Anlässlich des inoffiziellen Feiertags der tollen unabhängigen Bücher, dem Indiebookday, präsentiert Litlog: vier unabhängige Verlage, vier ganz unterschiedliche Bücher, vier wärmste Empfehlungen. Seid auch ihr mit dabei und geht am 30.03. in den Buchladen eures Vertrauens. Kauft ein Buch aus einem Indie-Verlag. Postet danach auf allen sozialen Kanälen und überflutet das Internet mit guten Büchern.
Alltagsmärchen ohne Kitsch
Von Amelie May
Tomer Gardi: Sonst kriegen Sie Ihr Geld zurück
Texte über die Macht von Literatur gibt es zuhauf. Oft begegnet man ihnen in Form von Zitaten von Autor*innen kanonisierter Klassiker, die dann uninspiriert auf Kalendern prangen und nach schneller Lektüre noch rascher wieder aus dem Gedächtnis geraten. Der israelische Schriftsteller Tomer Gardi hat mit Sonst kriegen Sie Ihr Geld zurück seinen zweiten Roman vorgelegt, der diese Botschaft auf unkonventionelle Art und Weise vermittelt. Die Rahmenhandlung ist so simpel wie clever: Ein arbeitsloser Schriftsteller erbittet Unterstützung vom Amt, doch der Mitarbeiter erkennt dessen Beruf nicht an. Weil er abhängig vom Wohlwollen des Beamten ist, schlägt er vor, sich die Stempel durch Geschichten zu erarbeiten.
Das tut er, indem er von einer Frau erzählt, die ebenfalls Schriftstellerin ist und – welch Zufall – ihre Arbeitslosenunterstützung ebenfalls bei einem Mitarbeiter des Amtes erreden muss. Und an dieser Stelle beginnen die Verflechtungen der kurios ausgestalteten Figuren, die den schmalen Roman in ihrer sprachlichen Finesse lesenswert machen. Ganz nach dem Stereotyp »arbeitsloser Schriftsteller«, sind die Geschichten gespickt von absurder und teils ausschweifender Metaphorik. Zu Beginn muss man sich auf diesen Stil zunächst einlassen wollen. Etwas mühsam wird die Lektüre anfangs auch dadurch, dass wörtliche Rede nicht gekennzeichnet wird und die Übersetzerin Anne Birkenhauer den sprachlichen Besonderheiten Gardis
Der Aufbau in Schachtelerzählungen lässt die Leser*innen aber auch durch verschiedene Fiktionalitätsebenen irren. Die erzählten Erzählungen von Stierkämpfen und einem Wünsche erfüllenden Fisch sind so fantastisch wie auch gesellschaftskritisch konstruiert und spielen mit einem fraglichen Realitätsanspruch des Erzählers. Der abwechslungsreiche und unverbrauchte Umgang mit Sprache tut sein Übriges dazu, dass der Roman als eine moderne, kurzweiligere Version von Tausendundeine Nacht gelesen werden kann. Durch die harschen Gegenwartsbeschreibungen und den ironischen Sprachgebrauch bricht Gardi immer wieder mit dieser Tradition und droht daher nie, in romantisierten Kitsch abzudriften.
Raus aus der Höhle und selber denken
Von Anna-Lena Heckel
Mihkel Mutt: Das Höhlenvolk.
Die jüngere Geschichte des EU-Staats Estland ist mit seinem Systemwechsel nicht nur äußerst interessant, sondern auch in Deutschland zu weiten Teilen unbekannt. Dabei ist anhand estnischer Geschichte so einiges zu beobachten, zu lernen und nachzudenken. Mihkel Mutts Das Höhlenvolk regt ebendazu an. Zentraler Schauplatz des Romans ist eine Kneipe: In der Höhle versammeln sich (männliche) Künstler und Intellektuelle (und Frauen, die immer wieder ›dabei‹ sind), die sich in regelmäßigen Gelagen miteinander betrinken.
Mutts Erzähler nennt sich selbst nicht Erzähler, sondern Chronist: Juhan Raudtuvi wollte »ursprünglich […] einen richtigen Roman schreiben, wie ein großer Meister.« Aus den Reflexionen über zeitgenössische Rezeption ergibt sich »ein Mittelding«, das zuletzt »Chronik« genannt wird. Der Chronist fügt an: »der Text ist überfrachtet, aber was konnte ich tun«. Diese poetologischen Reflexionen ziehen sich durch die vielen Seiten, sie verunsichern, regen an, lassen stutzen. Jenseits davon schildert Juhan die Biografien einiger Figuren, fast ausschließlich Männer. Diese Geschichten werden symptomatisch für
Das Höhlenvolk hat seine Längen, es reflektiert viel und lässt die Leserin dabei nicht das Denken einstellen. Man erlebt mit, wie die Figuren Estlands Unabhängigkeit fordern oder auch nicht und wie sie diese Bestrebungen bewerten. Man bekommt einen Eindruck der Nationalverbundenheit der gezeichneten Männergesellschaft und vom Sehnen der Bürger*innen des EU- und NATO-Staats Estland nach der Vergangenheit. Diesen vergangenen Tagen wird im Nachhinein zugesprochen, dass es die Tage waren, in denen die Kommunistische Partei den Künstler(*inne)n Geld bezahlte, das ihnen nunmehr versagt bleibt. Während dieses gesamten Streifzugs durch die estnische Geschichte und ihre Subjekte wird angedeutet, aber nicht explizit gemacht, wie notwendig dialektisches Denken bleibt.
