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Cineastische Verstörung

Eine Mutter, ein Sohn und ein Drama, das sich nicht erklären lässt: Die schottische Independent-Regisseurin Lynne Ramsay hat eine Familientragödie verfilmt. We need to talk about Kevin, der 2011 in die Kinos kam, stellt ruhig und beinahe unspektakulär die Frage nach Schuld und Verantwortung. Was bleibt ist die Angst und das Gefühl der ungenauen Gewissheit.

Von Sinah Dose

Columbine, Sandy Hook, Winnenden, Erfurt und Emsdetten. Namen von ganz normalen Städten. Von ganz normalen Städten, die unwiderruflich mit Toten, Schreien und Waffen in Verbindung gebracht werden. Von Städten, in denen es wahrscheinlich nie mehr Normalität geben wird. Wie konnte es so weit kommen? Wer hat versagt? Diese Fragen muss sich jede Gesellschaft stellen, in der Kinder andere Kinder töten, kaltblütig hinrichten und alles minutiös geplant haben. Warum? Sind es die absurden Waffengesetze oder zu viel Druck in der Schule? Sind die Eltern Schuld oder sogenannte Egoshooter?

Wer Antworten auf diese Fragen sucht, wird von dem Film der schottischen Independent-Regisseurin Lynne Ramsay enttäuscht werden. Das ist aber auch schon der einzige Grund, den dieser Film aus dem Jahr 2011 für Enttäuschungen liefert. Denn das Filmdrama We need to talk about Kevin, das auf dem gleichnamigen Roman der Autorin Lionel Shriver basiert, ist ein aufwühlendes Stück Filmkunst, das seine Zuschauer immer weiter in seinen Bann zieht und auch lange nach Ende des Films nicht mehr loslässt.

Symptomatische Beklemmung

Das Muttersein ist für die Reisejournalisten Eva Khatchadourian, gespielt von der Oscar-Preisträgerin Tilda Swinton, kein Traum, der in Erfüllung geht. Im Gegenteil: Schon nach der Geburt ihres Sohnes Kevin ist dieser ihr fremd. Was anfangs noch wie eine Wochenbettdepression anmutet, entpuppt sich schnell als unerträglicher Dauerzustand. Eva ist nicht im eigentlichen Sinne überfordert. Vielmehr kann sie ihr Kind einfach nicht lieben, sie spürt etwas, von dem sie noch nicht weiß, was es ist und was es für Konsequenzen haben wird.

Dieses Ungewisse, vor dem man auch als Zuschauer schon in den ersten Minuten des Films Angst hat, zieht sich als beklemmendes Gefühl symptomatisch durch den Film. Das Schreien ihres Neugeborenen ist für Eva unerträglicher als das Dröhnen eines Presslufthammers, neben den sie sich mit dem Kinderwagen stellt, um einen Moment der fragwürdigen Erholung zu genießen. Neben dem Gitterbettchen ihres Sohnes spricht sie laut aus, was man als Zuschauer schon geahnt hat: Kevin ist der Grund für ihr Unglück, für ihre Verbitterung, für ihre Sehnsüchte. Vielleicht fühlt sie sich gefangen, da sie nicht mehr ihr Abenteuerleben als Journalisten führen kann. Doch ob es nun gerade Kevin ist oder jedes andere Kind ihr Leben gleichermaßen aus dem Gleichgewicht gebracht hätte, bleibt offen.

Immer wieder versucht Eva, Zugang zu ihrem Sohn zu finden. Doch dieser scheint sich fortan an ihr zu rächen, als habe er die Worte seiner Mutter am Gitterbett verstanden. Er spricht nicht mit ihr, äfft sie nach und trägt noch als Achtjähriger Windeln. Immer dämonischer werden Kevins perfide Versuche, seine Mutter abzustrafen. Abzustrafen für die Kälte, mit der sie ihm begegnet. Die Situation spitzt sich dramatisch zu, als Eva Kevin aus Wut und Hilflosigkeit in die Ecke seines Zimmers schleudert und dieser sich dabei einen Arm bricht. Nachdem die beiden aus dem Krankenhaus wiederkommen, will Eva ihrem Mann die Situation erklären, doch Kevin kommt ihr zuvor. Er nimmt die Schuld auf sich, erzählt nichts von dem Gewaltausbruch seiner Mutter. Doch keine liebevollen Motive veranlassen Kevin dazu, sondern eiskaltes Kalkül. Denn Kevin weiß, dass er seine Mutter von nun an in der Hand hat. Eine kleine Berührung seiner Narbe lässt Eva erschauern und alles machen, was er will.

