Der Roman Odessa Star des Niederländers Hermann Koch ist ein Thriller über die niederschlagende Durchschnittlichkeit eines Mannes und dessen Fluchtversuche aus dem Alltag, eine gelungene Inversion ins Dubiose. Madeline Junge über dieses endlich auf Deutsch erschienene Breaking Bad avant la lettre.
Von Madeline Junge
Fred Moormans Vierziger neigen sich dem Ende entgegen, seine Ehe ist längst nichts weiter als ein bedeutungslos gewordener Bund, der einst durch den Austausch zweier Ringe besiegelt wurde und sein fünfzehnjähriger Sohn hat sich dem Vater nunmehr gänzlich entzogen.
Fred Moorman fristet ein gewöhnliches Durchschnittsleben innerhalb der oberen Mittelschicht, wohnt in einem Durchschnittshaus und fährt einen Durchschnittsopel. Seine Tage sind mittlerweile in einem solchen Maße durchschnittlich, dass sie in eine schnöde Einöde zu münden scheinen.
Sein Jugendfreund Max G. hingegen, ebenfalls Ende 40, lebt in einer eher einseitig geduldeten, offenen Ehe und ist Vater einer kleinen Tochter, die sich immer noch über seinen Anblick freuen kann. Max G. fährt einen silbergrauen Mercedes, wohnt mal hier, mal dort und liebt es, seinen launigen Kater bis aufs Blut zu provozieren. Über das, was Max G. so genau macht, wird dezent geschwiegen, nicht, weil sich sein Berufsleben nicht großartig von anderen Berufsleben unterscheidet, sondern weil Max G. das Spiel mit seinem Kater im Stillen erweitert hat. Und seit dem Tod des Katers spielt er statt mit dessen Krallen nun mit den Fängen des Gesetzes.
Eine folgenreiche BegegnungNach Jahren treffen Fred Moorman und Max G. rein zufällig während eines Kinobesuchs aufeinander, bezeichnenderweise wird Deep Impact gezeigt. Eine Begegnung, die Max G. wenig interessiert, Fred Moorman jedoch veranlasst, sein Leben mehr dem Max Gs. anzupassen, wird ihm seine Langeweile, seine Durchschnittlichkeit, insgesamt sein alltägliches glanzloses Dasein durch sein Gegenüber nur allzu bewusst. Schleichend beginnt Moormann sein neues Leben als Krimineller, zunächst als ahnender Komplize, später als Verhaltensschablone seines Freundes – als Fred M.
Spätestens hier wird deutlich, dass es sich bei Herman Kochs Roman um keinen gewöhnlichen Krimi, sondern um einen Thriller handelt, der auf intrigante Weise mit der menschlichen Psyche spielt.
Um sich in Form zu bringen, weitere Schritte zu gehen, ja im kriminellen Gewerbe anzukommen, kauft sich Fred M. Laufschuhe. Diese bringen ihn schon nach drei Minuten an seine Grenzen, doch ein Zurück in die von ihm zynisch verunglimpfte Durchschnittlichkeit gliche einer Niederlage im Kampf gegen eben jene Standardexistenzen, die sich mit Bild-Zeitung und Starbucks-Kaffee bewaffnen.
Deshalb muss eine Möwe, stellvertretend für das erste Spiel um Leben und Tod, abstürzen, Fred M. sein Bier und seine neue Identität festhalten, um letztere dann mit den ersten Tropfen Blut zu unterstreichen. Gewissermaßen sein erster Anlauf zu weiteren Runden.
Im Umfeld Fred Ms. werden bald Veränderungen seiner Person wahrgenommen, was ihn dazu veranlasst, darüber nachzudenken, betreffende Zweifler ins Visier zu nehmen und über Max G. ebenso verschwinden zu lassen wie seine einstige Untermieterin. So bewegt sich Fred M. letztlich nur noch in seinen eigenen, ausufernden Grenzen und hofft, dass sich seine Joggingeinheiten gelohnt haben.
Innerhalb dieses Psychothrillers bewegt sich Fred Moorman in Odessa Star zunächst zögerlich. Seine Entwicklung vom geplagten Durchschnittstypen zum kaltblütig handelnden Kriminellen nimmt dann aber an Fahrt auf und steigert die Spannung ins Unermessliche. Gleichzeitig lässt sich seine Psyche dabei zum einen als eine sich auf Abwegen befindende, sich in zynischen Äußerungen spiegelnde Resignation verstehen. Dabei wird der Leser selbst fortwährend mit seinem Vernunftdenken konfrontiert, was wiederum zum Konflikt mit und zur Distanz zum Protagonisten führt. Aus dieser Distanz heraus lässt sich Fred Ms. Resignation und das daraus folgende Ausmaß seiner Handlungen überblicken und seine Entwicklung kann abschließend mehr oder weniger in Zusammenhang mit dem Kater gesetzt werden.
Es lohnt sich, diesem Spiel beizuwohnen!