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Weltsprache der Poesie

Fünfzig Jahre nach dem Erscheinen von Hans Magnus Enzensbergers Museum der modernen Poesie nahm die Graduiertenkonferenz Enzensbergers Weltsprachenbegriff zum Ausgangspunkt einer Bestandsaufnahme aus komparatistischer Sicht. Niels Klenner über die Graduiertenkonferenz zur internationalen Lyrik.

Von Niels Klenner

Podcast: Weltsprache der Poesie
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Gibt es so etwas wie die »Weltsprache der Poesie«? Wenn ja, wo wird sie gesprochen und vor allem, wer spricht sie? Hans Magnus Enzensbergers Bonmot war der Ausgangspunkt für die erste Göttinger komparatistische Graduiertenkonferenz zur internationalen Lyrik seit 1960, die vom 30.09 – 02.10.2010 unter der Schirmherrschaft des Verlags »edition text+kritik«, der Graduiertenschule für Geisteswissenschaften und dem Universitätsbund Göttingen in der Paulinerkirche stattfand. Organisiert wurde die Veranstaltung des Zentrums für komparatistische Studien von Alena Diedrich, M.A., Anna Fenner, M.A., Claudia Hillebrandt, M.A. und Dr. des. Stefanie Preuß in Kooperation mit dem Literarischen Zentrum.

In seinem Museum der modernen Poesie von 1960 versammelte Enzensberger die großen Namen der lyrischen Moderne. Er eröffnete damit einen für Deutschland bis dahin einmaligen Blick auf die Schreibweisen, Formen und Themen der Dichter, die den Urgroßvätern der Moderne folgten, also Whitman, Baudelaire und Rimbaud. Er stellte aus, was die Diktatur verbannte, und schloss als ambitionierter, didaktischer Kurator mit Brechts »An die Nachgeborenen.« Schon damals stand, wie Enzensberger einräumte, der Titel quer zu seiner pädagogischen Vision, nicht etwa Vergangenes zu mumifizieren, sondern zur produktiven Aneignung bereitzustellen. 96 Autoren aus mehr als 20 Ländern und 16 verschiedene Sprachen waren eine Momentaufnahme der Zeit zwischen 1910 und 1945, der Prozess der internationalen Lyrik ist seitdem kontinuierlich fortgeschritten – 50 Jahre nach der Eröffnung des Museums bilanzierte die Konferenz.

Kann immer noch oder schon wieder oder überhaupt von einer »Weltsprache der Poesie« gesprochen werden? Welche Rolle kommt den Übersetzern zu? Bewahren sie die Idiome und Dialekte der Nationalsprachen oder vereinheitlichen sie sie zu einer poetischen lingua franca? Wie haben Globalisierung und neue Medien auf den Schaffungsprozess eingewirkt? Wie steht es um asiatische und afrikanische Lyrik, die im eurozentrischen Museum vollständig übergangen wurden? Ausgeklammert blieben dort auch beinahe vollständig Dichterinnen, lediglich 4,17% der Autoren sind im Museum weiblich. Gab es neben den vier Dichterinnen des Museums noch weitere wichtige Exponate der modernen Poesie von Frauen?

Mit der thematischen Bandbreite der Tagung ging eine methodologische und theoretische Vielfalt einher. So boten die 10 Vorträge nicht nur einen oft begeisternden Umgang mit Gedichten, sondern nebenbei, wie selbstverständlich einen Einblick in die Weite des Faches »Literaturwissenschaft«.

Die Vorträge im Einzelnen:

Dieter Lamping

Eröffnet wurde die Tagung von Professor Dr. Dieter Lamping (Mainz) mit einem historisch vergleichenden Vortrag. Er stellte die These auf, dass es sich bei Hans Magnus Enzensbergers Begriff der Weltsprache lediglich um einen neuen Ausdruck für Goethes Konzept der Weltliteratur handele. Zwar lässt sich bei Goethe kein einheitlicher Gebrauch von Weltliteratur feststellen, aber weder ein qualitativer (Die Klassiker der Literaturgeschichte), noch ein quantitativer (Die Gesamtzahl der Literaturen der Welt) kann gemeint sein; eher ein akteursbezogenes Verständnis von Weltliteratur. Goethe schwebte, so Lamping, ein aktuales Netzwerk international-literarischer Kommunikation vor. Grundlage hierfür bilden die persönlichen Beziehungen zwischen den Autoren und die literarischen Bezugnahmen, sei es durch Übersetzungen oder produktive Rezeption. Mit dem Ende der Napoleonischen Kriege und der Aufhebung der Kontinentalsperre konnten nicht nur Waren, sondern auch Gedanken wieder frei ausgetauscht werden. Wie Lamping herausarbeitete, erkannte Goethe, dass die neue politische und ökonomische Ordnung Europas und nicht zuletzt die Möglichkeiten der modernen Technik, wie etwa das Reisen mit der Dampflok, den literarischen Austausch begünstigen würden.

