Zum heutigen 70. Gedenkjahrestag des Atombombenabwurfs über Hiroshima im Jahr 1945 ruft Kai Matuszkiewicz die historische Verantwortung der Wissenschaften, insbesondere in Göttingen ins Gedächtnis und verfolgt die Spuren, die »the bomb« in unserem popkulturellen Gedächtnis hinterlassen hat.
Von Kai Matuszkiewicz
Am 6. August 1945 um 8:16 Uhr wurde die Welt eine andere. Über dem Zentrum der Stadt Hiroshima explodierte die erste je im Krieg eingesetzte Atombombe, die eine bis zu 300.000 Grad Celsius heiße, radioaktive Feuerwalze entfesselte, welche die Stadt Hiroshima auslöschte. In den kommenden Monaten starben zwischen 130.000 und 140.000 Menschen, an den Spätfolgen litten über 300.000 weitere. Die Menschheit besaß nun eine Waffe, die mit einem einzigen Knopfdruck in der Lage war, Städte von Landkarten zu tilgen und Menschenleben zu hunderttausenden zu vernichten.
Magnae res ex parvis oriunturDie Folgen betreffen die gesamte Menschheit und dennoch hat man hier, im beschaulichen Göttingen, anlässlich des traurigen siebzigjährigen Gedenktages besonderen Grund, über die damaligen Ereignisse nachzudenken. Denn Göttingen war in den 1920er Jahren das Zentrum der Kernphysik, James Franck oder Max Born lehrten hier, Niels Bohr war ein häufig und gern gesehener Gast und ein junger US-Amerikaner namens Julius Robert Oppenheimer wurde an der Universität dieser Stadt promoviert. Jahre später sollte er als ehrgeiziger Wissenschaftsmanager in Los Alamos, in der Wüste New Mexicos, den Beginn des Zeitalters der nuklearen Massenvernichtungswaffen einläuten. Auch wenn die Absichten, die man damals in Göttingen hegte, sicherlich andere waren als die, die Politik und Militär während des Zweiten Weltkrieges hatten, so kann man dennoch nicht leugnen, dass das, was in Hiroshima danieder ging, hier in Göttingen seinen Anfang nahm.
Hiroshima und Nagasaki sind seit 1945 Sinnbild dafür, dass der Mensch nun die Fähigkeit in Händen hält, sich selbst vollständig zu eliminieren. Die neue Qualität der Gefahr der gegenseitigen Vernichtung menschlichen Lebens fand schnell ihren Ausdruck in den kontroversen Debatten um Auf- und Abrüstung, die beispielsweise von Robert Jungk mit seinem Sachbuch Heller als tausend Sonnen maßgeblich mitgeprägt wurden – die ›doomsday clock‹ des Bulletin of the Atomic Scientists wurde zum Symbol des nahenden Untergangs, der Kalte Krieg zu einer permanenten Drohkulisse.
Die Welt der BombeFragestellungen dieser Größenordnung umfassen soziale und kulturelle, ethische und politische Aspekte, tangieren lokal wie global. Ausdrücke dieser umwälzenden Diskurse sind auch in den Medien der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu finden. Am bekanntesten sind hier freilich die ›Physiker-Dramen‹ Leben des Galilei von Bertolt Brecht, Die Physiker von Friedrich Dürrenmatt, In der Sache J. Robert Oppenheimer von Heinar Kipphardt oder Kopenhagen von Michael Frayn. Darüber darf man aber keineswegs Romane wie Edita Morris Die Blumen von Hiroshima, Masuji Ibusesʼ Werk Schwarzer Regen oder Kenzaburo Oes Notizen aus Hiroshima genauso wenig vergessen wie Filme à la The Day After oder Comics wie The Dark Knight Returns, Watchmen oder Kingdom Come. Derartige Werke sind von den Folgen des Einsatzes nuklearer Vernichtungswaffen ebenso beeinflusst worden wie von der dualistischen Einteilung der Welt in West und Ost. Krieg und potenzielle Vernichtung bestimmen vor allem die US-amerikanische Populärkultur, machen die Kalte Krieg-Thematik zum bestimmenden antagonistischen Erzählmuster und zwar bis weit in die 1990er Jahre hinein. Noch 1999 kämpft Pierce Brosnan als James Bond in Die Welt ist nicht genug gegen die atomare Vernichtung Istanbuls und selbst um die Jahrtausendwende werden in der Matrix-Trilogie noch elektromagnetische Impulse als Waffe eingesetzt.
Eine neue Gefahr zieht aufDanach verliert sich die Spur nuklearer Massenvernichtungswaffen in der (Pop-)Kultur zusehends. Ursächlich ist hierfür sicherlich die veränderte geopolitische Lage nach dem 11. September 2001 und dem Aufstieg des internationalen (radikal-islamistischen) Terrorismus zur vermeintlich obersten globalen Bedrohung. Hinzukommt aber ein Paradigmenwechsel, der sich bereits im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts andeutet und durch Tron, die Terminator-Reihe sowie Matrix in das (populär-)kultureller Gedächtnis des Westens einzieht – die Gefahr der Digitalisierung!
