In diesem Text werden Gewalt, Rassismus, Antisemitismus, Kriegsverherrlichung erwähnt.
Am 10. Mai 1933 warfen Studenten in ganz Deutschland Bücher ins Feuer. In Göttingen stachelten die Germanisten Gerhard Fricke und Friedrich Neumann mit bösartigen Reden dazu an. Teil 2 unserer Reihe zu kritischen Fachgeschichten befasst sich unter anderem mit den beiden Hetzern.
Von Stefan Walfort
Am 10. Mai 1933 versammelte sich am Adolf-Hitler-Platz, dem heutigen Albaniplatz, auf Initiative Heinz Wolffs und der Göttinger Studentenschaft, die er anführte, ein Tross von Studenten, dem Göttinger Tageblatt zufolge »beste deutsche Jugend«,1 um Bücher in die Flammen zu werfen – in ihren Augen und den Augen der Dozenten, von denen sie bestärkt wurden, allesamt »l᾽art pour l᾽art nomadisierender Geister«2. Gemeint waren als Juden identifizierte Personen, denen man in typisch antisemitischer Tradition vorwarf, heimatlos in der Welt umherzuschweifen, Literatur zu »Allerweltscocktails für liberalistische Spießbürger« zu verschandeln und »die Wurzeln unseres nationalen und sittlichen Lebens (zu) vergifte(n)«,3 wie der Göttinger Privatdozent Gerhard Fricke ätzte. Als Anheizer einer gewalttätigen Stimmung4 nahm neben ihm ein weiterer Göttinger Germanist eine Schlüsselrolle ein: Friedrich Neumann, der damalige Rektor der Georgia Augusta.
Schon bevor sich Neumann »1914 beim Infanterie-Regiment 167 in Kassel als Kriegsfreiwilliger zur Verfügung«5 stellte, verinnerlichte er völkisch-rassistische Ideen. Er lehnte sich an eine philosophische Strömung an, »die später mit dem Begriff ›Konservative Revolution‹ belegt worden ist«6 und geprägt von faschistischen Denkern wie Armin Mohler, dem Begründer des Konzepts, Carl Schmitt und Ernst Jünger, um nur die prominentesten zu
Am Abend der Bücherverbrennung hielt er im überfüllten Hörsaal des Auditoriums eine Rede »wider den undeutschen Geist«, womit er nicht nur einer Einladung der Studentenschaft Wolffs folgte;10 Neumann machte sich auch deren Motto zu eigen, unter dem die Studenten zwölf Thesen verbreitet hatten – zugunsten einer »Auslese von Studenten und Professoren nach der Sicherheit des Denkens im Deutschen Geiste« und gegen »jüdische(n) Geist, wie er sich in der Welthetze in seiner ganzen Hemmungslosigkeit offenbart und wie er bereits im deutschen Schrifttum seinen Niederschlag gefunden hat«11. Mit dem euphemistisch als »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« verklausulierten Rechtsinstrument, das seit dem 7. April ᾽33 galt und auf dessen Grundlage »über 50 Personen des im Wintersemester 1932/1933 aus 238 Personen bestehenden Lehrkörpers entlassen« worden waren, hatte der Ruf der Studenten nach Selektion längst Praxis zu werden begonnen. Neumann und nach ihm Fricke bekräftigten den Glauben an die Legitimität entsprechender Maßnahmen und drängten darauf, nun auch vermeintlich jüdische oder jüdisch beeinflusste Literatur möglichst gründlich zu beseitigen.
Akademiker als Anstifter zum PogromVor allem Fricke hielt eine von einem unbedingten Willen geprägte Rede, sowohl Bücher als auch deren Verfasser*innen zu vernichten, nachzulesen in der Göttinger Hochschul-Zeitung vom 18. Mai ᾽33. Unter anderem heißt es dort:
(U)nsere, der deutschen Philologen Pflicht wäre es ja vor allem gewesen, unbestechlichen Urteils und reinen Gefühls zu wachen über den deutschen Geist des deutschen Schrifttums, darüber, daß die deutsche Sprache nicht von unsauberen Händen zu unlauteren Zwecken erniedrigt wurde (…) – und über dem rückgratschwachen Versuch, alles zu verstehen, verloren wir den Instinkt und den Blick für die ewig bindenden Maßstäbe von gut und schlecht, giftig und heilsam, zersetzend und aufbauend, deutsch und undeutsch.12
Systematisch trachtete Fricke danach, bei seinen Studenten Schuldgefühle auszulösen, um sie ihnen sogleich wieder zu nehmen, denn nun, infolge des Siegs der Nationalsozialisten, habe man allen Grund, in eine leuchtende Zukunft zu blicken. Jetzt sei man viel wachsamer als in der Vergangenheit, und die Bücherverbrennung gelte es als »Symbol« für die neue Wachsamkeit zu begreifen. Endlich nehme man eine längst überfällige »Reinigung« in die Hand. Fricke lehnte sich damit an einen typischen NS-Sprachgebrauch13 an, wie er sich unter anderem auch in den Thesen nachweisen lässt, die Joseph Goebbels am gleichen Abend auf dem Berliner Opernplatz Studenten einschärfte: »Unrat und Schmutz