Was Goethe vorschwebte und was er als den produktiven literarischen Austausch erahnte, hat der Kurator Enzensberger im Museum der modernen Poesie ausgestellt. Die Weltsprache der modernen Poesie ist als eine Metapher für die Gemeinsamkeiten der modernen Lyrik über Sprach- und Ländergrenzen hinweg zu verstehen. Dass Enzensberger den gleichen kommunikativen Weltliteraturbegriff wie Goethe seiner Anthologie zugrunde legte, dafür führte Lamping zwei Gründe an. Zum einen lässt Enzensberger die Gedichte von Lyrikern übersetzen und regt auf diese Weise zu einem schöpferischen Transfer an. Zum anderen ist es die Architektur des Museums, die eine solche komparatistische These stützt. Enzensberger führt durch die exemplarisch gedachte Anordnung der Texte die Gemeinsamkeiten in der Themenwahl, den Gattungen und den Schreibweisen dem Leser vor Augen, oder besser: die verklungenen Autorengespräche an die Ohrmuschel, ob sie tatsächlich stattgefunden haben oder imaginiert sind, bleibt dabei offen.

Simone Winko

Von den schreibenden Akteuren leitete der zweite »Keyvortrag« über zu den Akteuren in den Texten. Professor Dr. Simone Winko (Göttingen) ging in ihren Überlegungen von einem der Narratologie entlehnten Modell zur Figurenkonstitution aus. In diesem entsteht eine Figur aus dem wechselseitigen Zusammenspiel zwischen Textinformationen und dem kontextuellen Wissen des Lesers. Den Begriff der »Figur« führte die Referentin durch folgende drei notwendige Bedingungen ein: Einer Figur muss erstens als Teil der fiktiven Welt Existenz zugeschrieben werden, zweitens bedarf es einer ihr zuweisbaren Eigenschaft und drittens sind Figuren »menschenähnlich«, d.h. ihnen können Absichten zugeschrieben werden oder sie sind ihrer äußeren Erscheinung nach »menschenähnlich.« So verstanden ist eine Figur nicht notwendig thematisch bestimmt, wie etwa die Figur eines Städters oder Décadents.

Auf der Grundlage des kognitiven Analysemodells und der Figur-Definition stellte Winko die zentrale These auf, dass die Figurenkonstitution in Gedichten sich lediglich quantitativ von der in Erzähltexten unterscheide, die Techniken sind dabei dieselben. Implizit wurde dadurch mit behauptet, dass das informationsbasierte Analysemodell der Narratologie auch in Gedichten seine Anwendung finden kann, wofür es in der Forschung allerdings bisher kaum kaum verwandt wird.

Zur Begründung der Behauptung wurden zunächst drei prototypische Besonderheiten der Lyrik herausgestellt, um in einem zweiten Schritt die Techniken der Figurengestaltung auf diese Gattungsspezifika hin zu befragen. Winko nannte die Kürze, die Versform und die Dichte als zentrale Merkmale der Lyrik. »Dichte« meint eine hohe Informationsanzahl auf kleinem Raum. Zur spezifischen lyrischen Dichte trägt die Versform bei, die den Leser auf die Gedichtform und das Metrum lenkt.

Als Techniken der Figurengestaltung wurden (1) »Bezeichnen« und (2) »Charakterisieren« genannt. Figuren können durch (1.1) Eigennamen bezeichnet werden. Fiktive Namen (z.B. Leonore), Namen historischer, legendenhafter mythologischer Figuren (z.B. Nietzsche) und Namen literarischer Topoi (z.B. Daphne) kommen auch in Gedichten vor, allerdings sehr viel seltener als in Erzähltexten. Diese drei verschiedenen Arten der Figurenkonstitution unterscheiden sich erstens graduell in der Informationsanzahl, die ein Leser zur Genese der Figur heranträgt, und zweitens in der Art des Wissens, das der Autor beim Leser abruft (z.B. Weltwissen oder literarisch typisiertes Wissen). (1.2) Nominalphrasen, wie etwa, »der Vater mit seinem Sohn«, »die schöne Müllerin« oder »der Krieg«, greifen zur Bezeichnung von Figuren auf typisiertes, im Text nicht explizites Leserwissen zurück. Der Benennung durch (1.3) Personalpronomen kommt in Gedichten eine größere Bedeutung zu als in prosaischen Texten. »Ich« und »Du« verändern lediglich den Standpunkt zum Inhalt und vermitteln darüber hinaus keine weiteren Informationen. Dieser »weltarme« Bezeichnungstyp wird angereichert durch die zweite Technik der Figurenkonstitution.

