Mit Henrik Ibsens Ein Volksfeind gibt das Göttinger DT ein hervorragend inszeniertes Lehrstück darüber, wie die Moral auf den Hund kommt. Es mahnt besonders die publizierende Zunft, ihre Standards gründlich zu reflektieren.
Von Stefan Walfort
In einem Kurort im südlichen Norwegen lebte, um das Ende des 19. Jahrhunderts, ein Badearzt, einer der rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit namens Tomas Kohlhaa… halt! Nein, die Hauptfigur bei Ibsen heißt in Wirklichkeit Tomas Stockmann. Und doch passt die konzise urteilendende Einleitung der Kleist’schen Novelle Michael Kohlhaas auch zu Stockmann wie die Faust aufs Auge. Rechtschaffen und entsetzlich zugleich? In der DT-Inszenierung hat man sich darauf verständigt, vor allem Entsetzliches aus Stockmann herauszukitzeln, während vom Streben nach Rechtschaffenheit nur noch einige Floskeln zeugen.
Der Befund eines Chemielabors flattert in die Hände des Arztes Tomas. Damit bestätigt sich, was er schon ahnte: Beim einstigen Bau des Kurbads war der Schlendrian mit am Werk gewesen; deshalb tummeln sich nun in den Zuleitungsrohren gefährliche Bazillen aus benachbarten Gerbereien. Für Tomas ist das weniger ein Grund, sich Sorgen um das Wohlergehen der Badegäste zu machen, als ein Anlass, um im Machtkampf gegen seinen älteren Bruder Peter zu punkten. Der genoss bislang als Bürgermeister – sehr zu Tomas᾽ Missfallen – viel Zuspruch. Nun endlich sieht der Jüngere seine Stunde gekommen. Beim Abendessen mit seiner Familie, bei dem auch Billing (Florian Donath), ein Mitarbeiter des Volksboten, anwesend ist, verkündet Gabriel von Berlepsch in der Rolle des Arztes: »Das ganze Bad ist ein Seuchenherd«. Mit hämischem Grinsen reckt er ein Glas Punsch in die Höhe. Reihum stößt er mit allen Versammelten auf die Hiobsbotschaft an.
Eine rosige ZukunftEntschlossen schlägt Tomas das Gutachten des Labors auf den Tisch. Mit der Hand kreisend führt er Peitschenbewegungen vor. Von nun an werde er allen »hohen Herren« im Rathaus und in den Behörden Beine machen: »Jetzt kriegen sie von mir die volle Breitseite verpasst«. Zu einem dreifachen »Hurra!« schwingt er seine Gattin Petra (Judith Strößenreuther) in die Luft. Jauchzend tänzelt er mit ihr auf dem Arm durch die Wohnung – ein von Alexandra Pitz entworfenes Halbrund aus Milchglas mit viel Holzvertäfelung, das via Drehbühne kreisend sowohl zum Blick ins Private einlädt als auch sich zu verschließen weiß. Dann pressen einige Figuren von innen ihre Ohren an die Scheiben, lauschen, was draußen vor sich geht.
Dort malen sich der Bürgermeister und der Chef des Volksboten Hovstad (Christoph Türkay) in einem sehr vertraut wirkenden Gespräch eine rosige Zukunft für das Kurbad aus. Dem Publikum dürfte sich mit Blick auf Tomas schon hier das Sprichwort vom Hochmut, auf den in der Regel der Fall folgt, aufdrängen. Denn das Bühnenbild mit dessen Doppelfunktion in Sachen Offenheit vs. Verschluss erzeugt in diesem Moment eine Diskrepanz zwischen Figuren- und Zuschauer*innen-Informiertheit, die zentral ist für eine sehr ambivalente Rezeption, von der die Inszenierung lebt: Unmittelbar sieht man sich mit zwei einander ausschließenden Vorhaben konfrontiert: einerseits mit Tomas᾽ unfassbar optimistischem, andererseits mit dem der Mächtigen, die sich längst darauf verständigt haben, dass das Bad zu prosperieren habe – komme, was da wolle. Und weder die eine noch die andere Seite taugt zum Sympathieträger.