dieser jüdischen Asphaltliteraten«14 nannte der Minister für Volksaufklärung und Propaganda die Werke Erich Kästners, Kurt Tucholskys und vieler weiterer ihm verhasster Schriftsteller*innen (von denen mitnichten alle tatsächlich jüdisch waren, doch als von »jüdische(m) Intellektualismus«15 erfüllt galt, wen die Nazis dazu erklärten). Dabei leitete Goebbels schnell über zu kriegsverherrlichenden (bzw. aus der Retrospektive leicht als kriegsvorbereitend erkennbaren) Aussagen.16 Bellizistisch wirkt auch Frickes Rede, in der er neben Stefan Zweig, Vicky Baum und der Freud᾽schen Psychoanalyse Erich Maria Remarques pazifistischen Roman Im Westen nichts Neues herausgriff, um zu fordern, künftig »mit dem Schwert« die Genannten zu bekämpfen.17
Überall in deutschen Studentenstädten, ob in Köln oder Dresden, Bremen, München oder eben Göttingen, entzündeten um den 10. Mai herum Studenten Autodafés, auf denen sie Gedanken Andersdenkender vernichteten. Von den Brandrednern mussten die wenigsten nach 1945 mit einschneidenden Konsequenzen leben, obwohl ihr Wüten gegen die angeblich »undeutsche« Literatur im Kontext zahlreicher »antisemitischer Sondermaßnahmen« zu betrachten ist, »die im Rückblick Vorstufen zum Mord an den europäischen Juden«18 darstellen. Stattdessen genoss Neumann innerhalb der Göttinger Germanistik noch bis Anfang der 80er Jahre einen exzellenten Ruf. Laut Ulrich Hunger, der Neumanns Einstufung als »Mitläufer«19 infragestellt, dessen eher »aktiven Part« in Sachen »Umstrukturierung der Göttinger Hochschule nach dem ›Führerprinzip‹«20 hervorhebt, ihn als »machtbewußt(en)«21 Überzeugungstäter schildert, haben Kollegen ihn noch lange »als einen der Großen des Fachs« und gar wegen »seiner Menschlichkeit«22 gewürdigt.
Die Deutungshoheit der Täter nach 1945Fricke erging es ähnlich: Er, der in den 30er und 40er Jahren an den NS-Eliteuniversitäten Kiel und Straßburg gelehrt hatte, wurde 1948 »ein erstes Mal ›entnazifiziert‹ und als ›Mitläufer‹ eingestuft«. Zeitgenossen bescheinigten ihm obendrein, sich stets distanziert gegenüber der NS-Ideologie positioniert zu haben. Da ihm solcherlei Persilscheine nicht genügten und er unbedingt mit gänzlich weißer Weste als Professor weiterarbeiten wollte, wie Gudrun Schnabel detailliert belegt, strengte er eigens ein weitreichenderes »›Entnazifizierungsverfahren‹« an – mit Erfolg, denn eine »formelle Belastung« wurde im Zuge dessen als »geringfügig« bewertet.23
Er selbst äußerte sich 1965 gegenüber Student*innen in Köln bezüglich seiner Schuld. Dabei spielte er die eigene Rolle im NS herunter und bemühte einen seiner Zeit weit verbreiteten Entlastungstopos; in Bezug auf den 10. Mai ᾽33 versicherte er:
Von dem Plan der Studentenschaften, durch eine öffentliche Bücherverbrennung gleichsam eine symbolische Abkehr von literarischen und journalistisch-politischen Richtungen zu demonstrieren, die für verderblich und zerstörerisch gehalten wurden, erfuhr ich erst wenige Tage vorher durch die dringende Aufforderung des Göttinger Rektors an mich, die bei dieser Gelegenheit unerläßliche Ansprache zu übernehmen. Ich lehnte dieses und ein am folgenden Tage noch stärker insistierendes Ersuchen ab. Am Tage vor dem geplanten Termin erschien der Rektor dann persönlich in meiner Privatwohnung, um mich zum 3. Mal aufs ernstliche zu bewegen, diese Ansprache (…) zu übernehmen. Nur so sei zu verhindern, daß sich Unverantwortliche dieser Aufgabe bemächtigen.24
Mit Werner Treß und Klaus Wetting bleibt nach wie vor zu fragen, »wie man seine Rede denn noch unverantwortlicher hätte halten können«25. An Niedertracht gegenüber jüdischen oder vermeintlich jüdischen Autor*innen und an Unterwürfigkeit gegenüber den NS-Leitlinien und dem »Führer« ist sie jedenfalls kaum zu überbieten. Wie konnte es darüber hinaus Fricke, Neumann und anderen gelingen, sich so erfolgreich ihrer Verantwortung zu entziehen?
Fest steht, dass eine Entnazifizierung nur unzureichend glückte. Neu integrierten Funktionseliten des NS-Systems gelang es vielfach, in den Post-Holocaustdiskursen die Deutungshoheit zu erlangen.26 Daher dürfte kaum verwundern, dass Narrative der Täter teils immer noch geläufig sind. Die Geschichtswissenschaft und die Germanistik haben in den letzten Jahrzehnten einiges an notwenigen Korrekturen vorgenommen.27 Aus dem kollektiven Gedächtnis getilgt sind – hartnäckig sich haltende – Entlastungstopoi jedoch noch lange nicht.