Im Literarischen Zentrum las Doron Rabinovici aus seinem Roman Andernorts. Im Gespräch mit dem Göttinger Germanisten Matthias Beilein stand Rabinovici als Literat im Vordergrund. Obgleich er, geboren in Tel Aviv und aufgewachsen in Wien, in Essays und Polemiken häufig auch politische Themen berührt.
Von Martin Jurk
Die Ferne ist ein schöner Ort und sie beginnt ihren Reiz zu verlieren. Ein Ort gleicht dem anderen. Die globalisierte Welt ist ein Dorf geworden. Wer der Enge und Engstirnigkeit des Heimatdorfes entkommen will, muss fliehen, um eine Identität zu entwickeln. Aber wohin soll die Reise gehen, wenn das Ziel der Anfang sein wird? Die Identität braucht einen Platz, an dem sie sich frei entfalten kann, einen Platz in dieser Welt, die größer ist als ein Dorf, in der Nachbarschaftskriege geführt werden. Ideologien schaffen Mauern und Zugehörigkeit macht die Distinktion leichter.
Wie sieht ein Holocaust-Überlebender die Welt? Wo will er leben? Wie erzieht er seine Kinder? Doron Rabinovici beantwortet diese Fragen in seinem Roman nicht, aber der Blick auf eine jüdische Familie nach dem Zweiten Weltkrieg zwischen Europa und Israel verdeutlicht vieles. Ethan ist, was seine Eltern aus ihm gemacht haben: ein echter Sabre und das hat Doron Rabinovici mit seiner Hauptfigur gemeinsam. Er könnte dieselben Worte von seinem Vater gehört haben, die er in Andernorts Ethan Rosen ins Ohr gelegt hat:
Niemand […] darf so mit dir umspringen. Recht hattest du. Lehn dich auf, wenn sie dich quälen. Lass dir nichts gefallen. Stolz bin ich auf dich. Es ist gut dein Abba zu sein. Hörst du. Tuschtusch. […] Wir, Ethan lassen uns nicht mehr auf den Kopf spucken. Um danach zu sagen daß es regnet. Merk dir das, Ethan. Nie mehr! Du bist ein Sabre. Hörst du, Tuschtusch.
Der österreichische Schriftsteller ist am 09.01.2011 zu Gast im Literarischen Zentrum Göttingen und spricht dort mit Matthias Beilein. Die im Programmheft nicht angekündigte Veranstaltung ist ausverkauft. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass Doron Rabinovicis Andernorts auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2010 zu finden war, die zuletzt auffallend viele autobiografisch motivierte Romane verzeichnete. Vor allem wird es daran liegen, dass Doron Rabinovici seinen dritten Roman mit viel Engagement gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit geschrieben hat. Eine turbulente Geschichte, die keine Gelegenheit verpasst, Identität zu hinterfragen, religiöse wie wissenschaftliche Instanzen herrlich hinters Licht zu führen und sich dem verführerischen Frieden witzelnd und doch wirklichkeitsgetreu entgegenzustellen.
Rund um das Thema der jüdischen Identität entfaltet Doron Rabinovici Gedankengerüste gegen das kollektive Vergessen, für einen Blick in die Geschichte, aus der er für eine antifaschistische und antidiskriminierende Gesellschaft argumentiert. Dafür ist Rabinovici zu Recht mehrfach ausgezeichnet worden, zuletzt mit dem Willy und Helga Verkauf-Verlon Preis des DÖW für österreichische antifaschistische Publizistik 2007.
Mit seiner Überzeugung: »Gedenken ist Vergessen«, fordert er die Auseinandersetzung mit der Geschichte und wendet sich damit gleichsam gegen seine beiden Hauptfiguren. Rabinovici meint: Diese würden es sich zu leicht machen, sie seien fremdbestimmt, was das Verhalten beider voraussehbar mache. Ethan ist radikalisiert skeptisch und Rudi zu versöhnlich, wenn es um die eigene Identität geht. Eines macht dieser hybride, witzig-spritzige, überblickende, wortgewandte Autor nicht, es dem Publikum zu leicht. Er antwortet mit Anekdoten, Witzen, kleinen Geschichten, referiert auf Autobiographisches und nimmt gern eine Gegenposition ein, um der Eindeutigkeit zu entgehen.
»Dort wo die Soziologen keine Antwort fanden, wurden die Rabbiner Experten.«
Andernorts ist in unserer realen Welt angesiedelt. So hat sich Rabinovici ganz bewusst dem Phantastischen entzogen, um Geschichten erzählen zu können, über Menschen, die überall zu Hause sind und nirgends daheim. Heute gebe es – so Rabinovici – eine Art positiv empfundene Diaspora, die im Zusammenhang mit der Vertreibung der Juden aus Palästina eine unüberbrückbare Spannung erzeuge. Es passieren Geschichten, die es Wert seien aufgeschrieben zu werden. Rabinovici im Gespräch:
Ich beschreibe, welches Klima gerade vorherrscht, so, wie viele auch darüber denken. Ich weiß gar nicht, ob ich so typisch dafür bin. Früher wurde sehr gerne unentwegt in den israelischen Lokalen über Politik diskutiert. Das hat sich geändert und ist einer Resignation nach dem Ende des Oslo-Prozesses gewichen.
Der Roman spielt über weite Strecken in Israel und genau hier beginnt das Problem, welches man mit diesem Buch haben kann. Vom Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern erfährt der Leser kaum etwas. Zuweilen finden sich Anspielungen, die vom Leser nur entsprechend seiner Kenntnis fruchtbar werden oder unbemerkt bleiben. Besetzte arabische Gebiete, Sechstagekrieg, Selbstmordattentäter. Ein Palästinenser kommt hier nicht vor.
Doch wenn man ein Buch über die jüdische Identität schreibt und die Geschichte in Tel Aviv und Jerusalem verortet, kann man den Nahostkonflikt dermaßen unerwähnt lassen? Der Staat Israel ist hier so selbstverständlich, als gäbe es die reale Welt nicht mit all den unliterarischen Auseinandersetzungen, die gedanklich, politisch, aber eben auch militärisch geführt werden. Man beginnt Rabinovicis Buch erst zu verstehen, wenn man die Familie mit dem Staat gleichsetzt.
Ethan hörte Rudi aus sich selber reden, und im selben Augenblick dachte er, daß es lächerlich ist, sich so aufzuregen. Geheimnisse waren nun einmal der Kern aller Familien. Ohne Märchen keine Erziehung. Ohne Dunkel kein Elternzimmer. Ohne Heimlichkeit kein Heim.
Bleibt zu fragen, mit welcher Erwartungshaltung der Lesungsbesucher eine solche Veranstaltung betrachtet? Immerhin geht es um eines der brisantesten Krisengebiete der Welt. Rabinovici hätte viel zu erzählen und man hätte mehr erfahren können, als es der literarische Deckmantel zulässt. Der Moderator und auch das Publikum hätten die Gelegenheit nutzen können, um eine Brücke nach »Andernorts« zu schlagen. Doch diskursive Fragen blieben aus und man fragt sich, in welchem Dorf wir eigentlich leben.
Eine interessante Lesung war’s: ein kluger Autor, gut geschriebene Texte, ein kompetenter Moderator. Und zu guter Letzt erklärt mir Martin Jurk meine Irritation an jenem Abend. Danke.