Tomas, der bislang nur wahrnahm, dass sich mit Billing spontan ein Vertreter der einflussreichsten Kreise auf seine Seite schlug, investiert vor allem in die Presse viel Vertrauen. Auch aus Sicht der Zuschauer*innen spricht dank der nächsten Szene plötzlich nicht mehr alles dagegen. Immerhin äußert Hovstad in einer Redaktionssitzung Bereitschaft, dem Bürgermeister in den Rücken zu fallen: Von einem Artikel über den Bakterien-Skandal erhofft sich der Volksboten-Chef eine gewinnbringende Auflagensteigerung. Und auch Billing gibt sich zunächst weiterhin überzeugt von Tomas᾽ Vorhaben, den Pöbel gegen Peter und alle anderen Verantwortlichen aufzuwiegeln. Als Tomas in die Redaktionsstube stürmt, einen »Krieg« zu entfesseln fordert, klopft ihm Billing zustimmend auf die Schulter. Gemeinsam überbieten sie sich mit Revolutions-Allüren. Den Feinden im Lokalparlament wolle man nun »das Messer an die Kehle« setzen. Als Tomas mit fanatischem Blick an den Bühnenrand tritt, ins Parkett starrend die Arme zur Kreuzigungsgeste erhebt, sich ganz nach dem Kohlhaas-Prinzip als von Gott gesandter Racheengel aufspielt, stellen sich Hovstad und Billing links und rechts von ihm auf. Sie ergreifen seine Hände, stabilisieren seine groteske Selbstinszenierung.
Aber schon bald stellt die Volksboten-Redaktion unter Beweis, dass ihre Postille es nicht einmal wert ist, einen toten Fisch drin einzuwickeln: Hatten Fragen des Allgemeinwohls und der Moral bisher ohnehin nicht sonderlich Raum eingenommen, so verschwinden sie jetzt gänzlich hinter einem grenzenlosen Opportunismus. Nur ein Mindestmaß an Mühe braucht Peter aufwenden, damit die Redakteure ihm geschlossen in den Allerwertesten kriechen. Statt des Skandal-Artikels möge »eine offizielle Erklärung« erscheinen, die alle Hinweise auf eine Verseuchung der Kuranlagen als Sturm im Wasserglas abqualifiziert, so verlangt es das Stadtoberhaupt – nicht ohne den Punkt zu berühren, an dem die Presse am verwundbarsten ist: das liebe Geld.
Falls der Bakterienbefall publik werde, müsse das Bad für mindestens zwei Jahre dichtmachen. Die Umsatzeinbußen wären horrende, die Kosten müssten auf die gesamte Gemeinde abgewälzt werden. Mit der gleichen Verve, mit der die Redakteure zuvor noch Tomas᾽ Anliegen unterstützt hatten, verfechten sie nun die Position seines Bruders. Billing als rückgratloseste Figur von allen zieht vonseiten der Zuschauer*innen vermutlich die wenigsten Sympathien auf sich. Doch auch mit Hovstad als Fähnlein im Wind verhält es sich nur unwesentlich besser. Als sich schließlich auch noch der Buchdrucker Aslaksen (Gregor Schleuning) einmischt, die eine Hand auf ein Stöcklein gestützt, die andere in der Hosentasche, mit süffisantem Tonfall zuungunsten Tomas᾽ auf »Mäßigkeit« insistierend, ist endgültig klar: mit solchen Gestalten ist kein Staat zu machen.
Opportunismus siegt?Immer mehr Schweinereien kommen ans Licht. Alle Entscheidungsträger, ob in Wirtschaft, Politik oder Presse, verfolgen ihre ganz eigenen, doch allesamt von pekuniären Interessen dominierten Agenden. Die Korruption floriert prächtig. Infolgedessen spitzt sich der Konflikt zwischen Tomas und Peter zusätzlich zu. In diesem Stück, einem irgendwo zwischen Komödie und Tragödie angesiedelten Hybrid, gibt es keine Kompromisse, nichts, das einen versöhnlichen Ausgang ermöglicht. Ganz im Gegenteil: Peter und dessen Gefolgschaft setzen alles daran, Tomas als Störfaktor komplett zu diskreditieren. Man beschneidet ihn in seiner Redefreiheit. Man stempelt ihn zum »Volksfeind«.