Mutt und seine Figuren lösen die großen Fragen nicht auf und das ist richtig. Wie kann Kritik am Sowjet-»Kommunismus« geübt werden, ohne abzugleiten in nationalchauvinistische Muster? Was ist die Alternative, wenn die sowjetische Realität Leid bringt, doch der anfangs so viel Freiheit versprechende Kapitalismus die Menschen in den Tod treibt? Was ist Befreiung, wenn klar ist, dass die sogenannte ›freie Marktwirtschaft‹ es mit Sicherheit nicht ist?
Ein Wachrütteln in Kurzprosa
Von Mara Becker
Anneloes Timmerije: Jedes Ding an seinem Platz
Anneloes Timmerije lädt die Lesenden in Jedes Ding an seinem Platz dazu ein, Gewohntes und Vertrautes in Frage zu stellen. Gemeinsam mit ihr rasen wir über die Ringautobahn um Amsterdam und streichen nachts mit zwielichtigen Gestalten durch die engen Gassen der Hauptstadt. Das verbindende Element aller neun Geschichten, die in diesem Erzählband von Übersetzerin Bettina Bach liebevoll zusammengestellt und ins Deutsche übertragen wurden, ist – neben dem Handlungsort Niederlande – sicherlich die Schwermut.
Emotional Vielfältiges wohnt den Charakteren inne: Wir werden mitgenommen in stillen Alltag, in eingefahrene Wege und verschwiegene Landschaften. Dann passiert etwas, das die Gedanken aus der Reihe tanzen lässt: Wir lauschen dem Geständnis eines Toten aus dem Sarg, begleiten eine Frau auf dem Heimweg, die soeben erfahren hat, dass sie nicht mehr lang zu leben hat und verfolgen, wie eine Putzkraft ihren Auftraggeber absichtlich aus dem Konzept bringt, indem sie die Resteschale auf die falsche Seite der
Im Kurzinterview, das dem Buch angehängt ist, sagt die Autorin, sie berichte von »übervollen Leben auf der einen und leergelaufenen Leben auf der anderen Seite, die beiden eisernen Gewohnheiten folgen«. Und tatsächlich entstehen bei der Lektüre Momente, die den Impuls wecken, durch die Seiten hindurchgreifen und die Erzählenden von ihren Automatismen losschütteln zu wollen. Timmerijes Kurzgeschichten handeln vom Bereuen, vom Verpassen, Erinnern und Vermissen einerseits; vom Genießen, von Hoffnung und Rebellion andererseits. In kurzen, prägnanten Sätzen beleuchtet sie sensibel, wie schnell einem die Lebendigkeit abhandenkommen kann – und wie grausam es ist, darauf aufmerksam gemacht zu werden: »Wir alle sehen ganz viel, aber wir nehmen es nicht wahr, weil wir mit anderen Dingen beschäftigt sind«.
Unterm Teppich
Von Stefan Walfort
Kolja Mensing: Fels
Kolja Mensings Großmutter erzählte des Öfteren und immer wieder gerne eine Anekdote: Als ihr Geliebter, Mensings späterer Großvater Rudi, in den 1940er Jahren eine Potsdamer Infanterieschule besuchte, schuftete sie in der besetzten polnischen Stadt Altkloster. An Heiligabend 1943 kramte sie mit einer Freundin »eine Flasche Eierlikör hervor«, sie
füllten zwei Zahnputzbecher, und dann war es soweit. Nach einem kurzen Blick auf ihre Armbanduhr […] steckte meine Großmutter sich einen goldenen Ring an […] und stellte sich vor, dass Rudi in Potsdam genau in diesem Moment das Gleiche machte.
Eines Tages vermengte sie die Geschichte mit Erinnerungen an Albert Fels, einen Juden, der angeblich Opfer der sogenannten Euthanasie geworden sei. Mensing begab sich infolgedessen auf Spurensuche.
Dabei blickte er in Abgründe: Sein Großvater war Teil eines Bataillons gewesen, das in der Ukraine für Morde an mindestens 9.000 Juden verantwortlich war. Mensings Großmutter muss deutlich mehr drüber gewusst haben, als sie preisgab. Außerdem wurde ihm stärker als bislang bewusst, wie umfassend sie die NS-Ideologie verinnerlicht hatte. Und schließlich erkannte er, wie wenig der »offiziellen Version« über Fels’ Tod in
Beharrlich macht Fels transparent, dass Erinnern vergangene Erlebnisse nie schlicht abbildet. Damit integriert das Buch Erkenntnisse geschichts- und kognitionswissenschaftlicher Erinnerungsforschung, aufgrund derer Erinnern als stets konstruktiv zu begreifen ist. Zusätzlich bilden Gegenwartsinteressen und Aspekte sozialer Erwünschtheit einen sämtliche Erinnerungen präformierenden Frame. Dementsprechend hebt Mensing hervor, in welch »einfachen, kräftigen Bildern« die rührselige Geschichte zweier Liebender, die 600 Kilometer voneinander entfernt dem nächsten Wiedersehen entgegenfiebern, daherkommt. Unangenehmere und deshalb unter den Teppich gekehrte Tatsachen dagegen präsentiert er als von vielen Akteur*innen mit je eigenen Beweggründen geprägt – und damit als wesentlich komplexer. Fels ist Oral History at its finest.