(2) »Charakterisieren« meint das Binden von textimmanenten Informationen an eine Figur. Mit Hilfe der aus der Narratologie entlehnten Kategorien (Dauer, Menge, Frequenz, Anordnung der Information, Konzentration der Figureninformation, Informations- und Figurenkontext) wurde im Einzelnen aufgezeigt, wie die drei prototypischen Merkmale der Lyrik gegenüber Prosatexten zum Tragen kommen. So verringert z.B. die Kürze von Gedichten die Menge an Figureninformationen, sodass jedes Merkmal »charakteristisch« wird. Oder so kann z.B. durch die Anordnung der Worte im Vers die Information in besonderer Weise gewichtet werden.

Als Konsequenz aus dem Ergebnis, dass die Figurenkonstitution in der Lyrik sich nur quantitativ von der prosaischen unterscheide, folgerte Winko, dass Gedichte in stärkerem Maße auf Typisierungen bei der Konstituierung von Figuren angewiesen seien. Wird das Modell zur Figurenkonstitution akzeptiert, dann gilt es gleichermaßen explizite wie implizite Informationen in die Figurenanalyse bei Gedichten einzubeziehen. Der systematische Vortrag endete mit einem praktischen Ausblick zur internationalen Lyrik, indem die Referentin vorschlug, die kulturellen Unterschiede des typisierten Wissens herauszuarbeiten – von manchen war in den folgenden vier Sektionen der Tagung zu hören.

Sektion I

Die erste Sektion stellte Dichter aus Nigeria und China vor und legte somit den Grundstein für einen afrikanischen und asiatischen Anbau in Enzensbergers Museum. Gefragt wurde nach den Nationalliteraturen unter den Bedingungen der Globalisierung und der Interkulturalität. Dr. des. Markus Kessel (Göttingen) eröffnete seinen Vortrag mit einer Kritik an Enzensbergers These vom Gleichschritt technischer Neuerung und moderner Poesie aus dem Vorwort des Museums von 1960, die verantwortlich für einen Eurozentrismus war, der die Idiome, Schreibweisen und Themen anderer Länder nivellierte.

Der Vortragende richtete seinen Blick auf Nigeria, auf Wole Soyinka, den ersten afrikanischen Literaturnobelpreisträger (1986), einen in jeder Weise globalisierten Schriftsteller – er schreibt seine Texte mittlerweile nur noch im Flugzeug. Anhand dieses Autors belegte Kessel seine zentrale These, dass die Zweiteilung der »globalisierten« internationalen Gegenwartslyrik in eine ‚poetry of place’ und eine ‚worldpoetry’ zu einfach gedacht ist. Lyriker, die unter den Bedingungen der Globalisierung arbeiten, können nicht bipolar in Gegner, die ihre lokale Besonderheit betonen, und Freunde der Globalisierung, die sich in den Dienst einer global ausgerichteten Poesie stellen, aufgeteilt werden. In Gedichten wie »Calling Joseph Brodsky for Ken Saro-Wiwa« findet Soyinka in räumlich und kulturell entlegenen Konstellationen ein neues Deutungsangebot, ohne seine eigene Sozialisation zu verbergen. Für seine Gedichte greift er auf landestypische Begriffe zurück. Soyinka unterbreitet in seinem Gedichtband »Samarkand and Other Markets I Have Known« (2002) eine poetische Vision, die die unterschiedlichen lokalen Kontexte zu einer »visuellen Nachbarschaft« im Gedicht verknüpft. Diese imaginierte Nähe ermöglicht, so Kessel, eine sinnstiftende Sprache für den Ortsverlust in einer globalisierten Welt. Er schloss seine Überlegungen mit dem Vorschlag, Autoren und Werk nicht so sehr geographisch und kulturell zu verorten, sondern den Blick auf den globalisierten Raum im Gedicht zu richten.

