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»Das Gift war immer da«

Wie so oft beginnt es mit einer Reise, und wie so oft endet es nicht gut. Samanta Schweblin setzt dieses bekannte Narrativ in ihrem Roman Das Gift aber so gelungen um, dass zu keiner Zeit das Gefühl aufkommt, man habe es mit einer bereits unzählige Male erzählten und nur leicht variierten Geschichte zu tun.

Von Simon Gottwald

Die in Buenos Aires geborene Schriftstellerin Samanta Schweblin ist bisher mit ihren Erzählungen im Stil des magischen Realismus in Erscheinung getreten. Nun legt die bereits vielfach prämierte Autorin ihren ersten Roman vor. Das Gift ist ein Dialog zwischen einer Sterbenden und einem bereits Gestorbenen, ein Gespräch in der Krankenstation eines verfallenen und verseuchten Dorfes, einige Autostunden von der namenlos bleibenden »Hauptstadt« entfernt.

Was anfangs noch wie ein gewöhnlicher Ort aussieht und geeignet erscheint, um dort die Ferien zu verbringen, offenbart schnell eine dunkle Seite: Viele Kinder kommen mit Fehlbildungen zur Welt oder legen seltsame Verhaltensweisen an den Tag, die Tiere in der Umgebung sind längst verschwunden und das Leben der Erwachsenen ist von Apathie geprägt. Schuld an allem scheint ein seltsames, allgegenwärtiges Gift zu sein, zu dessen Behandlung es im Ort zwar eine Krankenstation und Krankenschwestern, jedoch keinen einzigen Arzt gibt. Die letzte Hoffnung der Vergifteten und ihrer Familien ist daher eine Heilerin, die sich seltsamer Praktiken bedient.

Der Urlaub wird zum Horrortrip

Amanda, die mit ihrer Tochter Nina als Urlaubsgast in das Dorf gekommen ist und die, wie bald klar wird, mit dem Gift in Kontakt gekommen sein muss, spricht in dem Roman mit David, einem kleinen Jungen, der sich schon vor Jahren am Wasser eines Baches vergiftete und dessen Rettung durch die Dorfheilerin mit seiner Menschlichkeit erkauft wurde. Seit jenem Tag, an dem David von seiner Mutter Carla in das »Grüne Haus« der Heilerin gebracht wurde, haben sich Mutter und Sohn entfremdet: David unternimmt stundenlange nächtliche Spaziergänge, in seiner Gegenwart sterben Tiere, die er weinend begräbt und mit beängstigender Beharrlichkeit beantwortet er Fragen mit: »Das ist nicht wichtig«.

Dieser kleine Junge, der sich wie ein Erwachsener ausdrückt, seitdem etwas Fremdes in seinen Körper gelangt ist, versucht nun gemeinsam mit Amanda den Zeitpunkt ihrer Vergiftung festzustellen – weshalb, bleibt unklar. Möglicherweise will er Amanda helfen, möglicherweise will er auch bloß herausfinden, was damals mit ihm geschehen ist. Denn einerseits ist David über die Geschehnisse und ihre Umstände bestens informiert, andererseits gibt es auch für ihn noch unbeantwortete Fragen: »Wir suchen Würmer oder so was Ähnliches und den genauen Zeitpunkt, zu dem dein Körper erstmals mit ihnen in Berührung kam«, erklärt er Amanda. »Die Würmer« umschreiben das von dem Gift ausgelöste Gefühl, ein Jucken, als würden sich Würmer unter der Haut winden, ein Gefühl, das auch Amanda zum Zeitpunkt des Gespräches bereits kennt.

Die eigentliche Katastrophe in dem Roman ist jedoch nicht Amandas Vergiftung, sondern die Verwicklung ihrer Tochter Nina in die Geschehnisse. Diese Katastrophe, um die sich letztlich alles dreht, geht leise vonstatten, fast still. Es ist ein alltägliches Ereignis, das Amandas und Ninas Leben zutiefst erschüttert und schwerwiegende Fragen zur Beschaffenheit des Giftes aufwirft.

Beklemmende Rätselhaftigkeit

Das Motiv der offen gelassenen Fragen, zieht sich durch den gesamten Roman. Es ist daher nur konsequent, dass die Erzählung an der Stelle abbricht, an der sich die Fragen häufen: Fragen zum Schicksal Ninas, Carlas, Amandas; zur Rolle von David und seinem Vater Omar und nicht zuletzt zum Vorgang der »Transmigration«, dessen sich die Dorfheilerin bedient. Das Schweigen zu aufgeworfenen Fragen ist keine Schwäche des Romans, es unterstreicht vielmehr die Ratlosigkeit der Erwachsenen und die existentielle Bedrohung durch das Gift. Kurz vor Abbruch der Geschichte ist der Dialog bereits zu einem Monolog geworden, nur noch Amanda spricht und malt sich vielleicht mit letzter Kraft eine Art des Glücks im Unglück aus.

