Der Solokünstler Bernd Begemann stellt im Zusammenhang der von Musikgruppen dominierten Hamburger Schule eine Randerscheinung dar. Seinem Publikum präsentiert er sich weniger als integres Mitglied einer Subkultur, denn als Entertainer und Komponist gleichermaßen, dessen Arbeit nicht selten und wohl nicht unbeabsichtigt an den im Nachkriegs-Deutschland populären Schlager erinnert.
Von Ole Petras
Der Reiz von Bernd Begemanns – vom unbedingten Willen zur Unterhaltung geprägter – Bühnenpräsenz speist sich aus dem offensichtlichen Abstand des Dargebotenen zu heutigen Aufführungsstandards. Den permanenten Beigeschmack des Versagens oder Nichterfüllens nutzt Begemann, um eine Art Anti-Pose zu entwerfen, die als scheinbarer Beleg der Authentizität seiner Äußerungen fungiert. Freilich ist gerade in Bezug auf die Popmusik die Annahme abwegig, dass jemand bereit ist, sich selbst als Versager in Szene zu setzen. Die aus dieser Annahme resultierende Haltung des Trotzes und Widerstandes gegen eine ausnahmslos böswillige Umwelt entfaltet ein nicht geringes identifikatorisches Potential. Begemanns Scheitern befreit uns von der Notwendigkeit, selbst zu scheitern, oder macht zumindest unser alltägliches Scheitern an den Erwartungshaltungen und Anforderungen der Leistungsgesellschaft erträglicher.
Und das ist auch gar nicht so schlimmDas zum Beleg dieser These ausgewählte Stück, »Zweimal 2. Wahl« 1 vom Album Jetzt bist du in Talkshows (1996), thematisiert die Bedingungen von Zugehörigkeit und Selbstpositionierung im privaten Raum der Beziehung. Das Figureninventar und die Thematik des Liedes enstprechen vorerst denen eines gängigen Liebesliedes, doch machen bereits die ersten beiden Verse deutlich, dass hier etwas nicht stimmt: »Wir sind zweimal zweite Wahl / wir sind ein unattraktives Paar«, singt Begemann zu einer an den Bar-Jazz der 1970er Jahre erinnernden Musik.
Das hier verwendete Adjektiv »realistisch« etabliert zwei grundsätzliche Ebenen der Selbstwahrnehmung: erstens die sich durch ein unerfülltes Liebesglück auszeichnende Realität und zweitens die Eventualität erotischer Erfüllung. In der nächsten Strophe wird die zweite Ebene mit dem Showbusiness beziehungsweise dem internationalen Film verglichen: »Kein Oscar für die beste Nebenrolle / wir sind nicht einmal nominiert.« Die Verse bekräftigen noch erneut die Zugehörigkeit des Paares zur unglamourösen Wirklichkeit, die, aufbauend auf diesem Vergleich, in den nachfolgenden Versen mit Passivität gleichgesetzt wird: »Ich bin nicht das, was du dir aussuchst / ich bin das, was dir passiert.« Dementsprechend wird der Unterhaltungsindustrie der Index ›Aktivität‹ verliehen. Dabei greift Begemann auf ein stereotypes Inventar zurück: »Keine rauschenden Feste für uns / keine Tabletts voller Kokain.« Gleichzeitig werden die Wunschvorstellung des zurückgelassenen lyrischen Ichs illustriert. Die unterschiedlichen Sphären generieren nolens volens Lebensentwürfe: »Denn das ist nicht so unsere Welt / das ist mehr so die Welt von ihr und ihm.« Hiermit entpuppt sich die Allianz des unattraktiven, passiven Paares als Antwort auf das Verhältnis der beiden Wunschpartner, die »in diesem Augenblick [feiern]« beziehungsweise »am anderen Ende der Stadt [singen und tanzen].« Das diesseitige Ende der Stadt wird somit als Heimat des Pärchens zweiter Klasse bezeichnet: »Währenddessen sitze ich hier mit dir unter dieser Stehlampe.« Dort, so die schlichte Folgerung des lyrischen Ichs, »lernt [man] zu schätzen, was man aneinander hat.«
Gegen Ende des Liedes werden die beiden ersten Zeilen aufgegriffen, der Anschluss aber variiert: »Wir sind zweimal zweite Wahl / wir sind ein unattraktives Paar / und du bist mir völlig egal / ich werde dir treu sein bis ins Grab.« Dieses Fazit benennt einerseits das Paradox der Konstellation, stellt andererseits aber den durch die überwiegend negative Darstellung fraglichen Status quo der Beziehung wieder her: »treu sein bis ins Grab.« Mit Blick auf dieses Ergebnis entwickelt die Koda eine deutliche Ironie: »Laß uns gemeinsame Hobbys entwickeln«, haucht Begemann über das Outro, »man kann so wundervoll fernsehen mit dir.« Nimmt man die beiden letzten Verse wörtlich und überliest das Klischee sowie die umständliche Formulierung, ließe sich auch eine Zukunftsperspektive erkennen. Das Paar wird aktiv, indem es »gemeinsame Hobbys entwickelt«, zum Beispiel Fernsehen. Wer auch immer das möchte.