Shuangzhi Li, M.A. (Berlin), machte in seinem historisch arbeitenden Referat Station bei drei der wichtigsten zeitgenössischen chinesischen Lyriker. Anhand exemplarisch verstandener Gedichte der 1980er Jahre arbeitete er den Umgang der Dichter mit der modernen europäischen Literatur heraus und ihr jeweiliges Dichterselbstverständnis.

Zunächst gab Li aber einen kurzen Überblick über die zwei großen Entwicklungsphasen der chinesischen Lyrik des 20. Jahrhunderts, von 1917-1949 und von 1978 bis etwa 1989. Die zweite revolutionäre Phase befreite sich von den staatlich-ästhetischen Dogmen der Kulturrevolution. Anders als in der ersten literarischen Umbruchsphase, die sich von der traditionellen chinesischen Lyrik lossagte, fand nicht nur eine Aneignung durch Übersetzungen alter westlicher Literatur statt. Die Dichter der 80er Jahre konnten durch Auslandsaufenthalte und persönliche Kontakte den oft anachronistischen Umgang ihrer Vorgänger mit fremder Literatur überwinden. Allerdings griffen auch sie noch auf klassische Autoren wie Hölderlin und bereits klassisch gewordene moderne Autoren wie Mandelstam und Lorca zurück. Mit großem Pathos imaginierten sie die Teilhabe an einer gemeinsamen Weltlyrik durch und in der Poesie, ohne an der damaligen avantgardistischen westlichen Alltags- oder Experimentallyrik zu partizipieren.

Li begann seinen Überblick der chinesischen Lyrik der 1980er Jahre mit dem Gedicht »Antwort« von Bei Dao. Mit ihm und seinem emphatisch-programmatischen Ausruf »Ich glaube nicht« beginnt 1978 die zweite revolutionäre Entwicklungsphase. Sein Gedicht geht aber über die gegenwärtige politische Lage hinaus. Es nimmt zum einen die Metaphorik der Namen fremder Orte (»Totes Meer«, »Kap der guten Hoffnung«) wörtlich, um die eigene Lebenswelt infrage zu stellen, zum anderen imaginiert es durch eine neue Poesie den Glauben an eine zukünftige bessere Welt für die gesamte Menschheit. Typisch für die Übergangsphase zwischen den totalitären 1970er Jahren und den relativ liberalen 1980ern ist der rebellische Dichter, der als ein zukunftsweisender Prophet auftritt.

Das revolutionäre Pathos Bei Daos weicht dem rein poetologischen Dichterpathos Hai Zis, das sich an Hölderlin orientiert. Hai Zis gleichnamiges Gedicht setzt einen Dialog mit seinem deutschen »Bruder« in Gang, der ihm eine Reflexion über die lyrische Sprache und den Lyriker ermöglicht. In der Bildsprache der Hölderlinschen Götterwelt besingt er auf eigentümliche Weise die göttlichen Fähigkeiten eines Dichters. Eine solch starke Identifikation mit einem Dichter aus einer fremden Kultur und Zeit, die Lyrik zu einem Medium werden lässt, das zeitliche und geographische Grenzen überwindet, ist kein singuläres Phänomen in der chinesischen Lyrik der 1980er (vgl. Kessels Beispiel Soyinka).

Zhang Zao unternimmt in seinen Gedichten eine interkulturelle Reise durch das Schreiben. Als einer der ersten Lyriker besinnt er sich zurück auf die alte chinesische Literatur und ihre Bildwelt, was der heutigen chinesischen Lyrik selbstverständlich ist, und vermengt sie mit der westlichen Literatur. Er kann als der poetische Kosmopolit gelten, der die unterschiedlichen Kulturen zu verbinden versucht, um ein neues Gut für alle zu schaffen. Die Probleme, die sich bei einem solchen interkulturellen Austausch stellen, waren Gegenstand der zweiten Sektion.

Sektion II

Die zweite Sektion thematisierte die Schwierigkeiten, die sich bei Übersetzungen von Gedichten einstellen. Wendy Anne Kopisch, MA Oxon (Braunschweig), fragte aus dem Blickwinkel der Übersetzer nach Möglichkeiten und Begrenzungen einer »Weltsprache der Poesie.«

Der klassische Kanon der Weltliteratur oder Enzensbergers Museum, und sein Anspruch, jedem die Möglichkeit zu bieten, aktiv am Gespräch der Weltsprache der modernen Poesie teilzunehmen, sind ohne die oft unbeachtete Arbeit der Übersetzer nicht denkbar, so die Referentin zu Beginn ihres Vortrags. Welche eigentümlichen Schwierigkeiten stellen sich nun dem Übersetzer?

