Von der Kritik anfangs als Pop-Schnösel belächelt, befindet sich Christian Kracht mittlerweile auf dem besten Weg zur Kanonisierung. Zwei neu erschienene Sammelbände haben jetzt die zweite Stufe der Kracht-Forschung gezündet.
Von Christian Dinger
Wie viele Forschungsbeiträge braucht’s zur Kanonisierung? Wie schön wäre es doch, wenn man eine verbindliche Checkliste vorlegen würde, mittels derer man die notwendigen und hinreichenden Bedingungen einfach abhaken könnte, die es braucht, um vieldiskutierten Gegenwartsautor*innen den Ritterschlag zu erteilen und sie nach ihrem Ableben in den Olymp der pfeiferauchenden Cordträger und schwindsüchtigen Poeten zu erheben, nach denen Schulen, Literaturpreise oder Kneipen benannt werden. Soundsoviel verkaufte Exemplare? Check. Büchnerpreis gewonnen? Check. Schullektüre? Check. Ist das Werk Gegenstand von mindestens drei literaturwissenschaftlichen Sammelbänden oder Monographien? …
Man muss nicht erst in die Untiefen der Kanonforschung einsteigen, um ernüchtert festzustellen, dass es so einfach und übersichtlich nicht zugeht. Vor allem bei noch lebenden und kürzlich verstorbenen Autor*innen lässt sich über Kanonfähigkeit nur mutmaßen. Dass aber Christian Kracht gerade einer der ganz heißen Kanonanwärter ist – für diese Einschätzung braucht es keine Checkliste und auch keine seherischen Fähigkeiten.
Dabei hat sich der Literaturbetrieb zunächst schwer getan mit ihm. Lange Zeit blieb der 1993 an ihn verliehene Axel-Springer-Preis für junge Journalisten seine einzige Auszeichnung. So richtig änderte sich das erst mit der Verleihung des Wilhelm-Raabe-Preises für seinen Roman Imperium 2012, auf den 2016 der Hermann-Hesse-Preis und der Schweizer Buchpreis folgte – aber nach wie vor muss man sagen: eine breite, kanonverdächtige Anerkennung durch die Konsekrationsinstanzen des Literaturbetriebs sieht anders aus.
In der wissenschaftlichen Rezeption nimmt Krachts Werk einen spürbar anderen Stellenwert ein. Erste Dissertationen sowie der von Johannes Birgfeld und Claude D. Conter herausgegebene Sammelband Christian Kracht. Leben und Werk erschienen bereits in den 2000er Jahren. Im vergangenen Jahr nahm die Publikationstätigkeit dann sprunghaft zu, sodass es angebracht zu sein scheint, einen kurzen Überblick über die neue Konjunktur der Kracht-Forschung zu skizzieren.
Ausweitung der Kracht-ForschungDer Auftakt erfolgte schon 2017 mit dem von Christoph Kleinschmidt herausgegebenen Text+Kritik-Band zu Christian Kracht. Es folgten 2018 zwei umfangreiche Sammelbände, die zusammengenommen neue Maßstäbe für die Kracht-Forschung setzen: der von Matthias N. Lorenz und Christine
Der erstgenannte der zwei Bände geht zurück auf eine Kracht-Tagung, die im Oktober 2016 an der Universität Bern stattfand und laut Vorwort der Herausgeber*innen den Anspruch verfolgte, »[e]tablierte Kracht-Forschende […] mit solchen Kolleginnen und Kollegen [zusammenzubringen], die bislang noch nicht über diesen Autor gearbeitet hatten, um den Verfestigungen eines hermeneutischen Expertendiskurses, der in der Autorenphilologie ja nicht selten einen Hang zum Esoterischen und Apologetischen entwickelt, nach Möglichkeit zu entgehen.« (Lorenz/Riniker, S.11) Nimmt man diesen Anspruch ernst – und allein ein Blick ins Inhaltsverzeichnis lässt vermuten, dass er ernst genommen wird – liest er sich als ein Aufruf zur Ausweitung der Kampfzone: Forschungsperspektiven der Kracht-Liebhaber*innen innerhalb der scientific community sollen hinterfragt, festgefahrene Deutungswege sollen verlassen werden. Zwischen den Zeilen wird somit eine neue Ära der Kracht-Forschung angekündigt. Alleine dass sich bezogen auf das Werk eines noch lebenden, 52-jährigen Gegenwartsautors nunmehr von einer »jüngeren« und einer »älteren« Forschung sprechen lässt, ist dabei bezeichnend.
