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Reihe: Kritische Fachgeschichten
Völkische Kontinuitäten

In diesem Text werden Antisemitismus und Rassismus erwähnt.

Vom gescheiterten Versuch, einen Artikel über Entlassungen am Göttinger Seminar für Deutsche Philologie im Nationalsozialismus zu schreiben. Ein beunruhigendes Panorama der Literaturwissenschaft vor und nach 1933.

Von Oke-Lukas Möller

Am 07. April 1933 trat in Deutschland das »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« in Kraft. Es bewirkte, dass mehr als ein Fünftel der 238 Dozierenden aus fadenscheinigen antisemitischen und politischen Gründen entlassen wurde. Betroffen von den Regelungen des Gesetzes waren unter anderen die Mathematikerin Emmy Noether und der Physiker Max Born, der später einen Nobelpreis erhalten sollte. Beiden wurde die Lehrerlaubnis entzogen, weil sie als ›jüdisch‹ identifiziert wurden. Das Inkrafttreten des Gesetzes bildet bis heute eine einschneidende Zäsur in der Geschichte der Göttinger Universität, deren schwerwiegende Folgen immer noch aufgearbeitet werden.

Aufgrund der Tragweite des Gesetzes lag anlässlich dieser Reihe zur Kritischen Fächergeschichte der Gedanke nah, einen Artikel über Entlassungen am Seminar für Deutsche Philologie (im Folgenden SDP) zu schreiben. Dieses Unterfangen entpuppte sich allerdings gleich zu Beginn der Recherche als aussichtslos: Das Inkrafttreten des Gesetzes hatte für die Dozenten am SDP keine disruptiven Folgen.1 Ganz im Gegenteil, sie wussten den politischen Wechsel für sich zu nutzen. Seit vielen Jahren hatten sie an einer zunehmend völkischen Ausrichtung der Literaturwissenschaft gearbeitet. Dadurch erwiesen sich die Positionen der Germanistik in den Jahren nach 1933 als politisch äußerst anschlussreich. Es gab aus nationalsozialistischer Perspektive gar keinen Grund zu bezweifeln, dass die Dozenten des SDP »jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat eintreten« würden, wie es der §4 des Gesetzes forderte.


Während andere Fächer 1933 jüdische Wissenschaftler*innen aus der Uni drängten, war die Germanistik schon vorher völkisch ausgerichtet und ›arisiert‹. Gedenktafel Emmy Noether in Erlangen, Hauptstraße 23, von Norman Rönz CC BY-SA 3.0

Die Lehrkräfte des SDP zeigten sich bereits am 10. April 1933 als überzeugte Antisemiten und linientreue Nazis: Die Göttinger Germanisten Gerhard Fricke und Friedrich Neumann stachelten ihre Studenten mit hetzerischen Reden dazu an, Bücher von unliebsamen Autor*innen zu verbrennen. Dabei schreckten sie auch nicht davor zurück, deutlich zu machen, dass die Gewalt keinesfalls vor Menschen Halt machen sollte. Woran lag es also, dass im Zuge des Machtwechsels die »Kontinuitäten (am Göttinger SDP) größer waren als der Wandel«?2

Das Seminar, das reaktionäres Wissen schafft

Bereits vor 1933 wies die Germanistik »Affinitäten zu den irrationalen mythologischen und nationalistischen Vorstellungen des Nationalsozialismus« auf.3 Dies äußerte sich in extensiven Versuchen, ein ethnisch-begründetes Volksnarrativ zu entwerfen. Die Literaturwissenschaft verstand sich in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg so zunehmend als eine »Wesens- und Wertewissenschaft«, die ihren Auftrag darin sah, die Erzählung von ›dem deutschen Volk‹ literaturgeschichtlich zu unterfüttern.4 Solcherlei Selbstverständnis war eine Reaktion auf die »als traumatisch empfundene Niederlage des Ersten Weltkriegs und der ›Schmach von Versailles‹«.5 Die Erfahrung und Niederlage des ersten Weltkrieges führte so in der Germanistik zu einer trotzigen Suche nach einem »deutschen Wesen«,6 das den gekränkten Stolz beruhigen und das deutsche Volk sich seiner heimlichen Überlegenheit vergewissern sollte. Der Göttinger Literaturwissenschaftler Gerhard Kaiser fasst die Reaktion der germanistischen Seminare auf die politischen Veränderungen folgendermaßen zusammen:

Die meisten der insgesamt vergleichsweise eher konservativ eingestellten germanistischen Hochschullehrer begrüßen den Machtwechsel als Bestätigung ihrer antidemokratisch-autoritären Oppositionshaltung gegen die Weimarer Republik und begegnen den rassistischen Unrechtsmaßnahmen gegen Kollegen in einer Haltung, deren Spektrum von billigender Inkaufnahme über latenten bis hin zu offenem Antisemitismus reicht.7

Vor diesem Hintergrund ist es wenig überraschend, dass am SDP bereits vor 1933 keine Menschen arbeiteten, die als ›jüdisch‹ hätten identifiziert werden können.