Für Lyrik ist die Informationsfülle, die aus dem Zusammenspiel von Form und Inhalt resultiert, auf kleinstem Raum kennzeichnend (vgl. Winkos Gattungsspezifika der Lyrik). Dieser Umstand, Reimpaare und Vieldeutigkeiten, die der Wortschatz der Ausgangssprache bietet, mit der Kultur verknüpfte Metaphern und die besondere Benutzung der Alltagssprache erschweren die Übersetzungen und machen eine Wort für Wort Übertragung in den meisten Fällen unmöglich. Der Übersetzer ist aufgefordert kulturelle Entsprechungen in der Zielsprache aufzusuchen. Anders als in der Prosa spielen bei Gedichten kulturelle Übersetzungen eine sehr viel größere Rolle, die nicht in erster Linie an der Wiedergabe der sprachlichen Bedeutung interessiert sind, sondern versuchen, funktionale Entsprechungen des Intendierten zu finden.

Darüber hinaus schnitt die Referentin mit dem Hinweis auf die Sapir-Whorf Hypothese ein erkenntnistheoretisches Problem an, das aufgrund der Gattungsmerkmale der Lyrik in besonderer Weise greift. Gerade weil viele Gedichte spezifisch auf die Grammatik und den Wortschatz ihrer Sprache zurückgreifen, lassen sich manche Inhalte nur in der Ausgangssprache ausdrücken. In seiner extremen Spielart verneint der sprachliche Relativismus damit jede Aussicht auf eine gelungene Gedichtübertragung.

In ihren abschließenden Überlegungen zur Möglichkeit einer »Weltsprache der Poesie« griff Kopisch auf Raoul Schrotts Konzept der »Ästhetik des ersten Mals« zurück, das sie mit Maurice Merleau-Pontys Theorie des Unsichtbaren unterfütterte. Sie konstatierte bei Gedichten eine poetische, vorsprachliche Erfahrung und gab damit eine Antwort auf eine der wichtigsten Prämissen Sapir-Whorfs, die behauptet, dass Wahrnehmung untrennbar mit Sprache verbunden ist. Sie bot damit, neben der metaphorischen Lesart Lampings, eine phänomenale Ausbuchstabierung der »Weltsprache der Poesie« an, die in ihrer wörtlichen Bedeutung vor dem Hintergrund »kultureller« Übersetzungspraktiken noch fraglicher wurde, als sie ohnehin schon ist. Dass auch die musikalische Qualität von Versen angeführt werden kann, um von einer »Weltsprache der Poesie« zu sprechen, verdeutlichte Kopisch an dem internationalen Lyrikprojekt »metropoetica.org.«

Dr. des. Chiara Conterno (Verona) wurde bei den Problemen der Übersetzung ganz konkret und bewertete in ihrem Vortrag die italienischen Übersetzungen der Lyrik Nelly Sachs’. Als Wertmaßstab legte sie über weite Teile ihres Vortrags die möglichst wortgetreue Übertragung zugrunde, lobte aber auch die Loslösung vom Original.

Die ersten italienischen Lyriktransfers stammen von Rodolfo Paoli, der mit seiner Vorliebe für eine altertümliche Sprache nicht immer den Gedichten Sachs’ gerecht wird. Ida Porena fertigte die meisten italienischen Übersetzungen an. Conterno zeigte auf, wie die mittlerweile dreißig Jahre währenden Bemühungen Porenas zur allmählichen Befreiung vom deutschen Original führten. Orientierte sich die Übersetzerin anfänglich noch stark am deutschen Satzbau (»Il sonno non può più entrare« – »Der Schlaf hat keinen Eingang mehr«), ließ sie später die italienischen syntaktischen Eigenarten zu (»Non può più entrare il sonno«). Die Referentin gestand zu, dass lyrische Übertragungen, gerade bei der hermetischen Lyrik von Nelly Sachs, nicht immer die Bedeutungsvielfalt des Originals retten können (z.B. Neologismen wie »Stiefmutterweilchen«) und oft eindeutige Auslegungen unumgänglich machen. Allerdings darf diese Freiheit nicht zu Unachtsamkeiten im Detail führen. So lässt z.B. Porena in ihrer Übersetzung von 2006 den so wichtigen Gedankenstrich am Ende des Gedichts »[So einsam ist der Mensch]« weg, der in Nelly Sachs’ Lyrik die Grenze sichtbar macht, über die hinaus vor dem Hintergrund der Shoa kein Sprechen mehr möglich ist.

