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Auf holprigen Wegen

Trigger-Warnung: Diskriminierung von trans*-Personen

Der Dokumentarfilm Petite Fille von Sébastien Lifshitz portraitiert den Alltag und die Kämpfe des trans*-Mädchens Sasha. Gezeigt werden die verheerenden Folgen von strikten Geschlechternormen, aber auch Momente von Solidarität und Ausbrüche aus Rollenbildern.

Von Pia Schirrmeister

Sasha steht vor dem Spiegel und zieht gedankenverloren, aber sichtlich zufrieden ein glitzerndes Kleid über. »Wenn wir spazieren gehen, wird Sasha auf der Straße wie selbstverständlich als Mädchen angesprochen«, berichtet Mutter Karine. In der Schule und im Ballettunterricht muss die Achtjährige hingegen täglich darum kämpfen, sie selbst sein zu können. In ihrem Pass ist das männliche Geschlecht eingetragen, mit dem sie sich nicht identifiziert und einige Menschen in ihrem Umfeld weigern sich beharrlich, das anzuerkennen. Der Film Petite Fille von Regisseur Sébastien Lifshitz begleitet Sasha und ihre Familie in ihrem Engagement für ein Recht auf Selbstbestimmung der eigenen Geschlechtsidentität. Er feierte im Februar 2020 Premiere und wurde nun im Rahmen des 37. Kasseler Dokfests gezeigt, das in diesem Jahr aufgrund des Teil-Lockdowns online stattfand.

Ein Leben zwischen Welten

Sasha wächst mit ihren Eltern und Geschwistern im französischen Reims auf. Bereits im Alter von zwei Jahren erzählt sie ihrer Mutter: »Wenn ich groß bin, werde ich ein Mädchen.« Als diese antwortet, dass das nicht möglich sei, ist Sasha todunglücklich. »Ich hatte den Eindruck, all ihre Träume zu zerstören«, berichtet Karine rückblickend, sichtlich bewegt.

Im Kreis der Familie kann Sasha in den folgenden Jahren sie selbst sein. Sie darf sich kleiden, wie sie möchte, und darf ihr Zimmer nach eigenen Vorstellungen einrichten. Außerdem wird sie auf ihren Wunsch hin mit dem Pronomen »sie« angesprochen. In der Schule wird das von Seiten des Direktors anfänglich strikt verwehrt, ebenso im Ballettunterricht. Daher muss Sasha in diesen Einrichtungen weiterhin vorgeben, ein Junge zu sein und versuchen, gängigen Rollenbildern zu entsprechen. Das führt so weit, dass sie keine Freund:innen zu sich nach Hause einladen kann – aus Angst davor, dass diese ihr »Mädchenzimmer« zu Gesicht bekämen. Etwas Bewegung setzt erst ein, als Sasha und Karine eine Schulpsychologin in Paris treffen. Diese bietet Gespräche über Sashas Erfahrungen an, klärt über mögliche hormonelle Behandlungen auf und erstellt schließlich auch ein psychologisches Gutachten zur Vorlage beim Schuldirektor. All das eröffnet Sasha neue Perspektiven.

Die potenzielle Gewalt von Normen

Petite Fille zeichnet das Bild einer Gesellschaft, in der Geschlechterzuweisungen bei der Geburt weiterhin als zentrale Kategorien im sozialen Miteinander gewertet werden. Der Film zeigt deutlich, wie brutal diese verinnerlichten Rollenbilder auf Menschen wirken können, die ihnen nicht entsprechen: In einer weithin trans*-exkludierenden Umgebung muss Sasha immer wieder für sich selbst einstehen und darum kämpfen, sich von zahlreichen Ausschluss- und Diskriminierungserfahrungen nicht unterkriegen zu lassen.

Zu solchen Erfahrungen zählen nicht nur direkte Ablehnungen ihrer Person und die großen bürokratischen Hürden zur Änderung des Geschlechtereintrags, sondern auch medizinische Kategorisierungen. Die sogenannte »Geschlechterdysphorie«, die die Schulpsychologin Sasha bescheinigt, wird in Deutschland weiterhin als »Geschlechtsidentitätsstörung« bezeichnet. Dies geht auf den aktuell gültigen Krankheitskatalog (ICD-10) der WHO zurück, in dem trans*-Personen unter dem Abschnitt »Mentale Störungen und Verhaltensstörungen« geführt werden. Solche Begrifflichkeiten stützen einmal mehr exklusive Geschlechternormen und pathologisieren ein Leben abseits dieser, anstatt trans*-feindliche Strukturen in der Gesellschaft zu problematisieren. Dank dem internationalen Engagement von trans*-Initiativen konnte eine Veränderung der medizinischen Einordnung von trans*-Personen innerhalb des ICD-11 erkämpft werden. Das ICD-11 mit dem neuen Begriff »Geschlechtsinkongruenz« tritt im Januar 2022 in Kraft.

Aufblühen unter Widrigkeiten

Neben zahlreichen aufreibenden Momenten gibt der Film auch Lichtblicke – Szenen, in denen Sasha Raum für freie Selbstentfaltung gegeben wird und es den Menschen in ihrem Umfeld egal ist, was auf einem Blatt Papier steht. Sashas Familie handelt dahingehend sehr liebevoll und unterstützend. Auch Sashas Freund:innen reagieren gelassen auf ihr »Coming out« und sprechen sie beim Spielen in Sashas Zimmer fortan mit dem richtigen Pronomen an. Als schließlich auch der Direktor nach langen Auseinandersetzungen einwilligt, dass Sasha »an der Schule Mädchen sein könne«, fällt von ihr sichtlich viel Anspannung ab. Endlich muss sie sich hier nicht mehr verstecken.

Gemeinsam mit Karine kann Sasha jetzt die Kleidungsstücke aussortieren, mit denen sie in der Schule vorgab, ein Junge zu sein. »Weißt du, auch Mädchen können blaue Sachen anziehen«, sagt Karine dabei zu ihr. Überhaupt sollten Menschen nach Lust und Laune entscheiden können, wie sie sich kleiden, was sie gerne machen, wie sie ihr Zimmer einrichten wollen – frei von Rollenbildern. Dafür müssen sich jedoch noch viele gesellschaftliche Strukturen und Mentalitäten ändern. Sowohl der Film als auch das Engagement von Sasha und ihrer Familie tragen dazu bei.



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 Veröffentlicht am 20. Januar 2021
 Kategorie: Misc.
 Via Pexels, CC0
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