Peter-André Alt, Literaturwissenschaftler und Präsident der Freien Universität Berlin, paktiert mit dem Bösen – und das auf über siebenhundert Seiten. In seiner Studie Ästhetik des Bösen spürt er den Merkmalen der ästhetischen Präsenz des Bösen nach. Ihm auf der Spur ist Niels Penke.
Von Niels Penke
Figurationen des Bösen haben nicht nur seit Jahrtausenden Kunst- und Literaturschaffende inspiriert, auch die Wissenschaft zeigt sich von diesen immer wieder erstaunlich angezogen. Große monographische Arbeiten wie Mario Praz‘ (1930, dt. Liebe, Tod und Teufel. Die schwarze Romantik, 1963) oder Karl-Heinz Bohrers epochale Studien zur Ästhetik des Schreckens (1978) und den Imaginationen des Bösen (2004) haben der vorliegenden Ästhetik des Bösen bereits grundlegend vorgearbeitet. Ihr Autor, der Berliner Literaturwissenschaftler und Präsident der Freien Universität Peter-André Alt, rekurriert zwar auf diese Vorarbeiten, geht aber deutlich über sie hinaus.
Als Versuch großangelegter Positionsbestimmungen des »Bösen« in der europäischen Ästhetikgeschichte unternimmt es Alt, anhand konkreter Einzeltexte »Merkmale der ästhetischen Präsenz des Bösen« zu erschließen und eine »Einsicht in die textuell vermittelte Ästhetik […] zu gewinnen« (S. 30). Doch über die Ebene der künstlerischen Produktion hinaus eröffnet Alt rezeptionstheoretische Perspektiven, um die Funktion des Bösen »für die Bewußtseinsgeschichte der Moderne zu verdeutlichen« (S. 30). Damit folgt er, wie er in der Einleitung eingesteht, einer bereits in den Fragmenten Friedrich Schlegels geäußerten Forderung, dass eine ›Theorie der diabolischen Gedichtart‹ an der Zeit sei.
Diese Säkularisierung verknüpft sich mit der entscheidenden Einsicht in die historische Bedingtheit des Teufels, aus »dessen Geschichte sich«, im Anschluss an Walter Benjamin, »mehr über die Leistungen der menschlichen Imagination als über den Begriff des Bösen lernen [läßt].« (S. 100) Vor diesem Hintergrund wird Mephisto zum paradigmatischen Sinnbild der Moderne, das über Hoffmann und die Schwarze Romantik bis zu Freud und Jung weiterverfolgt wird. Die (psychologische) Introspektion als Leitidee verfolgt Alt auch bei Schiller, Kleist, Kierkegaard und Thomas Mann. Das »Böse« wird dabei stets an den menschlichen Ursprung gekoppelt und u.a. an Erscheinungen des Hässlichen, Schmutzigen, Perversen, Abnormen, Devianten, Grotesken, Geilen, Wahnsinnigen identifiziert. Unabhängig von moralisch konnotierten Entwürfen des »Bösen« geht es dabei auch um das »Skandalon einer ästhetischen Attraktivität des Bösen« (S. 25), die nach den realhistorischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts weiterhin Bestand hat. Kontinuität und Wiederkehr sind für die meisten der vorgestellten Stoffe, Charaktere, Figurationen und Motive feststellbar.
Diese Iteration der Zuschreibungen nimmt schließlich selbst den Charakter des »Bösen« an, wenn Alt am Beispiel Blakes, de Sades oder Huysmans‘ die »Wiederholung als literarische Erscheinungsform des Bösen« vorführt. Exzess und Schwarze Messe beziehen ihre »skandalöse« Qualität erst aus dem Moment der Wiederholung, dem ritualisierten Verstoß.
Mit diesen Verstößen einhergehend beschreibt Alt den Umbruch im Verlauf des 19. Jahrhunderts, der die Ästhetik Hegels, die das »Böse« als kalt, glatt und unattraktiv und daher für die Kunst als ungeeignet einschätzt, durch Schopenhauer überwindet. Vor dem Hintergrund seiner pessimistischen Philosophie weist er dem »Bösen« in der Kunst einen legitimen Platz zu und betont die außerordentliche Produktivkraft des Negativen. Schließlich erscheint Nietzsche als der radikale Vollender, der sich rhetorisch des Äußersten ermächtigt und mit dem Tode Gottes nicht nur Transzendenzvorstellungen verwirft, sondern auch das Prinzip des höchsten Guten gleichsam abmeldet. Im Jenseits von »Gut« und »Böse« erscheint die Ästhetik interesselos und befreit vom relativierenden Ballast überkommener Wertvorstellungen. In der Nachfolge Nietzsches und seiner Tötung Gottes als »rhetorisches Fest« erfreuen sich die ästhetizistischen Strömungen der Jahrhundertwende des Hässlichen. Mit Vorliebe inszenieren sie vormals »böse« konnotierte verführerische Schönheiten gepaart mit einer Lust am Untergang, die durch Jenseitshoffnungen keinerlei Regulative mehr besitzt.
