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Sprachpraline
0,0340:1

Wenn friedrich achleitner in seinem wortgesindel nicht sokratisch dialogisiert, dann monologisiert er hamletös, yorick’sche Köpfe jonglierend. Ein Buch gewordenes Sprachklischee, versehen mit dem Charme einer Schwitterschen Banalitätensammlung und verpackt zu einer Schachtel schmackhafter Sprachpralinen. Philip Flacke hat sie probiert.

Von Philip Flacke

Wie erquicklich wär’s, einmal eine Rezension zu friedrich achleitner zu lesen, die nicht mit seinen (konkret konstellierenden, literar-cabaretisierenden, dialektal poetisierenden) Anfängen bei der Wiener Gruppe beginnt – na, vielleicht ein andermal. Einige andere Gemeinplätze, die in einer achleitner-Rezension nicht fehlen dürfen, im All-Inclusive-Paket:

Witz,
Kleinschreibung,
Prosaminiaturen,
Mundart,
Sprache,
Architekturkritiker.

Und die sind im Feuilleton der letzten Monate rauf und runter zu bereisen gewesen, denn im Zsolnay-Verlag ist jetzt (dieses ›jetzt‹ erläutert f.a. auf S. 39) das vierte Bändchen mit achleitner’schen Sprachpralinen erschienen. (Die anderen drei von 2003, 2006 und 2009 sind genauso gut – nur, das Cover wird mit jedem hübscher.)

Verhältnisse klären

wortgesindel hat 112 Seiten – ganz egal, ob Sie es von vorne nach hinten oder von hinten nach vorne lesen – und die meisten davon sind sogar bedruckt. Sie können es richtig herum oder verkehrt herum halten, ganz wie Sie mögen, und wenn Sie den Schutzumschlag um 180° drehen, können Sie sogar das Außen mit dem Innen in ein disparates Verhältnis bringen. Auf den 112 Buchseiten stehen hochgerechnet 18.788 Wörter und 101.644 Satzzeichen, Ziffern und Buchstaben (davon 155 großgeschrieben). Einige meiner Lieblingswörter sind
schnürlregen (S. 17),
ausfratscheln (S. 33),
sumperer (S. 37),
fladern (S. 44),
äußerln (S. 77).
Einer meiner liebsten Buchstaben ist das x, das 331 mal vorkommt, was immer sehr praktisch ist, weil es verkehrt herum genauso aussieht wie richtig herum und es keinen Unterschied macht, wie herum Sie das Buch halten.

Buch


Friedrich Achleitner
wortgesindel
Zsolany, Wien, 2015
112 Seiten, 16,90€

 
 
Geht man angesichts Schriftart und optischer Schriftgröße von einem durchschnittlichen Flächeninhalt von 1,07 mm2 pro Buchstabe, Ziffer oder Satzzeichen aus, dann kann man die gesamt bedruckte Fläche als ungefähr 109.177,41 mm2 bestimmen. Das ist etwa so groß wie das Cover einer LP-Schallplatte. (Malevichens Schwarzes Quadrat von 1915 ist mit 425.902,34 mm2 übrigens fast vier mal so viel schwarz.) Die 112 Buchseiten haben ein Format von 139 mm mal 213 mm. Somit lässt sich ohne Schwierigkeit das Verhältnis der bedruckten zur unbedruckten Fläche berechnen: Es beträgt 0,0340:1. Oder anders gesagt: Auf jede schwarze Fläche kommt etwa das Dreißigfache an Weiß. Wenn Sie jetzt das Buch kaufen, können Sie sowohl selbst einen Nachmittag damit zubringen, diese Angaben zu überprüfen (›fleißaufgabe‹, siehe S. 38), als auch damit, in den Baumarkt gehen, um sich bei den Wandfarben erklären zu lassen, dass die Seiten kein bisschen weiß sind, sondern eierschalen. Oder Sie lesen drin:

›nur so‹

vielleicht wurde das kirschenessen nur erfunden, damit man richtig streiten kann. ja, sonst würde man ja mit niemandem kirschen essen, könnte man dabei nicht streiten. warum, kann man beim äpfelessen nicht auch streiten? ich nicht, weil ich äpfel nicht mag. und man sagt auch nicht, mit dem möcht ich nicht äpfel essen. so ein blödsinn. das kann nur dir einfallen. äpfel? pfui teufel. da ess ich gleich kirschen und streite richtig.

Wenn Sokrates Wiener gewesen wäre, sähen so die platonischen Dialoge aus? Agathon, Aristophanes, Alkibiades & Co., die sich im Kaffeehaus über Schwechater und Frühaufsteher mokieren? (›Mutmaßlich‹ (siehe S. 42) hätte Sokrates aber nicht so viel Geschmack in Brillenmode gehabt wie achleitner.) Wer disputiert hier eigentlich mit wem?

