Ein Protestant, ein Katholik und ein Moslem treffen sich im Literaturhaus und diskutieren den Pluralismus der Wahrheit. Auch ein halbes Jahrtausend nach seinem Thesenanschlag in Wittenberg hätte Martin Luther dieses Szenario wohl noch für einen Scherz gehalten.
Unter dem Titel »Der etwas andere Luther-Abend« lud das Literarische Zentrum Göttingen am 15.05.2017 den Historiker, Journalisten (und Katholiken) Tillmann Bendikowski sowie den Schriftsteller, bildenden Künstler (und Moslem) Feridun Zaimoglu zu Lesung und Gespräch. Moderiert vom evangelisch-lutherischen Theologen Daniel Mourkojannis gelang eine Diskussion jenseits des vermeintlich idealisierten Wohnzimmer-Luthers.
Von Imme Bageritz
Von Luther-Müdigkeit ist im Mai des Reformationsjahres 2017 noch keine Spur zu erkennen. Bereits zu Einlassbeginn steht das Göttinger Publikum treppauf zum Literarischen Zentrum Schlange und fast bis auf den letzten Platz ist der Saal schließlich besetzt.
Der Fall und seine FolgenDie drei Akteure des Abends, die ungeachtet ihrer Konfession als Historiker, Theologe und Schriftsteller eingeladen wurden, stehen bereit und auch ihre Rollen in dieser Dreierkonstellation werden gleich zu Beginn des Abends geklärt: Mit Feridun Zaimoglus Luther-Roman Evangelio (KiWi 2017) eröffnet sich mit einer fiktiven Nacherzählung von Luthers Aufenthalt auf der Wartburg eine konkrete Situation der Reformationsbewegung. Historische und kontextuelle Einordnung verspricht Historiker Tillmann Bendikowski, der in seinem Werk Der deutsche Glaubenskrieg: Martin Luther, der Papst und die Folgen (Bertelsmann 2016) eine bestehende Unversöhnlichkeit zwischen den Konfessionen ausmacht. Als Beauftragter der Nordkirche des Reformationsjahres moderiert und resümiert Daniel Mourkojannis und bringt nicht zuletzt auch seine theologische Perspektive mit ins Gespräch ein.
Feuer und WortgewaltAuf Mourkojannis Frage nach seiner Motivation, den Roman zu verfassen, beteuert Zaimoglu, im Moment der ersten Idee zu Evangelio nichts vom Luther-Jubiläum 2017 gewusst zu haben. Das sorgt für Schmunzeln im Publikum. Dass er hinzufügt, bereits in jungen Jahren von der Lutherbibel und der Gewaltigkeit ihrer Worte und Sprachmacht fasziniert gewesen zu sein, unterstützt jedoch seine Glaubwürdigkeit.
Wiederholt fallen im Gespräch Begriffe, die um das Motiv des Feuers kreisen. Es geht um den Glutkern der Reformation, um Funken und Zunder und immer wieder um das Glühen für die Sprache. Diese »glühenden, glimmenden Worte«, so Zaimoglu, haben ihn von Beginn an für den Luther-Stoff begeistert. »Ich geh ab, wenn ich die Bibel lese!« – ein Ausruf, der besonders Luthers literarische Übersetzungskunst feiert. »Schon bestimmt 50-mal« habe Zaimoglu die Lutherbibel bereits gelesen und sich im Schatten der Wartburg zu Eisenach schließlich gefragt, wie dieser so viele Jahrhunderte zuvor zu seiner Übersetzungsaufgabe und zu seinen Worten gefunden habe. Mehrfach betont er, dass sich auch für Luther alles am Wort entzündete.
Das Thema der Wortwahl ist an diesem Abend nicht nur in Luthers und Zaimoglus Text zentral, sondern wirkt hinein bis in vermeintlich neutrale Begrifflichkeiten der Reformation. So stellt der Historiker Tillmann Bendikowski heraus, dass die Protestantische Seite angesichts der sich jährenden Reformation von »Jubiläum«, die Katholische Seite jedoch von »Gedenken« spricht. Wortnuancen, die klar unterschiedliche Konnotation tragen.
Ähnlich wie Zaimoglu zeigte auch Bendikowski schon vor seinem Werk Der deutsche Glaubenskrieg Interesse am Reformations- und Konfessionsthema. Als konkreter Anlass galt ihm seine Magisterarbeit über Kinder aus konfessionellen Mischehen im 19. und 20. Jahrhundert. »Es geht mir nicht darum nur zu betrachten, was die Reformation für die Kirche bedeutet hat, sondern was sie bis heute für den Alltag der Menschen bedeutet.« Im Publikum wird zustimmend genickt, als teile man das Wissen über diesen Einfluss. Ausschnitthaft berichtet Bendikowski von konfessionellen Spaltungen einzelner Siedlungen, religiös motivierten Schikanierungen in den Schulen und vom anfänglichen absoluten Unverständnis der beiden großen christlichen Konfessionen Deutschlands füreinander.