Mit der steigenden Präsenz digitaler Technologien im Alltag wird auch ihre Dominanz in der kollektiven Wahrnehmung immer größer, sodass letztlich nicht nur Medienkritiker und Kulturpessimisten skeptisch werden. In Zeiten, in denen Maschinen den Menschen immer ähnlicher werden, die Grenzen zwischen beiden zunehmend verschwimmen und sich die Frage nach dem Menschsein immer neu stellt, wird die Maschine zum Hobb’schen Leviathan, in dessen Angesicht der Mensch zur verschwindend kleinen Variabel wird.
Bei genauem Hinsehen offenbaren beide Phänomene unglaubliche Parallelen. Nuklear- und Digitaltechnologie offerieren dem Menschen vorher ungekannte Möglichkeiten durch neuartige Energiequellen oder die Vernetzung unseres Lebens im ›Internet der Dinge‹. Zudem haben beide dieselben Wurzeln bzw. bedürfen derselben Hilfsmittel – sowohl Nuklear- als auch Digitaltechnologie sind beide auf exakte mathematische Berechnungen angewiesen, die letztlich nur noch von riesigen Rechenmaschinen und Serveranlagen zu leisten sind. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass immer mehr Vergleiche zwischen beiden Technologien gezogen werden.
So rief der Mathematiker Tom Leinster von der University of Edinburgh seine Kollegen letztes Jahr im NewScientist dazu auf, ihre Zusammenarbeit mit den Geheimdiensten zu überdenken und verglich die Situation der Mathematiker heute mit derjenigen der Physiker in den 1940er Jahren.
Our situation has been likened to that of nuclear physicists in the 1940s. However, they knew they were building the atom bomb, whereas mathematicians working for the NSA or GCHQ often have little idea how their work will be used.
Im Vergleich zu den Mathematikern wussten die Physiker in Los Alamos zwar, was sie taten, allerdings haben sie scheinbar erschreckend wenig über die Folgen ihres Handelns nachgedacht. Gerade jener historische Fall zeigt, dass man aus der Angst vor einem Übel schnell in die Arme eines anderen fliehen kann. Aus Furcht davor, dass die Nazis die Atombombe zuerst haben und damit die Welt unterwerfen könnten, trieb man ein Atombombenprogramm voran, dessen Takt nahtlos in ein globales Wettrüsten überging. Die vermeintliche Rettung war letztlich nichts anderes als die berüchtigte Wahl zwischen Pest und Cholera. Heute ist die Situation kaum anders. Damals schob die Angst vor einer nationalsozialistischen Atombombe jede ratio beiseite, heute ist es die Furcht vor dem Terrorismus, die offenbar jede Form der Totalüberwachung rechtfertigt.
Brave New WorldIm NSA-Skandal vereinigen sich paradigmatische Ängste und fundamentale Fehler des 20. Jahrhunderts zu einer kaum für möglich gehaltenen Symbiose. Das unreflektierte Handeln einer Gruppe von Wissenschaftlern, die sich bemerkenswert unkritisch einer Macht verschreiben, um den Sieg einer anderen zu verhindern, trifft auf die schlimmsten Orwell’schen Überwachungsfantasien, die gestützt auf digitale Technologien Höhen erreichen, die sich Orwell selbst nicht hätte ausmalen können. Und wofür all das? Um die Freiheit zu verteidigen? Aber welche Freiheit verteidigen wir, nachdem wir sie durch die Totalüberwachung abgeschafft haben? Ironischerweise schaden wir selbst den freiheitlichen Maximen, auf denen unsere Gesellschaft beruht und die von Radikalen angegriffen werden, mehr, als diese das selbst jemals könnten.
Dass die Situation der Kernphysiker zu Zeiten des Zweiten Weltkriegs eine Parabel der heutigen Lage der Mathematiker und Informatiker ist, illustriert Kipphardts Drama. Man könnte die Physiker ohne weiteres gegen Mathematiker austauschen, ohne dass sich das Stück auch nur im Geringsten ändern würde – das Thema bleibt dasselbe! Denn die Atombomben töteten mehr als hunderttausende Menschen und digitale Technologien leisten mehr als die vollkommene Überwachung von Abermillionen; beide Ereignisse zerstörten das gegenseitige Vertrauen der Menschen ineinander und sprengten die gemeinschaftlichen Grundfeste unserer Gesellschaft. Beide wurden eingesetzt, da es Gräben gab, doch anstatt diese zu überbrücken, schufen sie Schluchten.
In Zeiten, in denen sich der Mensch immer gottähnlicher wahrnimmt, sich durch Nuklearenergie allmächtig und durch digitale Technologien allwissend wähnt, stellt sich die Frage nach der Rechtfertigung des Handelns und seiner Folgen nur umso dringlicher und zwar nicht nur Wissenschaftlern. Wir alle müssen globaler denken, kosmopolitischer handeln bzw. zuerst einmal unsere Herausforderungen als geopolitische Problemkonstellation verstehen. Ein Paradigmenwechsel, der Beginn einer neuen Mentalität ist dringend notwendig. Denn, und daran hat sich seit Dürrenmatt wenig geändert, »was alle angeht, können nur alle lösen«, sowohl in der Welt als auch in Göttingen.