Als 1949 erstmals in Deutschland Dürrenmatts Komödie Romulus der Große gezeigt wurde, konnte sich das Publikum über echte Hühner amüsieren. Bei der Premiere am 23. Januar 2016 im DT Göttingen war es der Kaiser selbst, der gackerte und Eier legte.
Von Stefan Walfort
1957 warnte Dürrenmatt in seinen Kommentaren zum Sammelband Komödien I vor dem Balanceakt, den es erfordere, Romulus »nicht allzu schnell sympathisch« anmuten zu lassen. Dessen Charakter zeuge nämlich von »äußerster Härte«; als Richter über Leben und Tod schrecke er nicht davor zurück, die Mitmenschen in sein fatalistisches Forcieren des Unheils zu verwickeln: 476 n. Chr. steht das Römische
Vergeblich schickt Romulus den Reiterpräfekt schlafen. Nach »hundert Stunden« des Durchwachens scheint der wie vom Wahn getrieben zu sein: Er rennt auf und ab. In Dauerschleife bejammert er, dass er schrecklich müde sei. Mal stürzt er über die mit gekrümmten Buckeln und in weiße Roben gehüllt übers Stroh tapsenden Kammerdiener Achilles (Bardo Böhlefeld) und Pyramus (Dorothea Lata), mal stößt er mit der am Rücken herausragenden Seite des Speers dem Innenminister Tullius Rotundus (Andreas Jeßing) ins Kreuz. Wieder und wieder stürzt er zu Boden, um bald wieder aufzustehen und die Raserei fortzusetzen. Als Romulus auftaucht, hat dieser sofort sämtliche Lacher auf seiner Seite: Hatten Karlheinz Streibing und Peter Stanchina, als sie die Komödie nach der Baseler Uraufführung 1949 erstmals in Deutschland, übrigens auch in Göttingen, inszenierten, noch echte Hühner involviert, so ist es 2016 Romulus selbst, der das Publikum mit seinem Gackern erheitert. Den Zuschauer_innen in der ersten Reihe streut er Futter vor die Füße. Es fällt nicht schwer, das als Wink mit dem Zaunpfahl zu erkennen. Weil es der Herrscherarroganz an Authentizität fehlt, nimmt ihm aber niemand etwas übel. Wenn er den entblößten Hintern ausstreckt und ein Ei aus der Hose pult, agiert er nur als Clown. Wenn er die Panik seiner Gattin Julia (Angelika Fornell), seiner Tochter Rea (Dorothea Lata) und aller anderen vor dem Anrücken der feindlichen Truppen, ihren Überlebenswillen, den Willen zu kämpfen, die Aussicht, vielleicht doch noch zu siegen, mit Spott kommentiert, wenn er Julias Zorn über den Ausverkauf sämtlicher kostbarer Büsten mit Häme begegnet, zeichnet sich zu wenig von der von paternalistischen Elementen durchzogenen Selbstsucht ab, zu der er der Textvorlage zufolge tendiert. Stattdessen dominiert der Klamauk.
Als Romulus die Hoffnung vom Tisch bügelt, Rom mit dem Geld des Hosenhändlers Cäsar Rupf (Ronny Thalmeyer) zu retten, flammt kurz so etwas wie Jähzorn auf. Rupf hatte gefordert, Rea heiraten zu dürfen; Romulus verweigert seine Erlaubnis: »Meine Tochter wird sich in den Willen des Kaisers fügen.« Zu schnell verpufft alles Unberechenbare. Auch fehlt es an Verve, wenn er seinen Gästen zu verstehen gibt: »Ich habe mit euch nichts zu schaffen. Ihr seid nichts als Motten, die um mein Licht tanzen, nichts als Schatten, die untergehen, wenn ich nicht mehr scheine.« Zu schnell wechselt er zum Grinsen über, das ihm selbst dann nicht vergeht, als er vom Sinken des Floßes erfährt, mit dem Julia, Rea, Tullius Rotundus und viele Bedienstete gen Sizilien zu fliehen geplant hatten. Niemand hat überlebt. Ihn kümmert das kaum. Wie grausig auch immer das zu sein scheint, wie unverblümt er auch immer in seinem letzten Gespräch mit Julia gestanden hatte, sich seit seiner Ernennung zum Kaiser kontinuierlich der Sabotage des römischen Fortschritts gewidmet zu haben ─ an das kaltblütig berechnende Format manch anderer Figur aus Dürrenmatts Oeuvre, beispielsweise einer Claire Zachanassian, erinnert gar nichts an ihm. Eine diffuse Form von Kritik treibt ihn dazu, die Wahl »zwischen einem katastrophalen Kapitalismus und einer kapitalen Katastrophe« vorwegzunehmen und das Recht der Mitmenschen auf Einspruch gegen ein so dichotomes Weltbild zu untergraben. Es lässt sich erahnen, warum Dürrenmatt das Drama mit dem Untertitel Ungeschichtliche historische Komödie versehen hat. Analogien zur Lage Europas zu kreieren, scheint 2016 unvermeidlich zu sein.