Buch


Samanta Schweblin
Das Gift
Roman
Aus dem Spanischen von Marianne Gareis
Suhrkamp, Berlin, 2015
127 Seiten, 17,50 €

 
 
Schweblin gelingt es, ein durchgehendes Gefühl von Beklemmung auszulösen. Hierzu trägt nicht bloß die Allgegenwärtigkeit von Verfall und Entstellungen bei, sondern auch die Figurenzeichnung jenseits jeglicher Klischees. Die Figuren werden dadurch verletzlich und die Geschehnisse schmerzlich. Bedeutende Details machen die Charaktere einzigartig: Wie fast jedes Kind hat Nina ein Kuscheltier, das sie überallhin mitnimmt, aber es ist kein Teddybär, kein Welpe oder Kätzchen, sondern ein Maulwurf. Amanda muss fast zwanghaft einen »Rettungsabstand« zu Nina einhalten, dessen Länge je nach Situation variiert. Carla wird (in Amandas Wahrnehmung) vor allem durch ihren goldenen Bikini charakterisiert, der auch unter ihrer Kleidung auffällt – und sei es durch seine Abwesenheit.

Beklemmend ist sogar das, was an anderer Stelle albern wirken könnte: Wenn die Dorfheilerin mit David im Hinterzimmer verschwindet und dabei Sisalfaden, eine Waschschüssel und einen Handventilator mitnimmt, ist das nicht lustig, sondern beunruhigend. Als David die Sandalen seiner Mutter in den Swimmingpool schmeißt, scheint mehr dahinterzustecken als bloß kindlicher Übermut. Kleinigkeiten wie diese offenbaren die unheimliche Seite in Das Gift, die symptomatisch für den Zustand der gesamten erzählten Welt ist. Diese Welt bleibt zwar im Unkonkreten, verzichtet auf Ortsnamen und darauf, die Geschichte zeitlich näher zu verorten, sie verliert aber zu keinem Augenblick an Eindringlichkeit. Vielmehr steigt die Wucht bestimmter Szenen dadurch noch an. Was hier geschieht, könnte sich in praktisch jedem kleineren Dorf abspielen, vor zwanzig Jahren genauso wie heute.

Poetische Lichtblicke

Auf sprachlicher Ebene wird der Eindruck von Verfall und Resignation fortgeführt, jedoch gibt es immer wieder kleine Lichtblicke. Zwischen den desorientierten, verzweifelten oder lapidaren Formulierungen Amandas und zwischen den fast alles verneinenden Worten Davids lassen sich Sätze finden, die von einer eigenen Schönheit sind: »Jetzt, da ihr Kleid getrocknet ist, sehe ich die Ränder auf dem verblichenen Stoff, riesig und formlos, wie das eingefrorene Abbild eines großen Quallenschwarms«, heißt es an einer Stelle, »Er spürt die Weite der Klänge: Als er die Tür schließt, hallt das Geräusch des Klickens aus den Feldern wider«, an einer anderen. Sätze dieser Art sind spärlich genug eingestreut, um nicht davon abzulenken, dass man es hier mit einem verseuchten Dorf und mit vergifteten Menschen zu tun hat. Aber dass es sie überhaupt gibt, macht die Geschichte erträglicher.

So gut der Roman auch ist, perfekt ist er nicht. Zum einen verfallen die Figuren zu oft in sprachliche Klischees, wenn zum Beispiel Amanda den Schmerz als »pulsierend« und wie von hunderten Nadeln verursacht beschreibt. Fehltritte dieser Art kommen zwar nur sehr selten vor, störend sind sie dennoch. Zum anderen, und über diesen Punkt ließe sich lange diskutieren, ist Davids Rolle in dem Gespräch alles andere als klar: Einerseits gibt er sich allwissend und weiß sogar über unbedeutende Einzelheiten des Geschehenen Bescheid, andererseits aber muss er sich Amandas Ausführungen anhören, um den Moment ihrer Vergiftung feststellen zu können. Samanta Schweblin macht in ihrem Debütroman jedoch so viel richtig, dass diese beiden Kritikpunkte letztlich unbedeutend sind. Es gibt viele Romane, die man nach dem Lesen ins Regal stellt und einfach vergisst. Das Gift ist sicherlich keiner von ihnen.



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 Autor*in:
 Veröffentlicht am 3. März 2016
 Kategorie: Belletristik
 Bild aus der public domain von Kostadin Minga via Flickr
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