Irrationalität als wissenschaftliches Ideal

Neben Antisemitismus wurden nach dem ersten Weltkrieg auch explizit irrationale Vorstellungen und Erklärungsansätze in der Literaturwissenschaft salonfähig. Letzteres wurde dadurch begünstigt, dass die Germanistik zunehmend Schwierigkeiten hatte, ihre Existenz als Wissenschaft in einem naturwissenschaftlich geprägten universitären Umfeld zu legitimieren. Eine positiv umgewertete Irrationalität entpuppte sich dabei als ausgezeichnete Argumentationsmasse, um sich gegen die aufgeklärten Wissenschaften zu positionieren. Ihnen wurde vorgehalten, für die »Vereinzelungs- und Differenzierungserscheinungen der Moderne« verantwortlich zu sein.8 Auf diese Weise bediente die Betonung der Irrationalität weitverbreitete Ressentiments gegenüber ›der Moderne‹ und sicherte der Germanistik als Disziplin die Sympathien einer breiten Öffentlichkeit.

Das spezifische Leistungsangebot der Germanistik bestand darin, die vermeintlich verlorene Ganzheit des deutschen Lebens wiederherzustellen. Friedrich Neumann zum Beispiel betonte vor dem Hintergrund des Machtwechsels, dass nicht nur »das Germanische in noch stärkerem Maße nach vorne gerückt [sei]. Auch die gesamte Deutschkunde und Volkskunde hat eine gesteigerte öffentliche Bedeutung gewonnen.«9 Er selbst widmete sich dem Projekt, die Ganzheit des deutschen Lebens wiederherzustellen, indem er die Arbeit an einem Niedersächsischen Wörterbuch begann, das die »Reichsmundartenforschung« voranbringen sollte.10 Neumann schlägt in diesem Zusammenhang explizit die Brücke zu dem Lebens-Diskurs,11 indem er die »Verbindung der wissenschaftlichen Arbeit der niedersächsischen Landesuniversität mit dem niedersächsischen Leben« betont.12

Neumanns Forschungsinteresse erschöpfte sich nicht in der völkisch motivierten Erforschung deutschsprachiger Mundarten, sondern er betonte auch die Verwandtschaft des »germanische[n] Erbe[s]« zum »nordische[n] Rassenstil«.13 Im Sinne einer umfassenden ›Deutschkunde‹ waren bereits seit den zwanziger Jahren altnordische Philologie und germanische Kulturwissenschaft feste Bestandteile des Germanistikstudiums. Die »Rückbesinnung auf germanische Werte und pseudowissenschaftliche Rassentheorie« fand natürlich nicht nur in der Germanistik statt, sondern spiegelte sich auch besonders in den kruden Theorien von »Hitlers Chefideologen« Alfred Rosenberg, der es sich zur Aufgabe machte, einen neuen explizit deutschen Mythos zu schreiben.14 Der Historiker Ernst Piper beschreibt die Funktion des Mythos innerhalb der NS-Ideologie so:

Einer Bewegung, die an atavistische [d.h. gezielt rückschrittliche] Instinkte appellierte, die Visionen entwarf, die ihre Anhänger den grauen Alltag einer heillosen Gegenwart vergessen lassen sollten, kam ein solcher Mythos als das stets mögliche Andere des Logos entgegen.15

Der Mythos entpuppte sich als ein perfektes Instrument einer (Wissenschafts-)Ideologie, die Vernunft und Tatsachen negierte. Ein besonders absurdes Beispiel für Rosenbergs instrumentalisierten Mythos ist seine Vermutung, die Wurzeln der ›arischen Rasse‹ lägen in einem nordischen Äquivalent der Insel Atlantis.16 Rosenberg versucht hier, tausende Jahre Mythengeschichte im Sinne der nationalsozialistischen Bewegung umzudeuten.

