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Wem gehört unser Leben?

Triggerwarnung: Sterbehilfe, Suizid

Ferdinand von Schirach macht in GOTT das Thema der Sterbehilfe für jede:n zugänglich und stellt mithilfe seines schlichten Erzählstils die Emotionalität der Debatte dar, ohne die Objektivität zu verlieren. So schafft er es, dass sowohl Text als auch Verfilmung nachwirken.

Von Joscha Frahm

Sollten Ärzt:innen Beihilfe zum Suizid leisten dürfen? Wie weit soll Selbstbestimmung gehen? Wer darf entscheiden, wie unser Leben endet? In öffentlichen Debatten werden diese Fragen schon länger heiß diskutiert und nun auch literarisch verhandelt: Ferdinand von Schirach greift in GOTT das umstrittene Thema Sterbehilfe auf und fesselt damit die Leser:innen. Dadurch leistet er einen bedeutenden Beitrag zur Debatte um Selbstbestimmung über den eigenen Tod. Die öffentliche Diskussion des Themas ist heikel, denn über die eigene Sterblichkeit wird nur ungern gesprochen.

Dennoch geht uns alle das Thema etwas an: Sterben gehört zum Leben unweigerlich dazu und so gehört zu einem freien Leben auch ein freier Tod. Doch kann eine selbstbestimmte Entscheidung in Bezug auf den Tod überhaupt getroffen werden? Schirach diskutiert dieses höchst sensible Thema in Form einer pointierten Geschichte über einen Mann, der seine Lust am Leben verloren hat. Durch Schirachs brillanten Erzählstil fällt es schwer, das Buch aus der Hand zu legen und auch nach dem Lesen lässt das Thema nicht los.

Darf ich sterben?

Buch-Info


Ferdinand von Schirach
GOTT. Ein Theaterstück
Luchterhand: München 2020
160 Seiten, 18,00€

 
 
Richard Gärtner ist 78 Jahre alt, psychisch und physisch kerngesund. Trotzdem will der Protagonist des Dramas GOTT sterben. Denn nach dem Tod seiner geliebten Frau hat er jegliche Lebenslust verloren und findet an nichts mehr einen Reiz: »Ich will nicht mehr leben. Mich interessiert kein Buch mehr, kein Film, keine Unterhaltung.« So spitzt Schirach die Debatte in seinem Drama zu, denn im öffentlichen Diskurs geht es beim Thema Sterbehilfe meist um todkranke Menschen und nicht, wie hier, um eine kerngesunde Person.

Gärtner beantragt eines Tages eine tödliche Dosis Natrium-Pentobarbital beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, um sich damit das Leben zu nehmen. Seine Anfrage wird jedoch abgelehnt, sodass er sich gezwungen fühlt, an die Öffentlichkeit zu gehen, bis sein Anliegen schließlich vor dem Deutschen Ethikrat diskutiert wird. Dabei tragen verschiedene Sachverständige ihre jeweiligen Positionen vor und müssen sich dabei einer Befragung durch Gärtners Anwalt, Biegler, und ein langjähriges Mitglied des Ethikrats, Dr. Keller, die die Gegenposition zu Gärtner vertritt, unterziehen. Die Gerichtsszene kennt man bereits aus anderen Werken von Schirach, der selbst auch Jurist ist. In seinem Drama Terror, das wie auch GOTT Teil einer geplanten Trilogie ist, nutzt Schirach die Situation vor Gericht ebenfalls, um eine Debatte darzustellen, die nicht nur im Gerichtssaal, sondern auch gesellschaftlich geführt wird.

Durch diese Ausgangssituation werden die jeweiligen Argumente grundlegend unterschiedlicher Positionen zum Thema Sterbehilfe plakativ dargestellt: die von Professorin Litten, einer erfahrenen Juristin, die der Bundesärztekammer, vertreten durch Professor Sperling, und die der katholischen Kirche, repräsentiert durch Helmut Thiel, ein Mitglied der Deutschen Bischofskonferenz. Dabei wird nicht nur die Frage geklärt, wie die verschiedenen Akteur:innen zur Frage nach Sterbehilfe stehen, sondern auch auf eine noch weitreichendere Frage eingegangen, die Philosoph:innen seit Jahrhunderten beschäftigt: Wem gehört unser Leben? Dem Staat, Gott oder doch uns selbst? Die Sachverständigen sind sich in diesem Punkt, der die Grundlage ihrer Positionen zum Thema Sterbehilfe bildet, uneinig.

