Clemens Meyer erzählt in Die stillen Trabanten von unwahrscheinlichen Begegnungen am Rande der Nacht und entwickelt dabei eine melancholische Ästhetik. An die unbändige Kraft früherer Werke kann er aber leider nicht anschließen.
Von Christian Dinger
Clemens Meyer ist längst kein Außenseiter mehr in der deutschen Literatur. Etwas Kurioses haftet ihm zwar noch an, sein Biertrinker-Habitus, der ihm die Rezensenten-Spitznamen »Bad Boy«, »Vorzeige-Prolet« und »Tattoomann« eingebracht hat, wird immer noch wahrgenommen und thematisiert. Aber mittlerweile hat Meyer einen festen Platz unter den GegenwartsautorInnen. Er hat sozusagen seine Nische gefunden – als Unterschichten-Erklärer, als Nachtschwärmer und vor allem als Meister der deutschsprachigen short story.
Schon sein Debütroman Als wir träumten wurde eher als Sammlung von Kurzgeschichten wahrgenommen. Zu fragmentiert für einen groß angelegten Roman, zu episodisch erzählt, zu wenig Personal – geschadet hat es dem Erfolg von Meyers Erstling aber nicht. Dann folgte tatsächlich ein Band mit Kurzgeschichten, Die Nacht, die Lichter, für den der Autor 2008 den Preis der Leipziger Buchmesse erhielt; dann Gewalten, das trotz des Untertitels Ein Tagebuch ebenfalls Kurzgeschichten enthält. Und auch Meyers großer Roman Im Stein besteht im Grunde aus kurzen, eigenständigen Erzählungen mit wechselnden ProtagonistInnen, die durch das Netz des Rotlichtmilieus miteinander verbunden sind.
Nun legt Clemens Meyer mit Die stillen Trabanten wieder einen klassischen Erzählungsband vor. Die darin enthaltenen Geschichten haben alle einen gemeinsamen Nenner: Sie handeln von unwahrscheinlichen Begegnungen zwischen zwei Menschen. Diese finden (fast immer) nachts (fast immer) zwischen einfachen Leuten statt, das heißt Leuten, die im weitesten Sinne zur Arbeiterklasse gezählt werden können: Reinigungskräfte, Nachtwächter, Imbissbesitzer, Friseurinnen und Soldaten. Germanistikstudenten, Philosophieprofessorinnen, Chirurgensöhne und Managertöchter sucht man in Meyers Werk vergeblich.
Da ist zum Beispiel der Nachtwächter einer Asylunterkunft, der sich in eine geheimnisvolle junge Frau am anderen Ende des Zauns verliebt. Da sind zwei hart arbeitende, einsame Frauen, die sich spät nachts im großen Leipziger Hauptbahnhof begegnen (einer von Meyers Lieblingsschauplätzen). Zwischen ihren Schichten trinken die beiden ein Glas in einer Bahnhofskneipe, nachdem die eine von der S-Bahn-Reinigung kommt und bevor die andere mit dem Haareschneiden anfangen muss, reden erst wenig, dann mehr, und fangen ganz zaghaft eine Freundschaft an.
Meyer zeigt viel zärtliche Aufmerksamkeit für seine Figuren. Er lässt sie reden, er lässt sie schweigen, er lässt sie versonnen in die Nacht blicken. Alles ist mit einer leichten Melancholie überzogen, die aber nie ins Dramatische kippt. Hier gibt es keine grobschlächtigen Rotlichtszenen, keine physische Gewalt, keine jugendlichen Kleinkriminellen und keine Unterwelt-Bosse wie in anderen Texten des Autors.
In den besten Fällen äußern sich diese ungewohnt zarten Töne wie in der Titelgeschichte des Bandes, in der Meyer wunderbar unaufgeregt von der Begegnung eines gläubigen Muslims mit dem Besitzer einer Imbissbude erzählt. Eines Tages steht Hamed mit seiner Gebetskette im Schnellimbiss des Ich-Erzählers. Sie kennen sich aus dem Hochhaus, in dem beide wohnen, sind Nachbarn oder zumindest beinahe. Hamed bestellt ein Steaksandwich ›New York‹ (das einzige Gericht ohne Schweinefleisch), sie trinken Tee, und bald darauf besucht der Erzähler seinen neuen Freund in der Moschee, liest abends im Koran und spricht Suren vor sich hin, während er auf dem Grill Thüringer Bratwürste wendet. Nachts raucht der Imbissbudenbesitzer manchmal heimlich mit Hameds Frau Zigaretten im Treppenhaus ihres Hochhauses und am Ende verliebt er sich in die schüchterne Konvertitin, die versucht, mit ihrem Kopftuch ihre Aknenarben zu verbergen.
In dieser Geschichte schafft es Meyer fernab jeder Klischees und jedes cultureclash-Kitsches von den verborgenen Begegnungen der Gegenwart zu erzählen. Dennoch werden geübte Meyer-LeserInnen womöglich enttäuscht sein von den sanft dahinplätschernden Stories und der ein oder die andere wird nach der Lektüre nicht ganz zu unrecht sagen: »Ein bisschen mehr dürfte es dann aber vielleicht doch sein, Herr Meyer!« Denn das Behutsame und Melancholische lässt in dieser Frequenz zuweilen die unbändige Energie vermissen, für die der Autor sonst bekannt ist. Das manisch-kunstvolle Verweben verschiedener Motive und Zeitebenen, wie es am vollendetsten wohl im gnadenlos unterschätzten Bändchen Gewalten und in Meyers Frankfurter Poetikvorlesung Der Untergang der Äkschn GmbH zu bewundern war, sucht man hier vergebens. Zwar wird auch in Die stillen Trabanten hin und wieder unvermittelt die Zeitebene gewechselt, im langsamen Erzählfluss wirkt das aber eher verwirrend als dass es einen in den Gedankenstrom der Erzählung hineinzieht.
Die letzte Geschichte des Bandes fällt sichtlich aus dem Rahmen. Darin erzählt Meyer von Willi Bredel, einem der Vorreiter sozialistisch-realistischer Literatur, der im Moskauer Exil in der Lenin-Bibliothek sitzt und an seinem Roman über Klaus Störtebeker schreibt. Dabei vermischen sich die Szenen aus dem Störtebeker-Roman mit Erinnerungen Bredels, wie er mit seinem Freund Johannes R. Becher in den Lagern der Nationalsozialisten einsaß und im spanischen Bürgerkrieg kämpfte. Schließlich wird er vom späteren SED-Kulturfunktionär Alfred Kurella besucht, der um Bredels Mithilfe beim Aufbau einer Schule bittet, »wo Arbeiterkinder zu Schriftstellern werden«. Natürlich handelt es sich dabei um das 1955 gegründete Literaturinstitut in Leipzig, an dem auch Clemens Meyer sein Handwerk lernte. Sieh an, der Meyer kann also auch historische Stoffe! Von solchen Experimenten beim nächsten Mal gerne mehr.