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Der Phosphoreszierende Tiger II
Gellu und Dichter und Naum
Tigrul Fosforescentzur Übersetzung

von Gellu Naum

Exista un tunel în centrul oraşului
care nu ducea nicăieri niciodată
un tunel cu lilieci adormiţi (nimerisem acolo din întâmplare)
mă poticneam la fiecare pas fredonam ca să-mi fac curaj
liliecii se clătinau deasupra mea pe tavan ca lămpile după cutremur
acolo mă aştepta o doamnă (i-am uitat numele)
poate cosea deşi nu mişca degetele
lângă ea ca o pisică gigantică torcea Tigrul Fosforescent
îşi mişca ochii deasupra ei îşi clătina fruntea
eu bâiguiam »poate n-am chef să mai văd lucruri triste«
Tigrul şoptea arătându-mă »uită-te bine la el
într-o noapte ca asta la Belgrad îi era frig îl durea pieptul
îl apăsa ca o lespede prăbuşită peste cei prăbuşiţi«

o stranie oboseală îmi cuprindea umerii
mă gândeam la câteva lucruri absolut inutile
la nişte culori calde (poate focul) la depărtate savane
la adieri geografice peste feţele noastre
»eu o întind« îi spuneam doamnei aceleia
»dacă vrei vino cu Tigrul la gară
am să vă citesc poheme scrise de poheţii anului 2006
care acum păcătuiesc singuri sub marile orgi ale nopţii«

eram la o vârstă îndoliată la sfărşitul unui mileniu
în beznă numai ochii Tigrului luceau
şi în cuvintele mele curgeau alte ape

Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Urs Engeler Editor

Der Phosphoreszierende Tigerzum Original

von Gellu Naum

Im Zentrum der Stadt war ein Tunnel
der nie und nirgendwo zu Ende ging
voller schlafender Fledermäuse (ich war zufällig hineingeraten)
ständig blieb man stecken ich pfiff mir Mut zu
die Tiere an der Decke schaukelten wie Lampen nach dem Erdbeben
mich erwartete eine Dame (ihr Name ist mir entfallen)
anscheinend nähte sie obwohl die Finger ruhten
neben ihr schnurrend eine Riesenkatze Der Phosphoreszierende Tiger
der sie nicht aus den Augen ließ der ständig den Kopf schüttelte
ich stammelte »vielleicht will ich aber nichts Trauriges mehr sehen«
der Tiger raunzte in meine Richtung »sieh an sieh an
in einer Nacht wie dieser hat er in Belgrad vor Kälte gezittert und
Brustweh gehabt
weil über den Verschütteten ein Steinblock auf ihm lag«

seltsame Müdigkeit kroch mir die Schultern hoch
völlig unbrauchbare Dinge gingen mir durch den Kopf
sogenannte warme Farben (Feuer etwa) auch ferne Savannen
geographisch Angehauchtes ein Zephir an unseren Wangen
»ich mach mich aus dem Staub« sagte ich zu der Dame
»du kannst mit dem Tiger wenn du willst zum Bahnhof kommen
ich lese euch von den Pohäten des Jahres 2006 was vor
die unter den großen Orgeln der Nacht jetzt allein sich vergehen«

wir hatten eine Trauerzeit am Ende des Milleniums
bloß die Tigeraugen funkelten im Dunkeln
und durch mein Reden floß es anders

Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Urs Engeler Editor

1

… wir hatten eine Trauerzeit am Ende des Milleniums …
Vielleicht ist es 1844. Der sechsunddreißigjährige Gérard de Nerval steht im Garten des Palais Royal und bewegt sich kaum. In seiner Hand hält er ein blaues Seidenband, am Ende des Bandes auf dem Boden trippelt Thibault, sein Hummer. Auf die kopfschüttelnden Tuscheleien der im Garten Flanierenden reagiert er gereizt. Auf die ständigen Nachfragen, was es denn wohl mit dem Hummer auf sich habe, antwortet er mechanisch. »Ich habe eben eine Vorliebe für Hummer«, sagt er. »Sie sind friedliche, ernstzunehmende Lebewesen und sie kennen die Geheimnisse der Tiefe.« 1841 hatte er einen ersten Nervenzusammenbruch erlitten. 1855 wird er sich an einem Balkon in der Rue de la Vielle Lanterne, einem seiner liebsten Orte, erhängen.