Filmische Darstellung

Film-Info

GOTT von Ferdinand von Schirach
Deutschland 2020
Regisseur: Lars Kraume
Drehbuch: Ferdinand von Schirach
Kamera: Frank Griebe
Besetzung: Barbara Auer, Lars Eidinger, Matthias Habich, Ulrich Matthes, Anna Maria Mühe, Christiane Paul, Götz Schubert, Ina Weisse

 
 
Aus dem Drama machte die ARD 2020 ein TV-Event. Die gleichnamige Verfilmung passt sich Schirachs schnörkellosem Stil an: Dank eines einfachen Settings können sich die Zuschauer:innen voll und ganz auf den Inhalt der Debatte fokussieren. Dabei folgt das Drehbuch zu einem großen Teil dem Text des Theaterstücks und auch die Akteur:innen des Films sind dieselben. Einige mit Bedacht gewählte Stilmittel schaffen dennoch die Botschaft, die auch schon aus dem Text hervorgeht, zu unterstreichen. Zunächst einmal die Emotionalität der Figuren: Richard Gärtner spricht den Tränen nahe von seiner verstorbenen Frau, sein Gesicht ist grau und von Falten gezeichnet. Die Zuschauer:innen erkennen sofort: Dieser Mensch hat seine Lebenslust verloren. Dennoch wird klar: Gärtner ist nicht geistig verwirrt oder psychisch krank. Er spricht deutlich und macht seinen Standpunkt eindeutig. So bricht Schirach mit dem Vorurteil, dass jeder Mensch, der Suizid begehen möchte, physisch oder psychisch krank sein muss.

Dieses Vorurteil stellt Schirach auch mithilfe der Zwischenrufe dar, die aus dem Publikum des Ethikrats ertönen, als Gärtner seinen Sterbewunsch äußert: »Das ist doch krank«, »Der Mann hat Depressionen«. Diese verstummen jedoch sofort, nachdem klar wird, dass keine psychische Erkrankung diagnostiziert werden konnte. So nutzt Schirach das Publikum plakativ, um den gesellschaftlichen Diskurs ums Thema Sterbehilfe darzustellen.  Auch die anderen Akteur:innen zeigen ein hohes Maß an Emotionalität und so wird deutlich, dass die Debatte häufig zu erhitzt ist, um sich ein objektives Bild  machen zu können. Wie auch schon im Dramatext wird ein hohes Tempo aufgebaut, was dazu führt, dass die Zuschauer:innen mitgerissen werden und sofort mitten in der Handlung stehen. So wird man geradezu gezwungen, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen und Schirach schafft, dass das Zusehen sogar Spaß macht.

Das Recht zu sterben

Die rechtliche Situation zum Thema Sterbehilfe in Deutschland ist unübersichtlich und scheint in einigen Punkten unsinnig. Ein Beispiel: Der assistierte Suizid ist zwar erlaubt, das heißt, das Instrument zur Selbsttötung darf von Dritten bereitgestellt werden. Allerdings müssen die assistierenden Personen Hilfe leisten, sobald die Selbsttötung begangen wird, ansonsten ist eine Anklage wegen unterlassener Hilfeleistung möglich. Diese Widersprüchlichkeit wird auch in GOTT thematisiert, ausgeführt durch die Juristin Litten.

Seit dem 26. Februar 2020 hat sich die Rechtslage verändert. Auch Ärzt:innen dürfen nun Assistenz zum Suizid leisten, das heißt, sie dürfen ein Mittel bereitstellen, welches ihre Patient:innen nutzen können, um eine Selbsttötung vorzunehmen. Unterschiede gibt es in der Definition von Assistenz zum Suizid, Behandlungsabbruch, passiver und aktiver Sterbehilfe. Dabei scheint es teilweise willkürlich, was als aktive Handlung definiert wird und was als passive. Ist das Abschalten eines Geräts nicht auch schon eine aktive Handlung? Weshalb sollte man einen Unterschied zwischen dem Umlegen eines Schalters und der Verabreichung einer Spritze machen? Auch diese Fragen wirft Schirach in GOTT auf und stellt zahlreiche unterschiedliche Positionen zu dem Thema dar.