Das Bestreben nach einem Mythos der ›nordischen Rasse‹ öffnete die Germanistik für skandinavische Mythologie, die wiederum Bestandteil der nationalsozialistischen Ideologie wurde. Im Rahmen der ›Volkskunde‹ wurde auch an der Göttinger Universität bereits seit den 20er Jahren altnordische Philologie und germanische Kulturwissenschaft unterrichtet.17 Der sogenannte Bereich der Nordistik sollte somit dabei helfen, das Narrativ eines dezidiert germanischen Volksbegriffes zu propagieren. Das Unternehmen erfuhr unter der Leitung von Gustav Neckel 1935 weiteren Aufwind, als er eine Abteilung für Nordische Philologie gründete.18

Die Deutsche Bewegung als »Scharniererzählung«19

In seiner Rede zur Göttinger Bücherverbrennung umriss Gerhard Fricke die Aufgabe der Germanistik im Nationalsozialismus als spezifisch völkische Wissenschaft: »Wir haben nur eine Pflicht: uns erfüllen zu lassen mit den Kräften des erwachten völkischen Lebens, uns ganz und ohne Vorbehalt einzuordnen in den Dienst am werdenden Volk und Reich […]. Hier hat gerade die Hochschule die große Möglichkeit, ihren Zerfall in einen abstrakten Spezialismus zu überwinden.«20 Er verwob die Germanistik auf vielfache Weise mit der nationalsozialistischen Ideologie. Er betonte die Nützlichkeit der Germanistik für das deutsche Volk, dockte an den Lebens-Diskurs an, bediente antimoderne Ressentiments und beschwor die Volksgemeinschaft. Die Rede vom ›Volk‹ ermöglichte es Germanisten wie Fricke, Wissenschaft mit nationalsozialistischen Inhalten zu verknüpfen. Aus diesem Grund bezeichnet Gerhard Kaiser die Rede vom ›Volk‹ als einen »zentralen Scharnierbegriff dieser Phase«.21 Der Begriff des ›Volkes‹ konnte zu Beginn des 20. Jahrhunderts bereits auf eine lange Wirkungsgeschichte zurückblicken: Schon Jacob Grimm veranlasste in seinen Göttinger Jahren, dass die Volkskunde in das Lehrprogramm aufgenommen wurde.22 Das machte die Rede vom Volk überaus anschlussfähig für den Nationalsozialismus. Die Germanistik ergriff die Chance und stellte sich bereitwillig als Volkstumsbewegung und identitäts- bzw. sinnstiftende Nationalwissenschaft auf.23

Die irrationalen, mythologischen und Volks-bezogenen Anlagen der Germanistik kulminierten bereits während der Weimarer Republik in der ›Deutschen Bewegung‹. Sie war ein revisionsgeschichtlicher Versuch, die Entwicklungen der deutschsprachigen Literatur als ein sukzessives Zu-Tage-Treten einer deutschen Volksseele auszulegen. Auch in Göttingen arbeiteten Germanisten an diesem Geschichtsnarrativ: Im Wintersemester 1933/34 bot Rudolf Unger eine Vorlesung zum Thema »Herder, Sturm und Drang und die Grundlegung der ›Deutschen Bewegung‹« an.24 Es bedurfte nach 1933 nur geringer Modifikationen, um diese Scharniererzählung mit dem politischen Zeitgeschehen zu parallelisieren und die NS-Ideologie so in ein Traditionskontinuum einzuschreiben.25

Das Fundament dieses Kontinuums bildeten völkische Affinitäten, die sich bereits vor 1933 in der Literaturwissenschaft in irrationalen, mythologischen

Reihe

Kritische Fachgeschichten


Die Reihe ermöglicht Autor*innen wie Leser*innen eine kritische Auseinandersetzung mit Teilen der Fachgeschichte von Germanistik, Skandinavistik und Anglistik (alle drei angesiedelt am Jacob-Grimm-Haus/siehe Titelbild) in Göttingen. Was haben Koryphäen des Fachs im NS getrieben? Was schrieben die Grimms außer Märchen? Zu diesen und weiteren Themen informiert ihr euch hier.

 
 
und nationalistischen Tendenzen äußerten. Der Hinweis auf Kontinuitäten soll dabei nicht die aktive Beihilfe der Germanisten herunterspielen. Der bereits erwähnte Litlog-Artikel zur Göttinger Bücherverbrennung arbeitet explizit die Verantwortung der »akademische[n] Brandstifter« heraus, die sich besonders in Frickes perfider Rede ausdrückt. Kontinuitäten sind in dem vorliegenden Beitrag hauptsächlich in Hinsicht auf eine Ausprägung der Germanistik im Nationalsozialismus aufgezeigt worden, die sich darauf konzentrierte, das politische Zeitgeschehen in Verbindung mit der ›Deutschen Bewegung‹ und ihrer Literatur zu setzen. Gerhard Kaiser unterscheidet mit Ludwik Fleck diesen Denkstil26 in seiner Habilitationsschrift von drei weiteren Denkstilen, die prägend für die Germanistik im Nationalsozialismus waren. Auf einen Vortrag Kaisers gestützt stellt zudem der Auftaktartikel zur Reihe Kritische Fachgeschichten die verschiedenen Ausprägungen der Literaturwissenschaft im NS dar.

