Diggin’ in the Crates! Der Phosphoreszierende Tiger im lyrischen Tiefbau. Auf der anderen Seite der Kugel gibt es drei Gedichte von Christoph Wenzel in Text, Bild und Ton. Vor einem halben Jahr las er live in Göttingen – jetzt für immer digital!
ein insektenstich erinnert dich: die wiese vor der mahd
zwischen schulgelände elternhaus der hauptschulhof direkt
daneben: die gefahrenzone altersunterschied der stachel sitzt
dir groß im zeh und pumpt jetzt kinder racker jugendliche
bienenvölker in die pausen hinter dir und vor dir noch
der heimweg nur das kurze stück schwillt an aus bienen-
wachs sind beide beine und die füße in sandalen mit der
herben glut am großen zeh: es ist schulschluß jetzt und zeit
die wiesen endlich abzumähen
stubenhocker zu hause
ist das wetter immer
gut ins zimmer springt mutters
stimme zur treppe herauf und
vaters mahnung früher
habe man draußen immer räuber
und gendarme gespielt bei wind
und wasser unterm himmel scheint
die sonne in der stube zu hocken
und verfolgt die kinder im versteck
hinter den fenstern: spielt im garten
der blick mit dem anschlagen der
jungen über grundstücksgrenzen hinweg:
abgehörte korrespondenzen vom bolzplatz
prellen die stimmen dem ball hinterher
und prallen im spielzimmer ab
wo die hosen nicht naß die füße
nicht kalt werden wenn es draußen
mal regnet oder schreit
und endlich fällt der kühlturm
in den blick – ein echtes glücksgefühl:
ja das ist heimat nach den langen fahrten
zerfallen vom rücksitz die alphabete
in kennzeichen wir raten kilometerlang
die städte im stau eine art störfall
auf der bahn: ein munteres spiel mit tennis-
bällen lottokugeln aus graphit und bor
die sonne strahlt und wir brüten in raten
das heimweh aus man könnte ganze wüsten-
gebiete damit zubauen und der kopf glüht rot
wie ein durchgebrannter reaktor im radio
ist das wetter die wichtigste nachricht
dieser tage zu hause gibt es gemüse in dosen
von bonduelle und becquerel in den wiesen
hängen die winde von osten im vergleich
nur ein wölkchen hier zum geburtstag
(da liegt nichts vor) gibts die geschenke
erst nachträglich: zerfallsprodukte
helium aus luftballons und ein echtes theater
ohne vokale
In Wenzels Gedichten gibt es keine Kommata, die mich auf dem Weg unter Tage zu einer Pause einladen. Bedeutungseinheiten verschwimmen im Vorüberziehen, nur hier und da ein Doppelpunkt oder Gedankenstrich, der
Stubenhockende Sonnen und hydrographische Wasserschriften in klar klingender Sprache. Zarte Betrachtungen von Traum und Natur in reich-fließenden Vers-Adern. Unbärtige Väter, Bergwerke und Bolzplätze funkeln in grenzenloser Form. Neben kleinem Muschelgeld und Tinnitustönen werden Stürme und Heimat freigelegt. Und immer wieder hochkarätige Bedeutungsverschiebungen. Christoph Wenzel schürft nach den Rohstoffen und bringt mich mit den Taschen voller Kostbarkeiten zurück ans Tageslicht.
Von Anna-Lena Markus