Das andere Ende der StadtDer Text argumentiert, wie gezeigt wurde, auf verschiedenen Ebenen. Seine Aussage ergibt sich durch die Kombination verschiedener Merkmalsbereiche. Der Unattraktivität des einen Paares steht die Attraktivität des anderen gegenüber, dem imaginierten Mehr an Spaß mit einem anderen Sexualpartner die Feststellung der relativen Gleichgültigkeit des hier vollzogenen Aktes, der durch den Begriff der Treue angezeigten Dauerhaftigkeit einer Beziehung die Momenthaftigkeit des vollkommenen Glücks. Diese, dem Bereich ›Sex‹ zuordbare Grundthematik des Liedes beruht auf der Zugehörigkeit der Figuren zu einer Lebenswelt und einer gesellschaftlichen Schicht.
Der Lebensraum fungiert als Voraussetzung dieser Einordnung. Als Ideal, sowohl einer Beziehung als auch des Lebens, wird die Selbstverwirklichung gesetzt. Eine Befriedigung der Lüste ist aber nur woanders, nämlich »am anderen Ende der Stadt« möglich. Dass auf eine Konkretisierung des Gegenraums verzichtet wird, beweist seinen Behelfscharakter. Begemann geht es nicht um den Kontrast von beispielsweise Provinz und Großstadt, zwischen seinem Geburtsort Bad Salzuflen und der Wahlheimat Hamburg, sondern um das Bild, das wir von unserem Zuhause haben. Zuordnung erscheint so als willentlicher Akt, als selbstgewähltes Schicksal. Dies ist in Bezug auf die gesellschaftliche Sphäre von Bedeutung. Denn im Bereich der Schichtzugehörigkeit begegnen ganz ähnliche Oppositionen. Dem durch die »gemeinsamen Hobbys«, das gemeinschaftliche Fernsehen und die Stehlampe charakterisierten ›Kleinbürgertum‹ entsprechen die benannten Merkmale der ›Upper class‹, die »rauschenden Feste«, allgemein das Feiern, Singen und Tanzen, speziell der massenhafte Konsum der Modedroge Kokain. Dabei funktioniert die Analogiebildung auch vertikal. Die Bourgeoisie ist sexuell frustiert, die High society erotisch ausgefüllt, eine schichtenübergreifende Verbindung unwahrscheinlich.
Die Pointe des Textes liegt nun darin, dass Begemann den möglichen Unterschied zweier Partner innerhalb einer Beziehung auf zwei Beziehungen projiziert. Sein lyrisches Ich ist damit, ebenso wie dessen Freundin, am identifikatorisch attraktiven unteren Rand der gesellschaftlichen Rangfolge positioniert. Damit die Glaubhaftigkeit dieser Setzung nicht gefährdet wird, erscheint die Passivität als eine, die Wirklichkeitsnähe als andere Strategie der Verschleierung vorherrschender Selbstbezichtigung. Eine ironische Grundhaltung ermöglicht es dem Hörer zwar, die Vorzeichen umzukehren und sich selbst über die geschilderte Situation zu erheben, aber das geht in der Logik des Textes nur, sofern man sich »am anderen Ende der Stadt« befindet. Denn dorthin gilt es zu gelangen. Die grundsätzlich positive Bewertung der gesellschaftlichen Zuordnung wird zumindest auf der Textoberfläche nicht diskutiert.