Falls nicht sokratisch dialogisiert wird, dann wird hamletös monologisiert. (Wenn der erste Vergleich hinkt, läuft der zweite schon auf Händen.) Worüber denn? Der Werbetext weiß Antwort: »Friedrich Achleitner, der als Mitglied der legendären Wiener Gruppe [check✓] einst die Mythen der traditionellen Poesie in ihre Teile zerlegte, geht dem Sinn, dem Hintersinn, aber auch dem Unsinn der Wirklichkeit auf den Grund.« Das ist natürlich Schmarrn – achleitner geht dem Sinn und dem Unsinn von Sprache auf den Grund. ›Na ja‹ (siehe S. 50), zumindest hauptsächlich …

»reden wir miteinander? reden wir! bedeutend? oder nur so? nur so.« Er lohnt also doch, der Blick zur Wiener Gruppe – jenem Avantgarde-Stammtisch, der dem »arroganten Provinzialismus« (Gerhard Rühm) in Österreich mit Literaturexperimenten den Nachkriegstran verderben wollte. »diese bedeutenden dummköpfe, die durch die stadt getragen werden, die auf den podien sitzen, die uns mit bedeutenden mienen die welt deuten.« Denen begegnen die fünf Wiener mit Konkreter Poesie – mit einer Dichtung, die nichts mehr besingt als sich selbst; deren Spache kaum mehr aus Zeichen besteht, die auf etwas verweisen, sondern nur noch aus Material. (Die »semiologie, zu deutsch die semiotik« (S. 93), nennt das ›signifiant‹ ohne ›signifié‹, zu deutsch ›Signifikant‹ ohne ›Signifikat‹, Franz Mon (Pate für S. 74?) nennt das ›dies da‹ ohne ›sonst was‹.) »wozu braucht es das bedeutende, um sich um das unbedeutende zu kümmern? das sind die allerschlimmsten, die sich bedeutend vor das unbedeutende stellen. oder sich, noch ärger, bedeutend hinterm unbedeutenden verstecken.« Bei achleitner geht es um eine Art von Wirklichkeit – das ist: sprachliche Wirklichkeit. Er ist niemals ausgetreten aus der Wiener Gruppe. »das hast du schön gesagt. das war sicher sehr bedeutend.«

Die Tätigkeit des Schriftstellers

achleitner predigt nicht von Bastian Sick’schen Kanzeln (der wäre ohnehin in Österreich so gut aufgehoben wie ein Ernährungsberater im Hotel Sacher). Er teilt nicht aus wie Karl Kraus (siehe S. 58) (wer denn nun verantwortlich ist für »die ermordung kafkas/ anlässlich seines achtzigsten todestages« (S. 10) muss man schon »bei google nachschauen« (S. 16)). wortgesindel hat vielmehr den ganzen Charme einer Schwitters’schen Banalitätensammlung, fängt auch zu spielen an (jongliert quasi mit den Yorick-Köpfen Sprachklischees) und lacht dann am meisten beim Blick auf die eigenen Finger. Und Lesen macht Mit-Lachen, denn achleitner kann schreiben wie ein Engel. Bei ihm wohnen auch nicht so viele Vergleiche mit bemerkenswerter Gangart wie in diesem Absatz.

Dabei ist achleitners Feder spitz wie die Turmspitze vom Stephansdom: »diese ewigen spaziergänge in der immer gleichen innenwelt, diese bedeutsame genügsamkeit seiner selbst, jedes gasbläschen, das sich verirrt, fürsorglich zu begleiten, bis es seinen ausgang findet« (A Portrait of the Fartist?); »was kann ich gegen meinen furchtbaren husten tun? da gibt es nur ein einziges mittel: zyankali.« (›todsicher‹!); »dass hitler langschläfer war, muss man als einen webfehler, einen unfall der geschichte bezeichnen, wenn nicht überhaupt eine verhöhnung aller kulturen«.

Die Tätigkeit des Schriftstellers ist üblicherweise, eine kleine Fläche Schwarz auf einer großen Fläche Weiß zu verteilen und dann dafür Geld zu verlangen. Im Fall von wortgesindel ist dabei die schwarze Fläche sowohl relativ als auch absolut ziemlich klein. Dafür ist die Verteilung der schwarzen auf der weißen Fläche ›brutal gut‹ (S. 53) gelungen.



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 Autor*in:
 Veröffentlicht am 18. September 2015
 Kategorie: Belletristik
 Covos choclate Cafe-12 von Dana McMahan via Flickr
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