Ein schwedischer Bestseller, der kein Krimi ist, sondern die Geschichte einer chaotischen Flucht aus einem Altersheim erzählt: In Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand verschränkt Jonas Jonasson historische Ereignisse mit dem letzten großen Abenteuer eines sehr alten Mannes.
Von Lisa Buhne
Ein Schwede, der einen Bestselleroman schreibt, überrascht die Literaturwelt nicht wirklich. Irgendetwas müssen sie haben, diese Schweden. Meistens einen brutalen Mord, Flucht und Ermittler. Bei Jonas Jonasson beginnt die Geschichte der Flucht jedoch nicht nach einem Mord, sondern vor einer Geburtstagsfeier, deren Hauptperson beschließt, nicht daran teilzunehmen.
Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand erzählt die Lebensgeschichte des ehemaligen Sprengstoffexperten Allan Karlsson, der keine Lust auf seine Geburtstagsfeier im Altenheim samt Bürgermeister, Presse und den anderen Greisen hat und beschließt, aus seinem Zimmerfenster im Erdgeschoss zu steigen. So beginnt die Flucht eines hundert Jahre alten Mannes in einem Stiefmütterchen-Beet, der keinen Plan und aufgrund dessen auch kein konkretes Ziel hat, was ihm nicht zuletzt dadurch bewusst wird, dass er vergessen hat, sich Schuhe anzuziehen. In Pantoffeln macht er sich also an seinem Ehrentag auf den Weg zum nächstgelegenen Bahnhof. Dort fasst er nicht nur den Entschluss mit dem Bus an einen beliebigen Ort weiter zu fahren, sondern auch gleich den fremden Koffer mit Rollen, auf den er eigentlich nur kurz aufpassen sollte, mitzunehmen, in der Hoffnung, Wechselkleidung und Schuhe darin zu finden.
Der Bus fährt samt Allan und dem Koffer davon, sodass ihn innerhalb kürzester Zeit nicht nur die Polizei und das Altersheim suchen, sondern auch der eigentliche Besitzer des Koffers: die schwedische Mafia. Der nichtsahnende Allan zieht mitsamt dem mit 50 Millionen schwedischen Kronen gefüllten Koffer in seinem Fluchtfahrzeug, einem gewöhnlichen Reisebus, davon. Sogar als er bemerkt, dass sich statt Schuhe mehrere Millionen in dem Gepäckstück befinden, zeigt der Greis keine Reue und weder die Rückgabe des Geldes noch die Rückkehr ins Altenheim stehen zur Debatte. Stattdessen begibt sich der Hundertjährige auf eine chaotische und amüsante Flucht, auf der er durch Zufälle Gleichgesinnte findet.
So erweist sich zum Beispiel der siebzigjährige Julius als Gelegenheitsdieb, der Allan dabei behilflich ist, den vorher durch ein Missgeschick verunglückten Kofferbesitzer verschwinden zu lassen. Der reiche Imbissbudenbesitzer Benny wird nach einem Fluchtfahrzeugwechsel zum Chauffeur der beiden und auch die Besitzerin eines ihr zufällig zugelaufenen Elefanten namens Sonja schließt sich den Dreien an, sodass nachher vier Erwachsene und ein Elefant vor der schwedischen Polizei und der schwedischen Mafia flüchten. Eine abenteuerliche Reise beginnt, die den Hundertjährigen und seine Freunde nicht nur durch halb Schweden führt, sondern ebenfalls durch die letzten 100 Jahre seines Lebens.
Akteur von historischen EreignissenParallel zur Flucht erzählt Allan von seiner ereignisreichen Lebensgeschichte, in der er, obwohl er sich überhaupt nicht für Politik interessiert, die historischen Weltgeschehnisse stark beeinflusst hat. So machte er Bekanntschaft mit Truman, Mao, Stalin und Charles de Gaulle, half sowohl den Amerikanern als auch den Russen beim Bau der Atombombe, überquerte den Himalaya und sprengte mit Hilfe von Albert Einsteins Bruder Herbert aus Versehen ein russisches Arbeitslager in die Luft.
Seine Bilanz: In einem Punkt, so stellt Allan fest, unterscheiden sich die Staatsmänner alle nicht: wichtige Entscheidungen werden, egal in welcher Nation oder in welchen kulturellen Kreisen, immer beim Essen und Schnapstrinken getroffen. Mit dieser nüchternen Art und seinem Leitsatz »Es ist, wie es ist, und es kommt, wie es kommt« wird der Hundertjährige, der trotz seines Alters fit im Kopf ist und dessen Körper sich weigert ins Jenseits überzusiedeln, zum Strategen der harmonischen Gruppe, die sich nicht einmal wegen der Verteilung des Geldes streitet. Die Geschichte endet so wie sie angefangen hat: Allan Karlsson macht sich auf den Weg in ein neues Abenteuer und wird zum Akteur der historischen Ereignisse ohne dabei einen Plan zu verfolgen. »Es ist, wie es ist, und es kommt, wie es kommt.«
Jonasson vollbringt es, die zunächst parallel laufenden Handlungsstränge (die Flucht und die Rückblende auf sein Leben) gekonnt zu verknüpfen, ohne dabei den Überblick zu verlieren und das Erzählen langweilig zu gestalten. Keine Aneinanderreihung von Erlebnissen, sondern ein wahres Miterleben von Ereignissen. Der Leser hat dank der pointierten Ironie und der unterhaltenden Erzählweise die ganze Zeit ein Lächeln im Gesicht. Die Kreativität des Schweden scheint dabei grenzenlos zu sein, da sowohl die Charaktere als auch der Verlauf der Flucht mehr als abenteuerlich, kurios und witzig beschrieben werden. Dem ehemaligen schwedischen Journalisten ist es gelungen, einen Unterhaltungsroman mit kriminalistischen Elementen ohne Brutalität und Gewaltexzesse, dafür mit viel Humor zu verfassen.
Wer einen tiefgründigen Roman mit vielschichtigen, geheimnisvollen Charakteren lesen möchte, der wird in Jonassons Roman keine Erfüllung finden. Wer jedoch Lust auf den Fluchtversuch eines humorvollen Greises hat, der manchmal mehr Glück als Verstand hat und der trotz seines Alters noch wahre Lebensfreude besitzt, der wird Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand verschlingen, etwas über die Leichtigkeit des Lebens lernen und merken wie wenig planbar das Leben ist.