Fragwürdige KapitalismuskritikAuf einen Patriotismus, wie er sich unter der Gefahr durch die Germanen ausbreit, reagiert Romulus mit Abscheu. An Aktualität hat sein Aphorismus nicht eingebüßt:
Vaterland nennt sich der Staat immer dann, wenn er sich anschickt, auf Menschenmord auszugehen.
Bislang scheinen ähnliche Warnungen denen, die dazu tendieren die Parolen der sich derzeit immer wieder montags versammelnden sogenannten besorgten Bürger_innen zu relativieren, nicht begreifbar machen zu können, wie sehr diese mit dem Feuer spielen. Romulus selbst hat, als er seine Botschaft ausspricht, so etwas wie das, was sich gegenwärtig in Europa mit dem Etikett »Willkommenskultur« beklebt und einem Spannungsfeld aus beherztem Handeln, aus böswilligem Diffamieren und vielen Facetten zwischen den beiden Polen ausgesetzt sieht, noch längst nicht verinnerlicht. Ressentiments gegenüber den Fremden widerspricht er nicht nur nicht ─ solche pflegt er auch selbst. Obendrein erschöpft sich seine Kapitalismuskritik in Floskeln. Die erinnern an Milieus, in denen komplexe Gefüge stets zu Monokausalitäten simplifiziert werden, an Milieus, in denen Verschwörungsideologien gedeihen, an Milieus, aus denen sich auch der Pool der besorgten Bürger_innen speist. Derlei Ambivalenz wäre sichtbarer geworden, wenn sich die Dramaturgin Sonja Bachmann und der Regisseur Matthias Kaschig nicht auf ihre Hanswursterei versteift hätten.
Zu Dürrenmatts stärksten Stücken zählt Romulus der Große sicher nicht. Er deutete an, es unter Produktionsdruck gefertigt zu haben. Vergleiche, etwa mit der alten Dame oder den Physikern, können es nur blass ausschauen lassen. Trotzdem birgt es Potenzial für ein paar starke Momente: In der ZEIT resümierte Heinz Weniger 1949, der erste Akt sei besonders gelungen gewesen; 2016 kann der vierte und letzte Akt, der Akt, in dem die parabolische Struktur besonders auffällig wird, als der überzeugendste gelten: In Konfrontation mit Odoaker (Bardo Böhlefeld), dem Anführer der Germanen, entlarven sich Ängste vor Fremden als Hirngespinste: Mitnichten trachtet Odoaker danach, Rom zu vernichten. Nicht ein einziges Haar will er dem Kaiser krümmen. Vielmehr räumt er ein, er selbst hege ─ wie Romulus ─ eine Leidenschaft fürs Hühnerzüchten. Er unterwirft sich sogar. Daraufhin streift Romulus die letzten Reste seiner Herrscherfassade ab. Odoaker kürt er zum König von Italien. Er selbst tritt ab in die Rente. Geleitet vom Willen zur Humanität vollzieht er damit den wohl schwersten Schnitt seines Lebens. Fortan vermag Trennendes das Gemeinsame nicht weiter zu vergiften. Die Idee, dass das so plötzlich gelingen kann, ist eine mehr als optimistische. Die Idee, dass das überhaupt gelingen kann, wird derzeit von unterschiedlichen Kräften torpediert. Wer keinen Regress Europas in Nationalismen erleben möchte, hat an ihr festzuhalten, hat für sie zu streiten. Möge sich Europa des Öfteren das Vorbild der beiden vergegenwärtigen. Möge Europa den Appell an die Zuversicht ernstnehmen.