Berit Glanz᾽ Debütroman Pixeltänzer sticht durch seine komplexe Machart hervor, die über das Medium Buch hinausgeht. Die Protagonistin Beta verliert sich in einer Spurensuche zwischen Quelltext und Wikipedia-Artikeln. Was sie findet, lässt sie nicht mehr los, Beta will ausbrechen.
Von Lisa Marie Müller
Digitale Anreize ermöglichen analoge Erfahrungen. Online-Rezensionen wie diese stiften zum Beispiel zur Offline-Lektüre an. So sind viele auf den Debütroman von Berit Glanz über ihren sehr empfehlenswerten Twitteraccount aufmerksam geworden. Im Fokus von Pixeltänzer steht die Protagonistin Beta aus der Start-Up Szene Berlins. Sie fotografiert gern Vögel, Insekten und Echsen, die sie anschließend originalgetreu von ihrem 3D-Drucker aus weißem Plastik nachbauen lässt. Dieses Hobby bietet einen doppelten Transfer von analog zu digital und zurück ins Analoge. Ihr Milieu besteht aus gut bezahlten Millenials, die in Teams an unterschiedlichen Projekten auf immer neue Deadlines hinarbeiten.
Wie es ihr soziales Umfeld nahelegt, ist Beta innovationsbegeistert: Sie nutzt Dawntastic, eine neuartige Weck-App. Die App beruht auf dem Prinzip, von einem*r zufällig ausgewählten Anrufer*in geweckt zu werden. Einer dieser Anrufer*innen ist ein User mit dem Pseudonym Toboggan, der eine eigentümliche Maske als Profilbild hat. Nach drei Minuten wird das Gespräch unterbrochen und es gibt keine Möglichkeit, über die App erneut Kontakt zu ihm aufzunehmen. Aber Beta möchte mehr über die Masken erfahren und erstellt eine Website, um Toboggan zu kontaktieren. Der geht darauf ein und meldet sich, indem er eine Reihe von digitalen Rätseln auf derselben Website versteckt. Hinter jedem Rätsel wartet ein Teil der historischen Nacherzählung von Lavinia Schulz und ihrem Mann Walter Holdt. Schulz versucht mit bürgerlichen Konventionen des Theaters in den Zwanzigerjahren zu brechen. Sie entwickelt expressionistische Ganzkörpermasken und dazugehörige Tänze, die ein neues Kunstverständnis ausdrücken. Zwei der Masken tragen denselben Titel wie der Anrufer Toboggan. Parallel zu Betas Alltag entfaltet sich Schulz‘ Geschichte, die Beta zusehends fasziniert.
Was ist heute noch unerwartet?Lavinia Schulz’ Versuch, etwas radikal Neues zu entwickeln, das kommerziell zu keinerlei Erfolg führt, beeindruckt Beta. Die Geschichte um Lavinia Schulz endet in existenzieller Not und tödlichem Scheitern ihrer Ideen. Beta startet einen eigenen Ausbruchversuch, allerdings aus einer sehr viel privilegierteren Position heraus:
Manchmal frage ich mich, ob mein Problem ist, dass ich nach etwas suche, was es nicht gibt für mich. Wie vermessen, dass ich etwas Unerwartetes tun will. Was sagt das aus über meine Langeweile? Sollte ich mich schämen, weil andere niemals die Chance bekommen, sich so zu langweilen wie ich?
Zusammen mit ihrer Kollegin Lea und ihrem besten Freund Johannes stellt sich Beta die Frage, was in der heutigen Zeit etwas wirklich Unerwartetes wäre. Sie beschließen, bei einem Wettbewerb mitzumachen, eine Woche im Techbus mitzufahren und die Jury im anschließenden Pitch zu überraschen, indem sie etwas Unverkäufliches präsentieren. Sie entwickeln eine Spiele-App, die sich an »Fliegenfreunde« richtet. Doch ist es überhaupt möglich, die gängige Kommerzialisierung zu unterlaufen?