Die überraschende Wendung, die die Recherche an dem vorliegenden Artikel genommen hat, hinterlässt ein ungutes Gefühl: Wie lässt sich verhindern, dass das Wissen, das die Germanistik zusammenträgt, nicht innerhalb von wenigen Jahren mit nur geringfügigen Modifikationen völkisch interpretiert wird? Der Zustand der Literaturwissenschaft in der Weimarer Republik stellt vor diesem Hintergrund eine Warnung an alle angehenden Literaturwissenschaftler*innen dar. Die Geschichte des Göttinger SDP zeigt, wie schnell sich die Literaturwissenschaft dazu instrumentalisieren lässt, Verbrechen zu legitimieren.

  1. Hunger, Ulrich: Germanistik zwischen Geistesgeschichte und »völkischer Wissenschaft«. Das Seminar für Deutsche Philologie im Dritten Reich. In: Becker, Henrich/Dahms, Hans-Joachim/Wegeler, Cornelia: Die Universität Göttingen unter dem Nationalsozialismus. 2. Aufl. München 1998, S. 366.
  2. Ebd.
  3. Hunger, Ulrich: Chronik des Seminars für Deutsche Philologie. In: Honemann, Volker: 1889-1989. Hundert Jahre Seminar für Deutsche Philologie der Georg-August-Universität Göttingen. Göttingen 1989, S. 12.
  4. Vgl. Kaiser, Gerhard: Grenzverwirrungen – Literaturwissenschaft als Wesens- und Wertewissenschaft und als Wirklichkeitswissenschaft im Zeichen des »Volkes«. In: Ders./Saadhoff, Jens: Spiele um Grenzen. Germanistik zwischen Weimarer und Berliner Republik, Heidelberg 2009, S. 23.
  5. Ebd., S. 24.
  6. Hunger, Ulrich: wie Anm. 3.
  7. Kaiser, Gerhard: Grenzverwirrungen. Literaturwissenschaft im Nationalsozialismus. Berlin 2008 (zugl. Habil. Univ. Siegen 2006), S. 97.
  8. Kaiser, Gerhard: wie Anm. 4, S. 29.
  9. Zit. nach Hunger, Ulrich: wie Anm. 1, S. 367.
  10. Ebd.
  11. Der Lebens-Diskurs bezeichnet eine Debatte, die im Zuge der ›Deutschen Bewegung‹, die im nächsten Abschnitt näher besprochen wird, geführt wurde. Der Begriff des (›deutschen‹) Lebens wurde dabei einem vermeintlich puren Rationalismus der (westeuropäischen) Aufklärung als ein umfassenderes Konzept entgegengehalten. Vgl. Kaiser, Gerhard: wie Anm. 4, S. 26.
  12. Hunger, Ulrich: wie Anm. 1, S. 367.
  13. Ebd., S.369.
  14. Piper, Ernst: Alfred Rosenberg. Hitlers Chefideologe. München 2005, S. 200.
  15. Ebd., S. 202.
  16. Vgl. ebd.
  17. Vgl. Hunger, Ulrich: wie Anm. 1., S. 367.
  18. Vgl. ebd., S. 368.
  19. Kaiser, Gerhard: wie Anm. 4, S. 29.
  20. Fricke, Gerhard: »Wider den undeutschen Geist« (Gehalten am 10. Mai 1933). In: Göttinger Hochschul-Zeitung. SoSe 1933, Nr. 2. 18./19. Mai 1933, S. 3.
  21. Kaiser, Gerhard: wie Anm. 4, S. 21.
  22. Vgl. Hunger, Ulrich: wie Anm. 3., S. 7.
  23. Vgl. Hunger, Ulrich: wie Anm. 1.
  24. Vgl. ebd., S. 370.
  25. Vgl. Kaiser: wie Anm. 4, S. 29.
  26. Das Konzept der »Denkstile« geht auf eine Wissenschaftstheorie zurück, die Ludwik Fleck in seinem Werk Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv entwirft.


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 Veröffentlicht am 13. Dezember 2019
 Kategorie: Wissenschaft
 ©Anna-Lena Heckel
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