Trotz allem kommt Centerno insgesamt zu einem positiven Urteil über die italienischen Übersetzungen, da sie es allesamt schaffen, die traumatischen Erfahrungen von Gewalt und Angst wiederzugeben.

Claus Telge, M.A. (Leipzig/Arizona), widmete sich in seinem Vortrag ebenfalls der Problematik literarischer Übersetzungen. Er verglich die deutschen Pablo Neruda-Übersetzungen von Erich Arendt und Hans Magnus Enzensberger miteinander. Anders als Conterno bewertete er sie nicht, sondern versuchte zu zeigen, welchen Einfluss ihre Übersetzungen jeweils auf ihre eigene Poetologie und andersherum ausübten.

In dem Essay »Poesie und Politik« (1965) verteidigt Enzensberger die Autonomie der Poesie gegenüber politischen Vereinnahmungen und widersetzt sich der allzu vereinfachenden Zweiteilung der Lyrik in eine »poésie pure« und »poésie engagée.« Schon in dem Titel »Poésie Impure« (1968) des ersten Gedichtbands mit Neruda-Übersetzungen drückt sich diese Haltung in der Verschmelzung der Dichotomie aus. Enzensberger rekurriert damit eindeutig auf den jungen Neruda, der sich in seinem Manifest »Sobre una poesía sin pureza« gegen eine reine Poesie wandte. In »verteidigung der wölfe« (1957) zeigt sich dieser neue politische Autor, angeregt durch das stille Gespräch mit dem frühen Neruda.

Als ein Autor der DDR gilt Erich Arendts Interesse dem späten Neruda, den Enzensberger als einen Stalinisten bezeichnete (»Der Fall Neruda«, 1955). Die je unterschiedliche Vorliebe beider Übersetzer ist begründet durch deren verschiedene Ansichten über die ideale Verzahnung von Politik und Poesie bei dem chilenischen Autor. Während Enzensbergers Begeisterung für Neruda wohl mit dem Zyklus »Residencia en la tierra« (1935) enden dürfte, würde Erich Arendt wohl den »Canto General« (1950) als das bedeutendste Werk des Dichters bezeichnen.

Enzensbergers Übersetzungen schwanken dabei zwischen der wortwörtlichen Übertragung und der freien Einbettung in einen neuen zeitlichen und kulturellen Kontext. Arendt lehnt diese Transkriptionsleistung des Übersetzers ab. Übersetzungen sind für ihn ein Rückzugsraum. Sowohl seine Neruda-Nachdichtungen als auch sein eigenes literarisches Werk bedienen sich einer zeitlos naturreligiösen Sprache, die sich nicht nur der technischen Realität, sondern auch der sozialistischen zu entziehen versucht.

Sektion III

Die dritte Sektion der Tagung thematisierte Lyrik im audio-visuellen Medium. Übersetzungsschwierigkeiten spielen hier naturgemäß eine untergeordnete Rolle, weil die Bedeutung des Wortes anders wiegt. Poesiefilme kommen in ihrer Eigenart der Idee der »Weltsprache der Poesie« in seiner wörtlichen Bedeutung am nächsten. Bild und Musik kommunizieren über Sprachgrenzen hinweg, renommierte Filmemacher treffen sich zu Filmfestivals auf allen Kontinenten, wie z.B. »VideoBardo« in Buenos Aires, »VisibleVerse« in Vancouver oder »Zebra« in Berlin, und stehen durch das Internet im permanenten Austausch miteinander.

Stephanie Orphal, M.A. (Berlin), erarbeitete eine erste Typologie dieses relativ jungen intermedialen Genres. Sie unterschied zwischen Filmen, die sprachlich verfasste Inhalte lediglich adaptieren bzw. eine eigentümliche poetische Qualität aufweisen, und solchen, die Texte schriftlich (»visuelle Gedichtfilme«) oder stimmlich integrieren. Die Stimme kann aus dem »off«(»voice-over-Gedichtfilme«) kommen oder »on screen« erscheinen (»perfomance-orientierte-Gedichtfilme«). Als ein Beispiel für ein Gedichtfilm aus dem »off« führte Orphal Tim Webbs »15th February« an. Dass das Beschreibungsinstrumentarium der Gedichtanalyse nicht ausreicht, um die Phänomene angemessen zu erfassen, wurde schnell deutlich. Die »Dichte« (vgl. Simone Winko) steigt durch die neuen Informationsebenen Bild und Ton um ein vielfaches. So kann z.B. nach der Wechselbeziehung von Rhythmus und Schnitt oder der Akzentuierung des Wortes durch die Akustik gefragt werden. Die Textwissenschaft steht hier vor keiner neuen Schwierigkeit, man denke an die Analyse von Theateraufführungen oder den Vortrag von Gedichten, aber vor einer aktuellen, die das Nachdenken über ihren Gegenstand herausfordert.