Die Verschmelzung von Analogem und DigitalemIn Pixeltänzer greifen die Erzählebenen von Rahmen- und Binnengeschichte auf spannende Weise ineinander: Beispielsweise bemerkt Beta ein Ausrufezeichen unter ihrem ersten Blogeintrag für Toboggan. Sie weiß nicht, was es damit auf sich hat und erst nach intensiver Beschäftigung mit dem Zeichen fällt Beta auf, dass es eher rundlich ist und deshalb nicht die serifenlose Schriftart sein kann, die sie ursprünglich eingestellt hat. Beim Suchen nach einer Erklärung dafür, stößt sie auf einen im Qellcode ihrer Website versteckten Text. Er erzählt von der Kindheit Lavinias in Lübben, einem Ort, den sie als beengt wahrgenommen hat. Beta fährt daraufhin für einen Wochenendausflug nach Lübben, um Lavinias Eindrücke nachempfinden zu können. Statt der erhofften Erkenntnisse etabliert Beta #lazylübben als Hashtag und fragt sich später, ob analoge Orte überhaupt noch Vorteile gegenüber einer Wikipedia-Recherche aufweisen. Die Erzählebenen verbinden sich zwischen digitalen Hashtags und analogen
Die Masken, die Tänze – eine eingehendere Beschäftigung damit lohnt sich. Es ist fesselnd, in die Biographie von Lavinia Schulz einzutauchen und eine kritische Protagonistin bei demselben Vorhaben zu beobachten. Sie gibt ihrem Impuls des Überprüfens nach und sucht immer wieder nach Quellen zur Verifikation der Erzählungen Toboggans. Die Rätselaufgaben von Toboggan können nicht nur im Buch nachverfolgt werden. Die Autorin hat eine weitere Rezeptionsebene hinzugefügt, indem sie Betas’ Website tatsächlich ins Netz gestellt hat. Die angegebenen URLs im Buch sind nutzbar.
Es ist ein ständiges Wechselspiel von Analogem und Digitalem, das sich bereichernd auf die Geschichte auswirkt. Glanz beweist einen mehr als kompetenten Umgang mit unterschiedlichen Medien. Deshalb sei dem*der Leser*in geraten, das Buch an einem Ort mit gutem Internetempfang zu lesen. Die Protagonistin begreift die Auswirkungen fortschreitender Digitalisierung, besonders die damit einhergehende technische Überwachung im Laufe des Romans immer mehr. Zwischen Urlaub und Arbeit zählen Beta und ihre Kolleg*innen halbironisch die Sicherheitskameras an touristischen Orten. Im Ruheraum ihres Großraumbüros überwacht ein Roboterfisch mit Kamera die Ausruhzeiten der Angestellten. Arbeits- und Privatleben sind eins geworden und Privatheit ist ein Privileg, das nur noch durch Tricks erhalten werden kann. Mit dieser Erinnerung an George Orwells 1984 reiht sich der außergewöhnliche Roman in die Reihe der Gegenwartsliteratur mit dystopischen Elementen ein.
Als im Jahr 1984 gleichnamiger Roman von der Realität
überholt schien war man visionär weit von den Möglichkeiten
der Digitalisierung entfernt , wie sie die Netze – und -Werke
heute als möglich ( unabdingbar ? ) erscheinen lassen.
So hinterlässt diese differenzierte und spannungsstiftende
Rezension mit großer Neugier auf die „ tanzenden Pixel „
oder schreckt ( wie in meinem Fall ) fast schon ab , mit
der abermaligen Befürchtung , ( wie schon 1983, als ich
Orwells diktatorische Vision las) , das Potential der
Digitalisierung könne statt dem Wohle der Menschheit
ihrer vollständigen Kontrolle und Repression dienen.
Aber warscheinlich ist alles nur der „ große Krieg „
gegen die Pandemie des Jetzt ~Langeweile ?