Denn so leicht, wie es auf den ersten Blick scheint, ist es ethisch gar nicht. So würden wahrscheinlich zwar die meisten Menschen der Aussage zustimmen, dass ein Mensch die Möglichkeit haben sollte, von dem mit schwerer Krankheit verbundenen Leid befreit zu werden. Allerdings wirft diese Annahme zahlreiche Folgefragen auf, mit denen sich Schirachs Drama ausführlich auseinandersetzt. Darf ein Arzt das Verabreichen einer Todesspritze als Leistung anbieten oder muss solch eine Handlung eine seltene Ausnahme bleiben? Würde das Anbieten solcher Leistungen nicht dazu führen, dass der Druck auf ältere Menschen wächst, einen solchen Ausweg zu wählen, um nicht zur Last für ihre Familie zu werden? Und was passiert, wenn Menschen nicht mehr in der Lage sind, selbst zu artikulieren, ob sie ihr Leben beenden wollen? Dies führt zu einer weiteren Frage, die die Debatte des Dramas bestimmt.

Der Wert des Lebens

Welches Leben definieren wir als lebenswert? Diese Frage trifft einen höchst sensiblen Teil der deutschen Geschichte. Vor dem Ethikrat wird argumentiert, dass die Diskussion über den Wert von Leben in Deutschland bereits einmal statt fand – und zwar im Nationalsozialismus. Laut Dr. Keller, wäre eine Debatte über die Frage, welches Leben noch lebenswert sei, ein Tabubruch, der fatale Folgen nach sich ziehen könnte.

Doch wer soll entscheiden, welches Leben lebenswert ist, wenn nicht das Individuum selbst? Dr. Keller möchte die Menschen davor schützen, dass externer Druck auf sie ausgeübt wird, Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen. Laut ihr kann und darf die Entscheidung über den Tod nur von der Natur getroffen werden. Aus dieser Argumentation folgt, dass der einzige Weg sicherzustellen, dass die Definition eines lebenswerten Lebens nicht für menschenverachtende Ideologien missbraucht wird, der natürliche Tod ist. Diese Position wird von Thiel, dem Vertreter der katholischen Kirche, unterstützt. Gehört unser Leben also Gott?

Gott

In Deutschland bezeichnen sich zwischen 50 und 60 Prozent der Menschen als Christ:innen. Die Kirche prägt unsere Werte also zweifelsohne, auch was das Thema der Sterbehilfe angeht. Der Vertreter der katholischen Kirche bezeichnet Suizid in Schirachs Drama als Sünde, denn durch die Selbsttötung zeige man nicht ausreichend Demut gegenüber dem von Gott geschenkten Leben. So solle man den natürlichen Tod abwarten, um frei von Sünde zu sterben. In Anbetracht der Fortschritte moderner Medizin scheint die Konzeption eines »natürlichen Todes« geradezu bizarr. Denn längst leben Menschen durch Medikamente, Beatmungsgeräte und neue Therapieansätze weitaus länger als noch vor 100 Jahren. So scheint es fraglich, ob es einen natürlichen Tod in unserer Zeit überhaupt noch gibt.

Schirach schafft es, die Widersprüchlichkeit in der Argumentation, die die katholische Kirche zum Thema Sterbehilfe vertritt, darzustellen, ohne voreingenommen darüber zu urteilen. So können die Leser:innen verschiedene Perspektiven einnehmen und sich eine eigene Meinung bilden. Denn nicht nur Thiel wird einer harten Befragung unterzogen. Auch die anderen Sachverständigen müssen sich für ihre Standpunkte rechtfertigen und die Problematik dieser wird ebenfalls offengelegt.

