Diedrich Diederichsen, der Platon der deutschen Pop-Theorie, durchschreitet in seinem neuesten Buch Über Pop-Musik das weitläufige Gelände der Geschichte populärer Songs und verknüpft dabei gekonnt musikalische, performative, historische und gesellschaftliche Perspektiven.
Von Kevin Kempke.
Wenn es so etwas wie lebende Legenden gibt, dann ist Diederich Diederichsen eine von ihnen. Mit einem Namen gesegnet, der auch als veritabler Künstlername durchgehen würde, hat er in seiner schon über 30 Jahre währenden Karriere eine ähnliche große Menge von symbolischem Kapital angehäuft wie ein anderer großer DD, nämlich Dagobert Duck, an monetärem Vermögen. Diederichsen und seiner intellektuellen Durchdringung der Pop-Musik wird es maßgeblich zugeschrieben, dass in Deutschland überhaupt auf einem hohen Abstraktionsniveau über popkulturelle Phänomene diskutiert werden kann.
Ist Diederichsen in seiner Vorreiterstellung ohnehin schon eine Art Platon der deutschen Pop-Theorie, so könnte sein neues Buch einiges dazu beitragen, dass in Zukunft tatsächlich das gesamte kommende Pop-Schrifttum eine Fußnote zu seinem neuen Buch Über Pop-Musik darstellt. Das Ziel des Buches ist nämlich nichts weniger als die Etablierung einer eigenen Wissenschaft der Pop-Musik: ganz so wie sich »die Filmwissenschaft gegen die Theaterwissenschaft und die Theaterwissenschaft im Kampf mit der Literaturwissenschaft durchsetzen musste« (S. 457), so soll sich die »Pop-Musik-Wissenschaft« nun ebenfalls als eigenständiger Forschungsbereich emanzipieren. Bereits der Titel Über Pop-Musik weist dabei schon auf den systematischen Anspruch und den Willen zum Standardwerk hin.
Bei der Lektüre zeigt sich dann auch, dass es an einer solchen Grundlegung bisher gefehlt hat. Denn obwohl Pop-Kultur und Pop-Musik (für Diederichsen ein wichtiger Unterschied!) zunehmend in hochkulturell-akademische Kontexte diffundieren, und das Legitimationsbedürfnis für die wissenschaftliche Beschäftigung mit Pop-Musik tendenziell immer geringer wird, so klingen immer noch alte (Vor-)Urteile nach, Stichwort Kulturindustrie. An Adorno scheint zumindest in Diederichsens Generation immer noch kein Vorbeikommen zu sein, wenn man über Populärkultur spricht und sei es im Modus der kritischen Distanzierung von übelgelaunten Tiraden gegen die Kulturindustrie. Mehr als einmal hat man Diederichsen dann auch vorgeworfen, dass er in seiner Analyse von Pop-Musik zu viel intellektuellen Aufwand an ein zu triviales Phänomen verschwende. Auch wenn man dieser (post-)adornesken Geringschätzung von allem, was nicht kunstautonome Weihen besitzt, nicht unbedingt zustimmen mag, so weist die Kritik doch auf ein zentrales Merkmal auch des neuesten Diederichsen-Werkes hin: Über Pop-Musik liest sich jedenfalls nicht, wie sich ein Pop-Song hört, also eingängig, süffig, mit der Aussicht auf »instant gratification«, sondern eher wie ein komplexes Konzeptalbum: etwas schwer verdaulich, manchmal erst im dritten oder vierten Anlauf verständlich, dafür aber auf Dauer befriedigender als der typische 3-Minuten-30-Chartstürmer. Das ist für Diederichsen-Leser natürlich nichts Neues, obwohl das Buch insgesamt schon weniger hermetisch daherkommt als manch anderer seiner Texte.
Dem Anspruch auf Systematik in der Gesamtanlage des Buches, läuft leider eine mitunter störende Sprunghaftigkeit und Ungenauigkeit im Detail entgegen. So ist es keine Ausnahme, wenn Diederichsen im Kapitel über Songtexte beispielsweise ankündigt, zwischen »fünf Typen von Texten« (S. 307) unterscheiden zu wollen, dann allerdings nur einen explizit benennt und es dem Leser große Schwierigkeiten bereitet, im folgenden Gedanken-Zickzack die vier anderen Typen zu identifizieren. Der Aspektreichtum des Buches findet darin sein negatives Korrelat.