Sektion IV

In der vierten Sektion wurden noch einmal lyrische Exponate ausgestellt, die 1960 keinen Platz in Enzensbergers »Museum der modernen Poesie« fanden. Nils Bernstein, M.A. (Wuppertal), stellte die Poetologie eines der wirkmächtigsten Autoren Lateinamerikas vor. Nicanor Parra wurde 1960 nicht ins Museum aufgenommen, erst 30 Jahre später nahm Harald Hartung ihn in seine »Luftfracht« auf. Anders als sein chilenischer Kollege Pablo Neruda (1971) wurde er bisher nicht mit einem Nobelpreis bedacht, obwohl er in seiner Heimat nicht minder einflussreich und bekannt ist. In deutscher Sprache liegt bisher nur der Band »Und Chile ist eine Wüste« vor.

Seine Gedichte stellen einen markanten Einschnitt in der chilenischen Literatur dar. Mit seiner Metalyrik grenzte er sich von den hermetischen Autoren, wie Pablo Neruda, Vicente Huidobro oder Pablo de Rokha, der damaligen Avantgarde ab. In seinem Gedicht »Achterbahn« verspottet er sie als »feierliche Trottel.« Sein Gedicht »Ode an die Tauben« ist eine Verballhornung der »Elementare[n] Oden« (1954) Nerudas. Anstatt in lyrisch überhöhter Form einen Holzscheit zu besingen (»Dich kenn ich, dich lieb ich,/ dich sah ich wachsen,/ Holz.«), rennen seine Tauben nach Fliegen schnappend durch das Esszimmer und werden mit sonderbaren Vergleichen (»sie sind absurder als eine Flinte/ Oder eine Rose voller Läuse«) charakterisiert. Verspottet werden aber nicht nur seine hochtrabenden Kollegen, sondern auch das Christentum, so z.B. in »Lamm Gottes«, das gebeten wird, Wolle für einen Pullover herzugeben.

Angelehnt an den Gedichtband »Poesie & Antipoesie« (1954) werden diese Gedichte oft als »Antipoesie« bezeichnet. Sie bedienen sich der Alltagssprache, greifen auf Redewendungen zurück und vermeiden lyrische Topoi. Gewöhnliche Menschen in gewöhnlichen Handlungen sind Gegenstand dieser Gedichte. Der Dichter in den Texten tritt nicht als ein göttliches Wesen auf, viel eher z.B. als ein Maurer, und auch nicht als ein poeta doctus. Trotzdem kennzeichnen diese Gedichte Nicanor Parra durch die dezidierte Auslassung lyrischer Traditionen, so der Vortragende, als einen literarisch gebildeten Schriftsteller. Parra räume, so der Referent weiter, in seinen Gedichten mit antiquierten Vorstellungen auf, von dem was Poesie sei. Orginalität, Schönheit und Subjektivität als Dikta der Poesie werden aus seinen Gedichten verbannt. Seine readymade-ähnlichen »Artefactos«, mit sinnhaften Lehrsprüchen verbundenen Karikaturen, sprengen jeglichen Versuch einer Gedichtdefinition.

Florian Strob, M.A. (Oxford), stellte die Thesen auf, dass Nelly Sachs, Emily Dickinson, Ilse Aichinger und Sujata Bhatt (i) ein existenziell-körperliches Dichtungsverständnis gemein sei und (ii) ihre Gedichte sich durch ein »engagiertes Schweigen« auszeichnen. Die Dichterinnen verbindet mit diesen beiden Merkmalen die (iii) Absicht, sich von ihrer literarischen Tradition abzuwenden. »Engagiertes Schweigen« kann in unterschiedlicher Weise ausgeprägt sein. Es ist einerseits metaphorisch als die Unmöglichkeit einer eindeutigen Bedeutungszuschreibung zu verstehen und kann andererseits wortwörtlich das Auslassen von Informationen meinen.

