Jüngst bekam die Autorin den Schweizer Grand Prix Literatur 2020 für ihr Gesamtwerk und den Bertolt-Brecht-Preis 2020. Für ihren Roman GRM-Brainfuck bekam Sibylle Berg den Schweizer Buchpreis 2019: Vier Kinder rebellieren gegen den Überwachungsstaat des dystopischen Großbritanniens. In einer Welt voller Hass, Gewalt, und Angst finden sie Trost ineinander und in der Musik von GRM.
Von Laura Theismann
»Das ist keine Dystopie. Es ist die Welt, in der wir leben. Heute. Und vielleicht morgen. Es wird nicht schlimm. Nur – anders. Willkommen in der Welt von GRM.«, heißt es in dem Klappentext zu Sibylle Bergs Roman GRM – Brainfuck, der erst kürzlich den Schweizer Buchpreis 2019 gewonnen hat. Wenn man Bergs Ausführungen folgt, steckt die von ihr gezeichnete Welt voller Hass, Gewalt, Überwachung, Rechtsradikalismus, Angst, Ungerechtigkeit und absoluter Hoffnungslosigkeit. 633 Seiten lang blickt der*die Leser*in die tiefsten Abgründe der Menschheit, in denen sich Themen wie Vergewaltigung, Pädophilie, Gewalt gegenüber Kindern und viele mehr tummeln. Das Schreckliche wird bis ins kleinste Detail ausgeschlachtet.
Die ›Unterschicht‹ EnglandsIm Zentrum der Handlung stehen die vier Kinder Don, Hannah, Peter und Karen. Sie alle teilen das Schicksal, in Rochdale, einem trostlosen Ort in England, zu wohnen und dem anzugehören, was umgangssprachlich als ›Unterschicht‹ bezeichnet wird. Don wird von dem Freund ihrer Mutter geschlagen, Hannahs Eltern sterben in kurzem Abstand voneinander, Peter wird von seiner Mutter verlassen und von einem Mann vergewaltigt, Karen
Trost finden die Kinder in ihrer Gemeinsamkeit als Außenseiter, in ihren Endgeräten und darin vor allem in ›Grime‹, oder kurz ›GRM‹ – einer Plattform für Musik, die auch den Romantitel inspirierte. Die Vier entscheiden sich dazu, gemeinsam nach London zu flüchten und gehen einer Todesliste mit all den Menschen nach, die ihnen Böses angetan haben. Sie schließen sich einer Gruppe von Rebellen an und entziehen sich dem Überwachungsstaat, indem sie ihre Endgeräte vergraben. Karen, die hochbegabt ist, widmet sich der kompletten Auslöschung von Testosteron, denn jenes Hormon sei schließlich der Ursprung allen Übels. Dies ist sinnbildlich für die mehr als negative Darstellung der Männer in GRM – allesamt sind sie frauenfeindlich, gewalttätig, herzlos, emotionslos, machtgierig oder eben auch einfach nur »zu nichts zu gebrauchen«.
Der gläserne MenschAbgesehen von den vier Protagonist*innen treten viele weitere Nebenfiguren auf, die das Beziehungsgeflecht verdichten und das Geschehen oft etwas verkomplizieren. Sehr interessant ist allerdings, dass ausnahmslos alle Figuren kategorisiert werden. Bei ihrer Ersterwähnung wird dazu ein kurzer »Steckbrief« vorangestellt, der suggeriert, dass inzwischen alle Menschen in einer Datenbank erfasst sind – jede*r ist vollkommen gläsern. Die verschiedenen Kategorien lauten zum Beispiel Gefährdungspotenzial, Ethnie, Interessen, Sexualität oder Kreditwürdigkeit, was die Kritik an der fortschreitenden Digitalisierung und die Gefahr des »gläsernen Menschen« verdeutlicht.
Die Erzählweise in GRM ist sehr ausführlich und beschreibend, teilweise werden über mehrere Seiten lang explizit Themen, wie Digitalisierung, Brexit, Neoliberalismus und Klassengesellschaft, auf zynische Weise reflektiert. Der Ton ist dabei hart, pessimistisch und äußerst kritisch. So heißt es beispielsweise: »wenn man Brutalität, Dummheit und Faschismus fördert, kurz – ein irrsinniges Chaos anrichtet, heißt das kurzfristig: Gewinneinbußen. Aber Shit happens.«. Obwohl jene Ausführungen gut recherchiert und aufschlussreich sind, stören sie stellenweise den Spannungsbogen der Handlung. Das eigentliche Geschehen tritt in den Hintergrund und wird nach der Abhandlung eines Themas zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufgenommen, was stellenweise etwas langwierig erscheint.
Kein »Gute Laune-Roman«Wer sich nun GRM zu Gemüte führt, wird eine zynische Gesellschaftskritik lesen – nicht unbedingt die Geschichte rebellierender Kinder. Der Roman ist insofern lohnend, als dass er sehr viele interessante dystopische Gedankenspiele ausführt, die in vielerlei Hinsicht bereits die heutige Realität wiederspiegeln. Sibylle Berg zeigt damit genau dorthin, wo gerne weggesehen wird, sei aus Selbstschutz oder auch einfach nur aus Bequemlichkeit. GRM ist eine dunkle und schonungslose Zukunftsvision und scheut sich nicht davor, in die tiefsten Abgründe der Menschen zu blicken. Das macht den Roman deprimierend und schockierend, aber gerade weil er sich selbst nicht als Dystopie auszeichnet, auch zu einer wichtigen Lektüre. Indem er aufzeigt, was im schlimmsten Fall mit dieser Welt alles passieren kann oder eventuell bereits jetzt passiert, spricht er mit einer großen Härte und Gewaltigkeit vor allem eines aus – eine Warnung.