Angesichts aktueller religiöser Konflikte betont er die Wichtigkeit, diese alten Auseinandersetzungen nicht zu vergessen, möglicherweise aus ihnen zu lernen. Einer der wenigen Momente an diesem Abend, in denen der ansonsten im Gespräch oft überspitzt argumentierende Historiker nachdenklichere Töne anstimmt.
Die richtigen Worte zu finden habe auch Zaimoglu bis zuletzt umgetrieben. Genau wie Luther »dem Volk aufs Maul« schaute, hat Zaimoglu die Sprache seines Romans mit Mundart und Färbungen des 16. Jahrhunderts getränkt. Auf der Wartburg lässt er so den fiktiven Landsknecht Burkhard aus der Ich-Perspektive Luthers Ringen mit der Gefangenschaft, dem Teufel und der Übersetzung des Neuen Testaments schildern. Immer wieder eingeflochtene Briefe von Luther an Melanchton bilden den übrigen Teil des Romans. Luther sollte nicht wie ein Universalheiliger auf einem Sockel erscheinen, gerade deshalb sei Zaimoglu die Mundart in seinem Text so wichtig.
Seiner Lesung schickt der Autor dennoch eine Warnung voraus: »Sie müssen ganz tapfer sein«, sagt er, während er langsam eine dunkel umrandete Brille aufsetzt und die ersten Seiten von Evangelio aufschlägt. Er habe keine zimperliche Sprache verwendet. Derb und düster musste sie sein. »Ich präsentiere Ihnen kein nettes Kräuter-Männlein, keinen Wohnzimmer-Luther. Ich entführe Sie ins dunkle, dunkle, teutsche Spätmittelalter.«
Als er zu lesen beginnt, scheint auch seine Stimme eine Spur dunkler. Er liest den Anfang seines Textes, der in medias res beginnt. Anno 1521, direkt hineingeworfen in die Gedankenrede des Landsknechts Burkhard, dessen Worte derb und grobschlächtig nachhallen. Zaimoglu ist ein virtuoser Vorleser seines eigenen Textes. Seit seinem Erscheinen vor zweieinhalb Monaten hat er ihn bereits 40-mal im Rahmen verschiedener Lesungen vorgestellt. Er schmeckt jedes Wort, kostet die Klänge seiner Silben völlig aus. Mit der rechten Hand dirigiert er sein Sprechen unablässig aber gemächlich im ¾ Takt, in der linken hält er mit ungleicher Ruhe sein Wasserglas. Draußen dämmert es zunehmend.
Gebannt lauscht das Publikum seiner rauchigen Hörbuch-Stimme. Hört mit an, wie sein Landsknecht-Ich-Erzähler Luther hinter dessen Rücken einen Ketzer und vis-a-vis seinen Meister nennt. Der Landsknecht, dazu berufen, diesenen ketzerischen Meister zu schützen, obwohl er selbst dem katholischen Glauben anhängt, verkörpert in Evangelio das, was Bendikowski im Glaubenskrieg den alleinigen Anspruch auf Wahrheit nennt.
Den versöhnlichen Vermerk des Moderators Mourkojannis, dass dieser Wahrheits-Anspruch heute der Kooperation von Protestanten und Katholiken , der erfolgreichen ökumenischen Bewegung und damit auch einer gleichberechtigten Existenz mehrerer Wahrheiten gewichen sei, schmettert Bendikowski mit Verweis auf den Vatikan zwar mit einem Augenzwinkern, aber dennoch fast schon polemisch ab. Die Wahrheitsansprüche würden stattdessen mit zunehmender Säkularisierung aus der Kirche herausgetragen und in Form anderer dogmatischer Verhaltensweisen in kulturellen und individuellen Kleinkriegen ausgefochten. Kriege blieben es dennoch.
Widerspruch kommt jedoch an dieser Stelle auch aus dem Publikum. Anhand mehrerer Beispiele schildert ein Besucher Varianten, in denen Katholiken und Protestanten gemeinsam und kooperativ ihre Gemeindearbeit bestreiten. Neben den Lesepassagen Zaimoglus und Bendikowskis ein weiterer Beitrag, der an diesem Abend Zwischenapplaus erhält. Zumindest diese Geste lässt auf eine Abkehr von der Kultur des religiös Unversöhnlichen hoffen. In ihr ließe sich nicht zuletzt auch eine politische Aktualität des Abends lesen, um die thematisch zuvor lediglich herumgetänzelt wurde. Es ist schließlich wieder Zaimoglu, der hierfür treffende Worte findet: »Es muss schon etwas dran gewesen sein an diesem Luther, wenn er bis heute nachhallt.«
Vor Ort beläuft sich der Nachhall des »etwas anderen Luther-Abends« auf eine Signier(viertel)stunde der beiden Autoren und einen seichten Ausklang. Genügend Themenimpulse für die Heimwegs-Diskussion geliefert hat er aber allemal.