2

Im Zentrum der Stadt war ein Tunnel…
Wo sind wir da hineingeraten? Drei Verse dauert es und Gellu Naum hat uns in einer Geschichte. Wir folgen einem seltsam konturlosen Ich an einen grotesken Ort, außerhalb von Raum und Zeit. Märchenhafte Stereotype reihen sich aneinander: eine scheinbar zufällige Infiltration, bedrohlich-schlafende Blutsauger, ein immer beschwerlicher werdender Weg, das Pfeifen im Walde. Und immer wieder sind wir gewillt, den stark narrativen Gestus in ein kohärentes Ganzes zu bekommen. Doch irgendetwas stimmt da nicht. Kaum drei Verse weiter gelangt die Erzählung in eine Schieflage, wird zum seltsamen Dialog und entrückt mit derart starken Sprüngen, dass der Leser mit einem leicht beklemmenden Gefühl die semantischen Lücken überbrücken muss.

3

… du kannst mit dem Tiger wenn du willst zum Bahnhof kommen …
Die prophetische Dichterlesung findet am Bahnhof statt. Am Bahnhof, wo alles kommt und geht. Wo alles, außer dem Gebäude selbst, Bewegung ist. Die statische Schleuse im dynamischen Alles oder Nichts. Der Bahnhof ist eines der vielen immer wiederkehrenden Motive im Werk Gellu Naums. Er wird zum Sinnbild für eine Dichtung, in der viele Stränge zusammenführen, sich entladen und untereinander austauschen. Eine Dichtung, die nicht vermitteln will, sondern die Dokument einer spezifischen Rezeptionshaltung ist und damit auch immer Auslöser einer die Grenzen verwischenden Erfahrung.

4

… in einer Nacht wie dieser hat er in Belgrad vor Kälte gezittert und Brustweh gehabt …
Vielleicht ist es auch 1944. Sechs Jahre ist es her, dass der dreiundzwanzigjährige Philosophiestudent Gellu Naum dem Maler Victor Brauner folgend nach Paris ging. Anstatt zu studieren verbrachte er ein Jahr unter den Surrealisten Bretons bis er nach Ausbruch des zweiten Weltkrieges als unerwünschter Ausländer nach Bukarest zurückkehren muss. Dort rekrutiert und notdürftig ausgebildet schickt man ihn an die Ostfront (»hoch zu Roß in der Steppe, hungrig, verlaust, entschlossen, die Waffe, die ich hinter mir her zog, nicht zu benutzen, und in der Erwartung, jederzeit umgebracht zu werden«, Gespräch mit Sanda Roşescu). Vier Jahre später wird er so krank, dass man ihn vom Kriegsdienst befreit.

Es ist 1944 und die Rote Armee startet eine Großoffensive gegen die deutsche Wehrmacht, die sogenannte »Belgrader Operation«. Es kommt zur Einnahme Belgrads und dem Rückzug der Deutschen aus dem Balkangebiet.

5

… Pohäten des Jahres 2006 …
Für den bis an sein Lebensende bekennenden Surrealisten Gellu Naum war Dichtung eine existenzielle Art der Lebensbewältigung, die mit einer bestimmten Rezeptionshaltung verbunden ist.

Buch


Gellu Naum
Pohesie
Sämtliche Gedichte.
Aus dem Rumänischen übersetzt von Oskar Pastior, herausgegeben und mit einem Nachwort von Ernest Wichner.
Engeler: Basel 2006.
856 S., 44,40 €

 

D.P.T.

Der Phosphoreszierende Tiger ist der Lyrik-Essay auf Litlog. Er bespricht Gedichte jenseits der Lehrbücher. Er legt einen anderen Zugang zum Gedicht – eine Sammlung mit schiefem Blick. Wer am Projekt mitwirken möchte, meldet sich bei den beiden Herausgebern Andreas Bülhoff und Niels Klenner unter phosphor@litlog.de.
 
