver Prozess: »Vom Suchen zum Finden zum Erfinden. Vom rezeptiven Aufnehmen, Empfangen zum Erfinden, zum Entwurf eigener Bilder – also zum Gedicht.«15 Zwar folgt sie der Wasserfrau-Tradition, aber sie gestaltet Undine ganz anders. Bei ihr erkennt man eher eine neue Undine, die nicht mehr unterwürfig ist, sondern nach Selbstbewusstsein und Unabhängigkeit strebt – ganz ähnlich wie bei Bachmann. Undine »treibt die ungeborenen ab«16 (undine), weil sie nicht will, dass sie die Seele dadurch bekommt, dass sie einen Mann heiratet und ein Kind zur Welt bringt. Sie ist entschlossener und willensstärker. Sie hat sich für ein eigenständiges Leben entschieden und ist nicht mehr von den Männern abhängig. Die sanfte Undine ist zu einer tapferen Frau geworden und sagt zu dem Mann: »ich will dich nehmen / wie ein weib«17 (das meer). Sie hat unter körperlichen und psychischen Schmerzen gelitten, lange ist sie still und gehorsam geblieben. Aber jetzt schweigt sie nicht mehr, sondern will alles, was man ihr angetan hat, rächen: »sie zahlt mit / gleicher münze zurück«18 (die kleine aus kopenhagen).
Wegen ihres einzigartigen Stils sind die Wasserfrauen bei Doris Runge mystischer als in der Tradition. Die lakonischen Verse und die ausgewählten Wörter bieten mehr Interpretationsmöglichkeiten. Ihre Gedichte darüber haben ein Netz gebildet, das eine anschauliche sowie lebhafte Wasserfrau darstellt. »Je weiter Doris Runges lyrische Welt sich entfaltet von Band zu Band, desto deutlicher werden Beziehungsnetze zwischen den Gedichten sichtbar.«19 In dem neusten Gedichtband man könnte sich ins blau verlieben, der Ende Februar im Wallstein Verlag erschien, taucht die Wasserfrau wieder »abundauf«. Im Gedicht an die zweibeinige singt sie weiter: »ich mit der flut / mit meinem lied / und dem kehrreim / mir wird er / treu sein«20. Und so wächst die Neugier, was die Wasserfrauen im nächsten Band wohl erzählen werden.