Dabei ist für Außenstehende längst offensichtlich geworden, dass Peter selbst eigentlich »der gefährlichste Feind« derer ist, die er zu repräsentieren vorgibt, wie Bjørn Hemmer im Ibsen-Handbuch betont. Marco Matthes weiß, wie man überzeugend in Fieslings-Rollen schlüpft; auch die des Bürgermeisters stellt er wie so oft mit Bravour dar. Ein eisiges Lächeln, das seine Lippen umspielt, verleiht ihm eine Menge Unberechenbares. Jeden Moment könnte er aus der Haut fahren. Oder doch lieber wieder darum flehen, dass Tomas den Laborbericht widerruft? Appelle an das Gewissen sollen den Jüngeren zum Einlenken bewegen. Doch schon im nächsten Augenblick packt Peter den Bruder am Kragen und droht fauchend mit Konsequenzen: »Du scheinst völlig zu vergessen, dass Du Deine Stellung als Kurarzt nur mir verdankst«.
In seiner Hilflosigkeit lässt Tomas sich zu Demokratieverachtung hinreißen und zu lauthals der Öffentlichkeit entgegengeschleuderten Vernichtungswünschen. Somit erweist er sich erst recht als entsetzliche Person. Die Versuche der Mächtigen, ein hohes Maß an »kognitiver Dissonanz« zu reduzieren, die der Konflikt zwischen den vielen widerstreitenden Interessen erzeugt, um es mit dem Psychologen Leon Festinger auf den Punkt zu bringen, sind also vorläufig – scheinbar – erfolgreich. Auf lange Sicht aber sind sie es nicht: Kein einziges der drängenden Probleme ist geklärt, nur, weil der vermeintliche Nestbeschmutzer nicht mehr aus einer No-Win-Situation herausfindet.
Redefreiheit als GefahrFestinger zufolge sehnen sich Menschen zu allen Zeiten danach, Widersprüche zwischen ihren »Kenntnis[sen], Meinung[en] oder Überzeugung[en] von der Umwelt, von sich selbst oder von dem eigenen Verhalten« zu beseitigen. Dafür greifen sie manchmal zu produktiven Methoden, oft aber auch zu unproduktiven. Ein Volksfeind ist genau deshalb zu allen Zeiten leicht aktualisierbar. Seit der Erstpublikation 1882 erfreut sich das Drama weltweit einer dauerhaften Bühnenpräsenz. Noch im frühen 20. Jahrhundert brachen bei den Aufführungen standardmäßig Tumulte aus. Teils mussten sie sogar mittendrin abgebrochen werden. Heutzutage sind überbordende Reaktionen nur noch dort vorstellbar, wo die Freiheit des Wortes als Gefahr für die Sicherheit gilt. So rief denn auch im Herbst letzten Jahres eine Volksfeind-Inszenierung der Berliner Schaubühne in China die Zensur auf den Plan.
Andernorts sieht sich in der Regel trotz vieler zu starken Emotionen verleitender Thesen und einer Entlarvung der Korrupten mittels beißenden Spotts, die nach wie vor im Zentrum des Stücks stehen, niemand mehr dazu veranlasst, durchzudrehen, selbst wenn auch dort die Kontrolle der Herrschenden womöglich nicht immer reibungslos klappt. Vor allem die Presse ist hier stets in die Pflicht zu nehmen; dafür steht der Volksfeind als Daily Reminder. In Göttingen, wo Kritik an den Mächtigen, auch in harscher Form, zur Normalität gehört, würdigte das Premierenpublikum die hervorragende Arbeit des Regisseurs Gerhard Willert, des Chefdramaturgen Matthias Heid und des Ensembles mit langem Applaus und mit Bravo-Rufen. Sich für einen der nächsten Spieltermine Karten zu sichern, lohnt sich auf jeden Fall.
Tolle Rezension, ich freue mich schon!