Vergleicht man die Aufsätze, die in Christian Kracht revisited versammelt sind, mit früheren Forschungsbeiträgen, lässt sich tatsächlich eine neue Herangehensweise erkennen. Zwar stehen oftmals Begriffe im Zentrum der Aufmerksamkeit, anhand derer auch schon in den letzten Jahren das Kracht’sche Oeuvre verhandelt wurde – sei es das Dandytum, die Popliteratur, Susan Sontags Camp-Konzept, Krachts Ästhetik des
So vertritt Inokentij Kreknin in seinem Beitrag Selbstreferenz und die Struktur des Unbehagens der »Methode Kracht« die These, dass »[d]ie in Krachts Werk anfangs dominante Fremdreferenz (sei es auf Elemente der Alltagskultur oder andere Texte) […] von Roman zu Roman immer mehr durch eine werkimmanente Selbstreferenz verdrängt« (Kreknin, S. 36) wird. In Kreknins Augen markiert Krachts vorletzter Roman Imperium (2012), spätestens aber sein letzter Roman Die Toten (2016) den Übergang von Popliteratur zu »Post-Pop«.
Nicht um »Post-Pop«, sondern um »Spätpop« geht es beim Bonner Literaturwissenschaftler Johannes Franzen, der Krachts Debütroman Faserland (1995), das vielen als »Gründungsdokument« der Popliteratur gilt, mit dem »verspäteten« Poproman In Plüschgewittern (2002) von Wolfgang Herrndorf vergleicht. Dabei zeichnet Franzen die Entwicklung »von der Verdammung einer literarischen Strömung zur Etablierung einer Gattung« (Franzen, S. 235) nach und zeigt, wie sich in nur wenigen Jahren die Bezeichnung »Poproman« von einem literaturkritischen Kampfbegriff zu einem literaturhistorischen Gattungsbegriff gewandelt hat.
Nicht Popliteratur, sondern WeltliteraturDie Einordnung in einen größeren Gesamtkontext ist auch das Anliegen des von Bronner und Weyand herausgegebenen Sammelbands. Doch nicht »Popliteratur«, sondern »Weltliteratur« ist hier das spezifische Schlagwort. Mag der Titel Christian Krachts Weltliteratur auch auf den ersten Blick etwas großspurig daherkommen, wird schnell klar, dass hier eine Perspektive auf das Kracht’sche Gesamtwerk eingenommen wird, die längst überfällig war. Schließlich ist es nicht nur so, dass sich sowohl der Autor als auch seine Figuren auf dem ganzen Globus bewegen – gerade in den letzten Jahren wurde auch mehr und mehr deutlich, dass Kracht nicht ausschließlich und in erster Linie für den deutschen Markt schreibt, sondern einen dezidiert weltliterarischen Anspruch verfolgt. (Ein Hinweis darauf ist alleine schon seine aktuelle Autorenwebsite, die gleichberechtigt nebeneinander die verschiedensprachigen Ausgaben seiner Bücher auflistet und darüber hinaus lediglich auf seine US-amerikanische Agentur verweist.) Die Raumtheorien, die sich bereits seit Jahren einer großen Konjunktur in der literaturwissenschaftlichen Forschung erfreuen, entfalten auf Krachts Texte angewendet ein überaus vielversprechendes Deutungspotential.
Anerkennung erfährt in diesem Zusammenhang auch Krachts Reiseprosa, die laut Mitherausgeber Weyand von einer postromantischen Melancholie geprägt ist. Die Haltung resultiere daraus, dass dem romantisch grundierten Fernweh und Entdeckungswillen eine bereits vollständig entdeckte, globalisierte und somit entzauberte Welt gegenüberstehe.
Positiv hervorzuheben an beiden Bänden ist die Bereitschaft der Beitragenden, sich auch den »marginalen« Texten Krachts zuzuwenden. Bisher standen vor allem die Romane des Autors im Mittelpunkt der forschenden Aufmerksamkeit. In Christians Kracht Weltliteratur werden dezidiert auch »jene vermeintlichen Ränder eines Werkes [beleuchtet], dessen arkane Signifikanten sukzessive die Welt zu überziehen scheinen: Texte, die
Aber auch im Sammelband von Lorenz und Riniker finden sich Beiträge, die sich bisher noch weitgehend unbeachteten Teilen von Krachts Gesamtwerk annehmen: Alexandra Ludewig schreibt über die Ästhetik des Hässlichen im Kinofilm Finsterworld (2013), zu dem Kracht gemeinsam mit seiner Frau Frauke Finsterwalder das Drehbuch schrieb, Sebastian Schulze und Angela Dressler untersuchen die Peripherie von Krachts Werk mit digitalen Mitteln, indem Sie mittels einer Stilometrie-Analyse die zweifelhafte Autorschaft einiger Texte in der Zeitschrift Tempo zu klären versuchen und Kay Wolfinger und Jan Henschen legen Aufsätze vor, die sich näher mit der spezifischen Interviewstrategie des Autors beschäftigen. Gerade Krachts Interviews, so wird schnell klar, stellen eine eigene Gattung im Oeuvre des Autors dar, die ebenso viel hermeneutische Aufmerksamkeit verdient wie seine übrigen Texte.