Nelly Sachs’ Bruch mit der Tradition ist ein historisch bedingter Bruch. Ein Schreiben nach der Shoa kann nicht an Altbekanntes anknüpfen, sondern muss eine neue Ausdrucksform finden. Sachs’ Gedichte sind dunkel und unverständlich. In einem ihrer posthum veröffentlichten titellosen Gedicht lauten die Schlussverse: »wo ist mein Erbe//Salz ist mein Erbe.« Das »Wo« wird durch ein »Was« beantwortet. Sachs’ literarisches Schaffen lässt sich nicht inhaltlich fassen und verorten, sondern ist Ausdruck ihrer Trauer. Ihr Erbe sind salzige Tränen, die sich nicht mit dem Geist erfassen lassen, sondern sich nur über den Körper aufnehmen lassen.

Ist es bei Sachs die hermetische Lyrik, die sich einer eindeutige Auslegung widersetzt, ist es bei Emily Dickinson das radikal offene Gedicht. Die Gedichte der amerikanischen Lyrikerin liegen in unzähligen Varianten vor und entziehen sich so einer Bedeutungsfestlegung.

Ilse Aichingers »engagiertes Schweigen« knüpft bei Sachs an und radikalisiert die Poetik ihrer Brieffreundin. In ihrem Gedicht »Ende des Ungeschriebenen« wird der Tod als das endgültige Verstummen vorausgeahnt. Aichinger übertritt damit die Schwelle zwischen Leben und Tod, an der Sachs mit ihren Gedichten agierte.

Sujata Bhatt wurde 1956 in Indien geboren, zog mit zwölf Jahren in die USA und lebt derzeit in Bremen. Dieses Leben zwischen Ländern und Sprachen spiegelt sich formal wie thematisch in vielen ihre Gedichte wieder. In »Search for My Tongue« wechseln sich englische Verse mit Zeilen in Bhatts Muttersprache Gujarati ab. Das Gedicht wehrt sich nicht etwa durch eine hermetische Qualität oder einen Variantenreichtum, sondern durch eine für die meisten Leser unverständliche Sprache gegen eine Bedeutungszuschreibung. Die Dichterin verfolge, so Strob abschließend, mit ihren Gedichten die Absicht, das interkulturell bedingte Schweigen erträglich zu machen.

Damit endete die Vortragsreihe. Explizit oder implizit beantworteten alle Vorträge die Frage, wie eine »Weltsprache der Poesie« methodologisch zu fassen ist. Die Organisatoren Stefanie Preuß und Claudia Hillebrandt gruppierten die Referate grob in vier Zugriffsweisen:
Nils Bernstein und Florian Strob bescheinigten ihrem bzw. ihren Schriftsteller/innen eine Teilhabe an einer »Weltsprache« aufgrund von Textmerkmalen. Markus Kessel und Shuanghzi Li fragten, wie eine Partizipation unter den Produktionsbedingungen der Globalisierung stattfinden kann. Stephanie Orphal stellte eine neue Form der internationalen Distribution von Lyrik im audiovisuellen Medium vor. Die Rezeption, genauer die Rezeption von übersetzter Lyrik, nahm durch die Vorträge von Wendy Anne Kopisch, Chiara Conterno und Claus Telge den größten Raum der Tagung ein. Die von ihnen aufgeworfenen übersetzungswissenschaftlichen Problemstellungen befassten sich aus einer rezeptionsorientierten Perspektive dem Zusammenspiel von Textmerkmalen, Produktions- und Distributionsbedingungen.

Die abschließende Diskussion erörterte die Frage, inwiefern der Weltsprachenbegriff für eine Beschreibung der lyrischen Kommunikation über Sprach- und Kulturgrenzen hinweg produktiv sein kann. Aufgrund der irreführenden Metaphorik des Weltsprachenbegriffs wurde vorgeschlagen, ihn durch eine Typologie verschiedener Austauschprozesse zu ersetzen. Hier könnte eine zweite Göttinger Graduiertenkonferenz zur »Weltsprache der Poesie« anknüpfen, bis dahin geht der Prozess der Poesie weiter.



Metaebene
 Autor*in:
 Veröffentlicht am 3. November 2010
 Kategorie: Wissenschaft
 Das Tagungs-Logo, das hier auf dem Bildausschnitt gezeigt wird, wie auch das Plakat zur Tagung, stammen von Doreen Kiepsel
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