Konflikt des Liberalismus

Dabei zeigt sich das Problem um die Sterbehilfe auch als ein ideologisches: Freiheit und Selbstbestimmung stehen seit der Aufklärung hoch im Kurs. Bei der Frage nach Selbstbestimmung des Todes kommen unsere liberalen Wertvorstellungen jedoch an ihre Grenzen. Denn der Liberalismus liefert zwar Antworten darauf, wie man frei und selbstbestimmt leben kann, doch das freie Sterben steht dabei mit einigen seiner Grundannahmen im Kontrast: der Vorstellung, dass Menschen frei leben wollen, Lebenslust haben und dieses Streben nach einem freien Leben lediglich durch Unterdrückung abgeschwächt werden kann. Der freigewählte Tod bringt das Konzept durcheinander, vor allem, wenn es nicht um den Suizid schwerkranker Menschen geht, die sich von ihrem Leiden befreien wollen, sondern um kerngesunde Menschen, die schlicht ihre Lust am Leben verloren haben.

Würde man die Werte des Liberalismus konsequent anwenden, würde das auch bedeuten: Jede:r hat das Recht zu sterben, wann und wie er:sie möchte. Doch dies wirft einen Konflikt auf. Der Lebenszwang, den die Strafbarkeit von Sterbehilfe impliziert, widerspricht dem Grundkonzept, auf dem unsere individualistische Gesellschaft aufgebaut ist. Dennoch wird dieser Konflikt häufig vergessen, wenn wir über das Eingreifen des Staats in unsere Selbstbestimmungsrechte sprechen. Woran liegt das? Sind unsere Werte nur liberal, wenn damit auch das Erbringen eines Mehrwerts für den Kapitalismus verbunden ist? Denn salopp gesagt: Wer tot ist, kann nichts zu unserem Wohlstand beitragen. Oder ist der Gedanke an einen frei gewählten Tod unserer menschlichen Natur so zuwider, dass selbst Menschen, die ansonsten für Selbstbestimmung und Freiheit eintreten, kein Verständnis für die Perspektive eines Menschen mit Sterbewunsch einzunehmen?  Ferdinand von Schirach traut sich somit, eine Frage zu stellen, die auch heute noch ein Tabu darstellt.

Anregender Stil

Schirach lässt die Leser:innen mit einer Vielzahl offener Fragen zurück und schafft es so, dass auch nach dem Lesen oder Sehen des Dramas eine intensive Beschäftigung mit dem Thema stattfinden kann. Er bringt ein bedrückendes Thema brillant auf den Punkt und macht es so zugänglich für jede:n. An das Drama sind drei Essays von Expert:innen angehängt, die jeweils unterschiedliche Ansätze verfolgen. Durch das vorangegangene Drama wird der Zugang zu den Texten erleichtert, da die Positionen der verschiedenen Figuren des Dramas durchaus in den Essays der Expert:innen wiederzufinden sind. Durch die Form des Theaterstücks baut Schirach ein hohes Tempo auf und hält dieses bis zum Ende aufrecht, sodass die Handlung keine Sekunde langweilig erscheint. Die hitzigen Dialoge der Akteur:innen reißen die Leser:innen mit und dennoch schafft Schirach es mithilfe seines schlichten Stils, zu pointieren, ohne die Objektivität zu verlieren.

Bleibt die Entscheidung im Drama offen und wird durch den Einsatz von drei Punkten als Leerstelle markiert, nutzte der Film die Möglichkeiten des Fernsehens, um eine zu treffen: Wie auch schon bei der Verfilmung von Terror war es während der Ausstrahlung für das Publikum möglich, live über das Urteil des Gerichts abzustimmen. 70,8 Prozent stimmten dafür, dass die Verabreichung der tödlichen Medikamente ethisch richtig sei. Überwiegt am Ende also doch die Vorstellung liberaler Selbstbestimmungsideal oder haben die Zuschauer:innen einfach nur Mitleid mit den leidenden Menschen, beziehungsweise mit denen, für die das Leben keinen Reiz mehr bietet? Dies ist eine Frage, die ungeklärt bleibt.



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 Veröffentlicht am 16. April 2021
 Kategorie: Misc.
 Bild: ARD Degeto/Moovie GmbH/Julia Terjung
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