Bei allem systematisch-theoretischen Anspruch nehmen historische Fallstudien einen zunehmend gewichtigen Teil des Buches ein. Zum Glück: stets aufs Neue beeindruckend ist Diederichsens Fähigkeit, auf wenigen Seiten die Geschichte einzelner Genres oder bestimmter Stilmerkmale passgenau zu erzählen, etwa wenn er die Vorherrschaft gewisser Stimmtypen mit der Entwicklung der Mikrofontechnik verknüpft und damit Frank Sinatras Ins-Mikro-Flüstern als Bedingung der Möglichkeit für den Siegeszug der »schwachen Stimmen« à la Dylan ab den 60ern erklärt – wie viel Sinn macht es da auf einmal, dass Dylans neues Album eine Sinatra-Hommage ist.
Bei der enormen Dichte von theoretischen Aussagen ist man immer dankbar für illustrierende Beispiele, zumal hier Diederichsen seine journalistische Wertungsfreude nicht versteckt und immer wieder für schöne Bonmots sorgt – Eric Clapton wird als »Knallkopf« (S. 145), Rod Stewart als »authentizitätsterroristische[r] ‚Sailing‘-Schreihals der Selbstverwirklichungsjahrzehnte« (S. 299) bezeichnet. Der Geschmack Diederichsens prägt die Auswahl der Beispiele stark. Wenig überraschend, dass er sich nicht weit von dem Spektrum entfernt, das Thomas Hecken als »Avant-Pop« bezeichnet hat. 1 Es kommen also vermehrt solche Phänomene zur Sprache, die innerhalb der Pop-Musik zum »hochkulturellen« Kanon (sofern es einen solchen gibt) gezählt werden. Das spricht nicht unbedingt gegen das Buch, nur sollte man sich darüber im Klaren sein, dass der schauerliche Bodensatz der Pop-Musik meist gar nicht oder nur am Rande vorkommt. Ebenso beschreibt das Buch nicht unbedingt den Ist-Zustand der Pop-Rezeption, sondern ihre im Optimalfall zu erreichenden Möglichkeiten. Wer Pop lediglich als Tapetenmusik wahrnimmt und sich gar nicht für die nach Diederichsen alles entscheidende Frage »Was ist das da für ein Typ?« interessiert, verfehlt diese Möglichkeiten. Durch diese anspruchsvolle Konzeption entfernt sich Diederichsens Pop-Begriff von seiner Wortherkunft und wird elitär. Mit dieser Adelung ergibt sich freilich auch die Legitimation, so emphatisch von ihm zu sprechen, wie es das Buch tut.
»ein armer Hirnhund«Trotz der Emphase darf man nicht vergessen, dass es auch in der scheinbar ewig jungen Pop-Musik so etwas wie eine Gnade der frühen Geburt gibt. Diederichsen besitzt diese Gnade und kann daher alte »Geschichten aus der Rezeption« erzählen (nicht umsonst ziert ein Kinderfoto des Autors die erste Seite nach dem Inhaltsverzeichnis). Dabei entdeckt man als Subtext des Werkes das alte Schiller’sche Gegensatzpaar: der naive Zugang, die Euphorie der ersten Pop-Jahre, ist inzwischen verstellt, einzig der sentimentalische Blick auf das verlorene Paradies ist noch übrig. Wobei der Witz natürlich darin besteht, dass es mit der Naivität ohnehin schon so eine Sache ist, schließlich bedeutet Pop immer auch kulturindustrielle Produktion. Genauer müsste man also sagen; die Naivität des Rezipienten, der ja die Pop-Musik in seiner Person erst zusammensetzt. Gleichzeitig ist die Reflexionsfähigkeit natürlich die Grundlage für eine Form der Beschäftigung, die sich vom reinen Fantum unterscheidet. In dieser Hinsicht kann man Diederichsens Haltung zu seinen eigenen Anfängen dann auch sentimentalisch nennen, wenn er in erinnernder Vergegenwärtigung an den Anfang des Buches die Beschreibung seines Initiationserlebnisses setzt – ein Johnny Winter-Konzert, das als Blaupause eines gelungenen Pop-Erlebnisses betrachtet werden darf.