Unter dieser StehlampeNun sind Popsongs künstlerische Gebilde, die ihre Bedeutung aus einer Verschmelzung unterschiedlicher Elemente beziehen. Um die Tragweite des Textes verstehen zu können, müssen die Mittel der Textinszenierung, das heißt die Musik, die Aufmachung des Tonträgers und der zugehörige Videoclip einbezogen werden. Ganz kurz, in umgekehrter Reihenfolge: Im Video ist die Trennung beider Pärchen durch einen Split-Screen umgesetzt. Das in Farbe gefilmte unattraktive Paar und das in Schwarz-weiß gefilmte attraktive Paar verdrängen sich jeweils von der Bildfläche. Bernd Begemann besetzt eine Doppelrolle. Er spielt sowohl das unattraktive lyrische Ich als auch den attraktiven Mann. In der Schluss-Sequenz des Videos kommt es zu einer Vereinigung beider Sphären. Das unattraktive Paar chauffiert die Stretch-Limousine, in deren Fond das attraktive Paar herumalbert. Für den Betrachter findet also eine Angleichung der Welten statt. Das Video führt vor, dass beide nicht getrennt voneinander existieren, sondern das Elend des einen das Glück des anderen bedingt.
Die Konzeption des Albums und insbesondere sein Titel, Jetzt bist du in Talkshows, weisen in die gleiche Richtung. Auf dem Cover posiert Begemann als Moderator einer zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung des Albums (1996) beliebten Nachmittagstalkshow. Die im Hintergrund erkennbare Stuhlreihe enthüllt das Problem dieses TV-Formats: Die Kontrahenten schauen sich nicht an, sondern sitzen mit dem Gesicht zum Publikum. Der Moderator, damals etwa Hans Meiser oder Arabella Kiesbauer, übernimmt nicht die Funktion eines Schlichters, sondern heizt den bestehenden Disput an. Der Reiz solcher Shows besteht darin, dass die Teilnehmer (mit zumeist niedrigem Bildungsniveau) nicht anders können, als sie selbst zu sein, und doch nicht sie selbst sein können, weil sie sich in der außerordentlichen Situation der Medien-Prominenz befinden. Ihrem Scheitern beizuwohnen hat deshalb etwas von Elendstourismus. Für das untersuchte Stück ergibt dies dreierlei: Erstens zeigt Begemann, indem er die Rolle des Moderators übernimmt, dass seine Lieder keine sachlichen Beschreibungen sind, sondern künstlich herbeigeführte Konflikte. Zweitens reflektiert der Song den Behelfscharakter des von ihm vertretenen Ideals. Genausowenig wie die Talkshows Wirklichkeit abbilden, zeichnet sich das gute Leben durch »Tabletts voller Kokain« aus. Drittens muss der Zuschauer beziehungsweise Hörer den eigenen Standpunkt überdenken. Das Problem entsteht nicht, weil die Lebensrealität zu trist wäre, sondern weil die Träume zu groß sind. Die Sehnsucht, welche das Lied grundiert, zielt also nur scheinbar auf die Überwindung der eigenen Tristesse. Vielmehr steht infrage, ob eine Selbstverwirklichung im Irrealis der Medien überhaupt gelingen kann.
Dieser Bruch zwischen der Tragik der erzählten Welt des Textes und der Leere des Mediums wird in der musikalischen Umsetzung des Liedes überdeutlich. Denn wer einen Blues erwartet, wird enttäuscht. Die auf- und abschwingende Melodie, der von einem Vibraphon gestützte Swing und nicht zuletzt ein gepfiffenes Solo lassen den Eindruck von Heiterkeit entstehen. Bernd Begemann kann folglich die zu Beginn erläuterte Rolle eines repräsentativen Versagers nur einnehmen, weil er das auf der Textebene vorgeführte Scheitern auf Ebene der Musik konterkariert, der Selbstbezichtigung also durch die (Unterhaltungs-)Musik ihre Schärfe nimmt. Zweite Wahl oder nicht: Das Glück unter dieser Stehlampe hat die Form einer Schallplatte.
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