Gegenwartsliteratur und WerkpolitikforschungSo sehr die beiden nun vorliegenden Bände eine Revitalisierung der Kracht-Forschung bedeuten, so schnell wird die Forschung auch schon wieder von ihrem Gegenstand eingeholt. Die Poetikvorlesung, die Christian Kracht im Sommersemester 2018 in Frankfurt hielt, erwies sich als deutliche werkpolitische Zäsur. Der Autor, der eigentlich dafür bekannt ist, sein Werk in keiner Weise, weder in Interviews noch bei Lesungen, zu kommentieren (vgl. den Beitrag von Adrian Bruhns in Litlog vom 26.10.2016), sprach hier erstmals ausführlich über die Einflüsse auf sein Schreiben, literarische Wahlverwandtschaften und biographische Schlüsselerlebnisse. Im Mittelpunkt der Medienöffentlichkeit stand anschließend vor allem Krachts Erinnerung an den sexuellen Missbrauch, den er als Zwölfjähriger durch einen Internatskaplan erfahren musste.
Auch wenn Krachts Poetikvorlesungen, wie schon seine Dankesrede zum Wilhelm-Raabe-Preis, auf Wunsch des Autors unveröffentlicht bleiben (selbst einige längere Zitate in einem Spiegel-Online-Artikel mussten nachträglich wieder gestrichen werden), haben die in der Goethe-Uni vom Autor gesprochenen Worte doch das Potential, die Kracht-Rezeption nachhaltig zu verändern. Dabei sind nicht nur die von den Literaturwissenschaftler*innen Kevin Kempke und Miriam Zeh befürchteten »biographistischen Lesarten, die Krachts Texte beflissentlich nach Traumaspuren absuchen« zu erwarten, sondern mit Sicherheit auch ernstzunehmende Impulse für die Forschung. So stellte Kracht ein Thema in den Mittelpunkt seiner ersten Poetikvorlesung, das auch in den neueren Forschungsbeiträgen immer noch eher unterrepräsentiert ist: die Darstellung von Männlichkeit in seinen Texten – verletzte und verletzende Männlichkeit. In den beiden hier besprochenen Bänden behandelt einzig Tanja Nusser dieses Thema ausführlich in ihrem in Christian Kracht revisited erschienenem Beitrag »Wir ficken auf der Bühne, sozusagen«. (Triste) Männlichkeitsperformanzen in Christian Krachts Texten.
Es lohnt sich, einmal die Beiträger*innenliste der beiden Sammelbände durchzugehen, um zu sehen, welche Rolle Männlichkeit auch für die Rezeption der Kracht’schen Texte zu spielen scheint. Auf 35 männliche Beiträger kommen acht Frauen, die einen Aufsatz zu Christian Krachts Werk veröffentlicht haben. Krachts Texte, so scheint es, werden nicht nur vorrangig von Männern gelesen, sondern auch von Männern beforscht. Warum das so ist, darauf bleibt auch die »neue« Kracht-Forschung bisher eine Antwort schuldig.
Freilich, auch diese beiden Sammelbände sind wohl kaum ein verlässliches Signal dafür, dass das Werk von Christian Kracht in 30 Jahren zu den bleibenden Kulturgütern im deutschsprachigen Raum gezählt wird. Es bleibt weiterhin genauso möglich, dass Faserland und Imperium 2049 auch antiquarisch nur noch schwer auffindbar als Geheimtipp unter einer Hand voll verschrobener Literaturwissenschaftler*innen zirkuliert. Was durch die Publikationen aber zweifellos erwiesen ist: Es gibt noch einiges zu sagen über das Werk, den Autor, die Marke Christian Kracht. Und in diesem Sinne seien die Beiträge all jenen empfohlen, die in den letzten Jahren genervt waren von den seichten Feuilletonblasen, die um obskure Rufmord-Kampagnen von Spiegel-Autoren, das Krawattenmuster des Autors oder seine persönliche Beziehung zu Denis Scheck kreisten. There’s so much more to say.