Die mehrfache Preisträgerin Marica Bodrožić beschäftigt sich in ihrer Essaysammlung Poetische Vernunft im Zeitalter gusseiserner Begriffe intensiv mit der Selbsterkenntnis. Doch in der Argumentation hapert es an einigen Stellen.
Von Mirjam Elisa Ritz
Die Autorin Marica Bodrožić ist bekannt für ihre Lyrik und ihre Kunst, mit Worten umzugehen. Sie ist Trägerin vieler Literaturpreise. Im Jahr 2017 hat sie zum Beispiel den Preis der Ricarda Huch Poetikdozentur für Gender erhalten. Als junge Erwachsene jedoch litt Marica Bodrožić ständig unter Ohnmachtsanfällen. Erst durch Selbsterkenntnis, so beteuert sie, endeten sie.
Im ersten Essay Frieden und Welt werden die Selbsterkenntnis und das Aussprechen der Wahrheit als das vorgestellt, was uns als Menschheit letztendlich in eine friedliche Welt führen könnte. Denn erst dadurch passten wir uns nicht länger an und hörten auf, uns negativer Erfahrungen wie Krieg mit aller Kraft zu verwehren. Im Zweiten, Älterwerden der Körper als Erzähler, wird uns erklärt, wieso auch die Akzeptanz des eigenen Todes eine Form der Selbsterkenntnis ist. Das Dritte Kunst, Freundschaft, Liebe – gewählte Familien, weist auf, wie uns unsere Freunde, unsere Familie und die Begegnungen mit anderen Menschen dabei unterstützten, uns selbst besser zu verstehen und zu erkennen. Im vierten Essay schließlich, In Bewegung – die erwachende Frau, wird beschrieben, dass bestimmte Ereignisse uns veranlassen, unsere Selbsterkenntnis zu suchen. Gelingen könne das, indem wir auf unser Inneres sehen und uns nicht länger für die Gesellschaft verbiegen. Dafür sei es sehr wichtig, dass wir ehrlich zu uns selbst sind und außerdem auf unsere Träume und unsere Körper achten, da sie uns Signale gäben, wenn wir uns verbögen.
Gefangen im Dschungel der MetaphernDie größte Schwäche der Essays sind die vielen aneinandergereihten Metaphern:
Die gusseisernen Begriffe unserer Zeit […] zerstören das Gleichgewicht der Wahrheit und schicken Störungsfrequenzen aus, die sich etwa dann zeigen, wenn beispielsweise immerfort von Gleichberechtigung oder Solidarität gesprochen wurde, ohne dass diese eingelöst wurden
so lautet beispielsweise eine Passage, die das Verständnis erschwert. Das Problem mit gusseisernen Begriffen ist in diesem Kontext die Tatsache der verschiedenen Ansichten der Gesellschaft, an die wir uns anpassten.
Hinter Bodrožićs Behauptung ist zwar vage zu erkennen, worauf die Autorin hinauswill. Aber sie erklärt nie, was die »gusseisernen Begriffe« und die »poetische Vernunft« genau sein sollen, obwohl beide Begriffe im Titel vorkommen. Aufgrund solcher und ähnlicher Beispiele gehen die eigentliche Aussage und ein Teil der Argumentation im Gewirr der Metaphern verloren – und mit ihr ein Teil an Glaubwürdigkeit, denn wie soll der Inhalt überzeugen, wenn nicht nachvollzogen werden kann, worum es eigentlich geht?
Schnell geht der Text in Mystisches und Esoterisches über, wobei nicht deutlich wird, ob und wie die Autorin dies auch meint – beispielsweise wenn sie schreibt: »Die seelische Geometrie der Sinne erlangt in jenem Augenblick ihre Wirksamkeit, in dem uns ein im eigenen Leben erworbenes Sehen ins Verstehen führt.« Das Positive in diesem Fall ist, dass die Essays hierdurch nicht so trocken sind. Oft lockern sie den Sachbuchcharakter auf, den Essaybände sonst haben können, wodurch sich Bodrožićs Texte eher typisch literarisch lesen. Hierdurch wird ein ästhetischer Effekt erzeugt, der es ermöglicht, zwischendurch ein wenig mitzufiebern.