Kann ein Kind böse sein?

Evas liebevoller, doch etwas naive Ehemann Franklin, gespielt von einem perfekt auf eben diese Rolle zugeschnittenen John C. Reilly, unterschätzt die Beziehung zwischen Mutter und Sohn. Er kann Evas Ängste und Aggressionen nicht nachvollziehen, denn ihm gegenüber ist Kevin kein heranwachsender Sadist, der offensichtlich Spaß daran hat, seine Mutter zu quälen, sondern ein ganz normaler lieber Junge, der sich freut, wenn sein Vater aus dem Büro zurückkommt.

Man hat Angst vor diesem Kind. Doch in der ersten Hälfte des Films kann man sich das als Zuschauer noch nicht richtig eingestehen. Denn Kevin ist eben noch ein Kind und kann ein Kind böse sein? Ist nicht vielleicht doch Eva schuld?

Der Film


We need to talk about Kevin
Regie: Lynne Ramsay
2011 (UK) · 112 Minuten · Drama/Thriller · mit Tilda Swinton, John C. Reilly, Ezra Miller u.a.

 
 
Der Film spielt auf ruhige und beinahe unspektakuläre Art mit Fragen nach Schuld und Verantwortung und der damit verbundenen, unterschwellig immer präsenten Angst. Intensive Bilder und lange Kameraeinstellungen wirken auf den Zuschauer so eindrücklich, dass man sich regelrecht bedrängt fühlt. Ezra Miller spielt die Rolle des heranwachsenden Kevin erschreckend überzeugend, was nur ein Grund für die 112 Minuten anhaltende düstere und erdrückende Atmosphäre des Filmes ist. Kein Nachwuchsschauspieler hätte den pubertierenden Sadisten so authentisch darzustellen vermocht. Auch Tilda Swinton, die allein schon durch ihr Äußeres eine extreme Kälte und Distanz suggeriert, macht diesen Film zu einem Trip, von dem man mit einer ungenauen Gewissheit weiß, wo er enden wird. Spiralartig läuft der Film auf sein dramatisches Ende zu und spätestens, als Kevin sich im Internet verdächtig viele massive kanariengelbe Fahrradschlösser bestellt, weiß der Zuschauer, was passieren wird. Auch die Tatsache, dass sich Kevin seit seiner frühen Kindheit im Bogenschießen übt, trägt zu dieser Gewissheit bei. Und dennoch hofft man bis zum Schluss, dass Kevin kein Amokläufer ist.

Eines Tages zieht Kevin dann los. Er geht in die Schule, verbarrikadiert alle Türen mit den Fahrradschlössern und richtet ein unvorstellbares Blutbad an. Auch seine kleine Schwester und seinen Vater richtet er mit Pfeil und Bogen im heimischen Garten hin. Nur Eva wird von ihm verschont. Kevins finale Strafe. Als einzige überleben und mit dem Gefühl der Schuld weiterleben.

Das Elend in Flashbacks

Der sich in Flashbacks entfaltende Film zeigt vor allem die Perspektive der traumatisierten Eva, die versucht, in einer Kleinstadt als Mutter eines Todesschützen weiterzuleben. Die Mitbürger beschimpfen sie, ihr Haus wird mit roter Farbe beworfen, einen Job findet sie nur schwer und jeder Einkauf wird zu einem Spießrutenlauf. Lynne Ramsay schafft es auf einfühlsame und zugleich brutale Art und Weise darzustellen, wie Eva versucht, mit ihrer Strafe weiterzuleben.

Warum? Wie gesagt, der Film beantwortet keine Fragen, versucht nicht, wie so viele andere, den moralischen Zeigefinger auf jemanden zu richten. Vielmehr regt er zum Nachdenken und Diskutieren an. Ist das Böse in Kevin Veranlagung oder kann jedes Kind zum Amokläufer werden? Wen trifft welche Schuld? Wie leben Täter und Opfer nach einem Amoklauf weiter? Man möchte mehr wissen, sich intensiv mit dem Thema auseinander setzen, um verstehen zu können, wie und warum eine solche Tat begangen wird. Doch der Film zeigt, dass ein Amoklauf eben kaum zu verstehen ist, da er so viele Perspektiven, Ursachen und Wirkungen hat. Und so lässt das Drama We need to talk about Kevin den Zuschauer mit alten und neuen Fragen verstört, aber aus cineastischer Sicht mehr als befriedigt, zurück.



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 Autor*in:
 Veröffentlicht am 30. Juli 2013
 Kategorie: Misc.
 http://www.weneedtotalkaboutkevin.co.uk/
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