Das Wechselspiel von theoretischer Reflektion und künstlerischer Produktivität besitzt unbestreitbar Plausibilität, bietet in der überbordenden Gelehrsamkeit jedoch auch vieles, was anderswo auch schon zu lesen steht. Das Moment der Grenzüberschreitung etwa im Zusammenhang des phantastischen Horrors bei Mary Shelley, Bram Stoker, E.A. Poe und R.L. Stevenson überzeugt daher weit weniger als die Analysen des »erfundenen Geschlechts«, das Alt über Wedekind, Weininger und Ewers als Ausdruck eines tiefen Unbehagens zwischen individuellem Begehren und sozial Erlaubtem vorführt. Auch der erzählte Krieg als »Gewaltexperiment« bei Ernst Jünger und Malaparte, mit engem Rückbezug auf Bohrers Ästhetik des Schreckens, die den Schock als das initiale Erfahrungsmoment der Moderne begreift, fügen sich zwar in den Gesamtkontext, überzeugen aber nicht durch ihren Innovationswert.
Anders das letzte Kapitel, das nach der »Kunst des Bösen nach Auschwitz« fragt und diese von Adorno ausgehend am Beispiel von Imre Kertész und Jonathan Littell untersucht. Während Kertesz Liquidationen (2003) das Verstummen eines Betroffenen nach dem Versuch, das unsagbare Grauen literarisch einzuholen, erzählen, eröffnet Littell durch die Täterperspektive die Chance, das »unmenschlich Böse menschlich« (S. 511) dazustellen und für ein Publikum introspektiv nachvollziehbar zu machen. An den Wohlgesinnten lässt sich die Verschränkung von Inhumanität und Kultur, die Adorno in seinem Verdikt über die Lyrik nach Auschwitz impliziert hatte, an einem Beispiel demonstrieren.
Zudem nimmt Alt auch die postmodernen Gewaltexzesse Bret Easton Ellis‘ in den Blick, die in ihrer amoralen Sterilität Hegels Diktum produktiv widerlegen, indem sie es bestätigen: Kälte und Glattheit sind als Attribute des »Bösen« durch das 20. Jahrhundert zu topischen Beschreibungen geworden, die von Ellis in vielleicht letzter Konsequenz in Romanform verarbeitet wurden.
Die thematische Orientierung bezieht sich einzig auf die Ästhetik des »Bösen« in der Literatur bzw. den Künsten anhand ihrer Erscheinungsformen und trotz manch theoretischer Reflektion weniger auf die konkrete Begriffsverwendung. Das ist einerseits aufgrund der reichen Materiallage eine nachvollziehbare und praktikable Beschneidung, anderseits werden dadurch vielfältige und äußerst wirkungsmächtige Figurationen des Bösen ausgeblendet, wie sie in weiteren Bereichen der Öffentlichkeit stattfinden: in politischer Rhetorik, den Massenmedien, Film, Fernsehen etc. Bezüge werden zu diesen nur selten hergestellt, ebenso gibt es nur wenige intermediale Vergleiche. Das ist in manchem Fall schade und zugleich entlarvt es eine ästhetizistisch motivierte Ästhetisierung des »Bösen«, dessen reale Konstruktionen mit ihren diskriminierenden und destruktiven Potentialen außerhalb des Blickfelds von Alts Studie liegen. Dies mag einem Wissenschaftsverständnis geschuldet sein, das auf relativ strengen Grenzziehungen zwischen den Disziplinen und ihren Gegenstandsbereichen beharrt. Zwar beschreibt Alt im letzten Unterkapitel »Literarische Illusion und Werturteil« die Rezeptionsebene, die Reflexionsformen und praktischen Relativierungen, die im Wahrnehmungs- und Moralentscheidungsprozess vollzogen werden und benennt die Bindung an »die Regeln und Gesetze der abendländischen Moralität« (S. 552), der Hauptbezug bleibt aber immer die Literatur, von der losgelöst keine Entwürfe gezeigt werden.
Gewiss bestehen Wechselbeziehungen zwischen den in der Kunst geprägten Vorstellungen und Figuren auf der einen und dem real erfahrbaren »Bösen« auf der anderen Seite. Dass aber gerade hier eine Praxis des »Bösen« festzustellen ist, die auch ohne jede mythische oder kulturgeschichtlich verankerte Herleitung und mit weit weniger ästhetischem Feinsinn auskommt, hätte im Horizont dieser Ästhetik mitbedacht werden können.
In der beständigen Betonung des Wertes von Literatur, die, wie im Falle Littells eben vermag, was vielleicht wirklich nur Literatur kann, nämlich die »Dimension des Schreckens« durch die Identifikation mit der Rolle Aues im Prozess des Lesens erfahrbar zu machen; damit hat Alt zwar Recht, dennoch kann es nicht verdecken, dass die protektionistische Beschränkung, um den Selbstwert von Literatur herauszustellen, etwas antiquiert wirkt, eben weil die ungleich wirkungsvolleren Konfigurationen des »Bösen« sich längst andere Leitmedien gesucht haben.
Danke, eine informative Rezension.