Wer allerdings viele biographische Anekdoten erwartet, wird enttäuscht werden. Und trotzdem erfährt man so manches über Diederichsens Leben in und neben der Pop-Musik. Bei seinen Streifzügen durch die Pop-Geschichte klingt nicht nur der Blues des Fans an, dessen große Erlebnisse schon Jahre zurückliegen, sondern auch der Blues des Pop-Theoretikers, der mit einschlägigen Buch-Veröffentlichungen und mehreren Tausend Rezensionen bereits souverän sein Feld bestellt hat (siehe auch Diederichsens schwindelinduzierendes Publikationsverzeichnis). Diese »been there, done that«-Haltung ist natürlich gerade für die Rezeption von Pop fatal. Eine Haltung aber, die sich bei der intellektuellen Beschäftigung mit Pop-Musik vielleicht fast zwangsläufig ergeben muss. In einem Interview sagte Diederichsen dementsprechend, dass er inzwischen vor allem solche Pop-Musik suche, die sich dem unmittelbaren Verständnis entziehe: »Wenn das dann mal passiert, dann ist das natürlich das größte Geschenk, das es gibt. Dann habe ich die nächsten Tage etwas zu tun.«2
Dass Pop-Musik flüchtiger als andere Kunstformen ist, liegt auf der Hand. Sie funktioniert einfach nicht, wenn man sie zu hören versucht wie die sogenannte klassische Musik. Der Grund dafür ist relativ banal: Der Abnutzungseffekt von, sagen wir, Mahlers 9. Symphonie ist geringer als der von beispielsweise Let it be, einfach weil bei Mahler musikalisch mehr passiert. Es gibt wohl nur sehr wenige Songs, die man öfter als (höchstens) ein paar Dutzend Mal hören möchte, wenn man nicht gerade etwas Außermusikalisches damit verbindet: »Ein guter Song ist nur gut, ein Erlebnis nur überwältigend, wenn es in Verbindung steht mit einer sozialen Energie, einer Erfahrung, die den Song adelt. « (S.416)
Vor diesem Hintergrund steht auch Diederichsens Gedankengang im letzten Teil seines Buches über »die Gesellschaft der Pop-Musik«. Dort begegnet man einem vom Diederichsen bereits bekannten historischen Verlaufsmodell. Was bei Diederichsen früher »Pop I« und »Pop II«3 hieß, sind nun die »heroischen“ und die »weniger heroischen« Jahre der Pop-Musik. Diese Änderung bringt die implizierte Abwärtsbewegung bereits in den Begriffen auf den Punkt: Während die Pop-Musik in den 60ern und 70ern noch soziale Energie erzeugen und kanalisieren konnte, geht ihr diese Fähigkeit in den 80ern zunehmend ab. Statt der emphatischen (auch politischen) Identifikation mit einem durch die Musik zum Ausdruck gebrachten Lebensstil ist nun das längst nicht mehr existenzielle An- und Ablegen verschiedener Stile vorherrschend. Tendenz weiter negativ.
Da überrascht es nicht, dass das Buch, je näher es der Gegenwart kommt, einen zunehmend schärferen Ton bekommt: »Niemandem ist unbekannt, dass die meiste Pop-Musik nicht nur schlecht, sondern grauenhaft, widerwärtig, katastrophal ist. Wenn Pop-Musik nicht gelingt, ist sie schlimmer als misslungen. Sie ist die zentrale Belästigung der Welt, sie kündet fortgesetzt davon, wie Leben ramponiert und verschwendet wird. « (S.414) Gilt das natürlich auch für die historische Pop-Musik, zeigt besonders der »Ausblick« betitelte letzte Abschnitt des Buches, dass es anscheinend wenig Hoffnung auf ein Fortbestehen der Pop-Musik gibt, wie sie Diederichsen in seinem Buch beschreibt.
Unter den Bedingungen der digitalen Kultur werden zwei Pole konturiert, zwischen denen sich laut Diederichsen die weitere Entwicklung abspielen wird. Auf der einen Seite der Weg hin zu »absoluter Pop-Musik«, auf der anderen Seite eine totale Enthistorisierung, die ein »Auf-Dauer-Stellen von Indie-Rock und ein paar Soul-Spielarten als für alle Ewigkeiten verbindliches Kommunikationssystem für eine längst verschwundene Mittelschicht und ihre narzisstischen Jugendlichen« zur Folge hat (S. 448f.). Trotz dieser pessimistischen Haltung wird Diederichsen nicht larmoyant und ist daher auch nicht mit den Nostalgikern zu verwechseln, deren musikalischer Horizont mit spätestens 25 für ihr ganzes Leben abgesteckt ist. Dafür dürfte die Neugier Diederichsens, der immer noch neue Platten für die Spex bespricht, auch zu groß sein. Trotzdem spricht aus den fast 500 Seiten seines Buches auch der Tonfall des Epitaphs. Es ergibt sich damit ein merkwürdiges Ergebnis, das sich freilich schon in der zunehmenden Verschmelzung von historischen und systematischen Teilen des Textes ankündigt: Die Pop-Musik in Diederichsens Sinne ist ein historisch lokalisierbares Phänomen. Sein Buch stellt eine Theorie eben dieses Phänomens dar, die zwar Ausblicke auf neueste Entwicklungen erlaubt, aber diese selbst nicht umfassend beschreibt. Deshalb ist mit Diederichsens Buch zwar vieles, aber zum Glück nicht alles über Pop-Musik gesagt. Gerade deswegen kann man sich auf zukünftige Bücher freuen, die an die unzähligen ausgelegten Fährten weiterdenkend anknüpfen, so wie es ja auch nach Platon noch mit der Philosophie weitergegangen ist.