Ein bewegtes LebenBodrožić stützt ihre Aussagen durch verschiedene Beispiele: Zum einen erzählt sie selbst viel über ihr eigenes Leben und ihre Bücher. Zum anderen bezieht sie Lebensweisen anderer Menschen mit ein oder verwendet Zitate von ihnen. Gerade ihre eigenen Erfahrungen gestalten die Essays wesentlich interessanter, denn sie hat viel erlebt. So schildert sie eindrucksvoll, wie sie ihre ersten zehn Lebensjahre in Kroatien verbracht hat. Bis zu ihrem fünften Lebensjahr habe sie nicht gewusst, dass sie ein Mädchen ist, weil sie nie jemand darüber aufgeklärt habe. Erst als ihre Cousins sie eines Tages wegen ihres Geschlechts nicht zu einem Abenteuerspiel in einer Höhle mitnehmen wollten, sei ihr dies bewusst geworden. Ebenfalls beschreibt die Autorin eindrucksvoll, wie ihre eigenen Eltern, nachdem sie zusammen mit ihr nach Deutschland gezogen waren, sie immer wieder dafür gescholten haben, dass sie ihnen öfters widersprach. Ihre Mutter habe ihr sogar versucht vorzuschreiben, dass sie eine Lehre als Arzthelferin oder Bankkauffrau beginnen solle. Nur weil sie sich irgendwann dagegen wehrte und nicht den Wünschen der Mutter folgte, so vermittelt sie, sei sie heutzutage die Autorin, die sie ist.
Diese Beispiele erleichtern das Textverständnis, weil die Ansichten der Autorin für den*die Leser*in verständlicher werden. So beruht ihr Leitfaden darauf, dass sie in ihrem Leben selbst erkennen musste, dass sie sich nicht für andere verstellen und stattdessen ihre eigene Meinung stark vertreten sollte.
Dennoch verlieren die Thesen oft ihre Verallgemeinerbarkeit, weil die Argumentation zu einseitig ist. Bodrožić bezieht sich immer nur auf andere Einzelpersonen oder ihr eigenes Leben, aber nennt keine weiteren Gründe, wieso man daraus entsprechende Thesen ableiten sollte. Somit schließt die Autorin von wenigen Einzelfällen auf das Ganze, was aber die Glaubwürdigkeit mindert. Trotzdem passt diese Argumentationsweise zu dem Gattungsbegriff ›Essay‹, denn er ist breit gefächert, meint aber im weiten Sinne einen Text in argumentativer Form. Die Argumentation darf hierbei frei sein, ohne einem bestimmten Schema zu folgen, und es kann jede Art von Argument untergebracht werden. Trotzdem haben argumentative Texten immer den Anspruch, glaubwürdig zu sein, den Bodrožićs Essays durch ihren anekdotischen Charakter verfehlen.
Wirre Begriffe im Buch der poetischen SelbstfindungDie mangelnde Verständlichkeit und die fehlende Glaubwürdigkeit sind schwerwiegend. Trotz der positiven Aspekte wie dem ästhetischen Leseerlebnis und den interessanten darin beschriebenen Lebensgeschichten können die negativen nicht ausgeglichen werden. Ein großer Teil des Inhalts geht gerade durch die Ästhetik verloren, weil ihr zugunsten unverständliche Sätze vorherrschen. Wegen etlicher, undeutlicher Passagen erscheinen die meisten Argumente leer und bedeutungslos und können deshalb nicht überzeugen. Zusätzlich wirken die Essays wegen ihrer Tendenz zum Mystischen und Esoterischen abgehoben und realitätsfern.