 
Dabei wird das Verfassen von Texten zu einer schlechten Angewohnheit, einem Kompromiss, den es in letzter Konsequenz einzugehen nicht Wert ist. Der aber, und da ist man dann beim zentralen Paradox der Naumschen Poetik, die Überwindung der Literatur durch Literatur selbst einleiten will (»[D]ie Poesie ab[]schütteln, indem ich Poesie mache«). Naum ist skeptisch gegenüber großen Worten, Konzepten und Institutionen. Um sich von diesen abzugrenzen, versieht er sie mit einem ironisch eingeschobenen h. Dann wird aus Literatur Literathur, aus Jenseits Jehenseits oder eben aus Poesie Pohäsie. Diese Konzepte gilt es zu unterwandern, ihnen auszuweichen und sie mit ihren eigenen Mitteln zu schlagen. Als Beispiel für einen wahren Poeten, einen poetischen Fanatiker im Sinne Naums, nennt er Gérard de Nerval, der »es verstand, sein Leben zu träumen« (G.N. in seinem Essay Medium).

6

… Der Phosphoreszierende Tiger …
Phosphor (aus dem Griechischen φως-φορος »lichttragend«) ist ein chemisches Element der Stickstoffgruppe und kommt in der Natur ausschließlich in gebundener Form vor. Aufgrund seiner hohen Entzündbarkeit eignet sich vor allem der weiße Phosphor als Zünder bzw. Brandmasse für Brandbomben. Phosphorbomben gelten als besonders grausam und fanden erstmals im zweiten Weltkrieg auf Seiten der Deutschen und Engländer Verwendung.

7

… und durch mein Reden floß es anders
Oder so: Das Gedicht als Emanzipationsbewegung in drei Phasen, wobei sich jede Phase einer Strophe zuordnen lässt. Phase eins: Expositio. Das lyrische Ich trifft an einem ihm fremden Ort auf das Paar aus Dame und Tiger. Diese sind ihm offensichtlich überlegen, was sich zum einen durch die abschätzigen Rede des Tigers, zum anderen durch das Stammeln und die abwehrenden Haltung des Ichs ausdrückt. Phase zwei: Peripetie. Plötzlich spricht das lyrische Ich in selbstsicherem, flapsigem Ton, bestimmt, eigenmächtig zu gehen, und bietet Dame und Tiger sogar an, mitzukommen und ihnen vorzulesen. Das Ungleichgewicht in der Dreierkonstellation beginnt sich zu regeln, der Ort der Rede ändert sich. Phase drei: Katastrophe. In der dritten Strophe kommt es zu einem radikalen Wechsel in der Sprechhaltung. Das inkludierende »Wir« lässt die drei Personen als Kollektiv auftreten. Es wird ein elegischer Ton angeschlagen, der in der Aussage endet, die den Sprecher als Sprachrohr einer Rede kennzeichnet, die durch ihn fliesst. Damit wird das Ich zum eigentlichen Orakel und stellt sowohl sein Sprechen an sich, als auch das ganze Gedicht als eine verbale Schilderung von Ereignissen in Frage.

8

… völlig unbrauchbare Dinge gingen mir durch den Kopf …
Gellu Naums Dichtung erscheint als ein konvulsivischer Erlebnisstrom, ein Konglomerat aus Erinnerung und Traum, Mythologie und Geschichte, Realem und Surrealem. Dabei entzieht sie sich immer dann, wenn man sie allzu sehr auf einen bestimmten Aspekt, eine bestimmte Lesart festzulegen versucht. Wie also begegnet man einem solchen Gedicht? Vielleicht indem man auf die Polyphonie und Andeutungen des Poems reagiert, sich von ihnen leiten lässt und sie stellenweise zu füllen versucht. Vielleicht indem man Assoziativem und Hintergrundwissen einen Raum gibt: skizzenhaften Entwürfen, die als Angebot einer Ergänzung gelesen werden dürfen. Vielleicht gibt es also kein Geheimnis und kein Rätsel. Das Gedicht will nichts. Es steht ja schon alles da.

9

… der ständig den Kopf schüttelte …
»17 Hier und dort begeht man den Fehler die Formel zu klären // 18 Hier und dort klingelt jemand an der Tür Ich geh aufmachen und weiß sehr wohl daß niemand da ist.« (G.N. in seinem Gedicht Kommentar zum Alltagsleben der Vögel)

von Andreas Bülhoff



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 Veröffentlicht am 1. Juli 2010
 Kategorie: Misc.
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