Else Lasker-Schülers Œuvre ist äußerst originär. In ihrem medial vielschichtigen Werk inszeniert sie sich immer wieder in ihrer bekannten Rolle als Prinz Jussuf von Theben. Doch das Spiel mit der Androgynie beginnt schon in ihren frühen Dichtungen.
Von Johanna Meixner
Else Lasker-Schüler – der Name gehört keineswegs zu denen der vergessenen Autorinnen. Im Gegenteil: Die Dichterin und Künstlerin (1869-1945) gilt als die weibliche Repräsentantin des literarischen Expressionismus.1 Dazu beigetragen hat die Aufnahme einer Auswahl ihrer Gedichte in Kurt Pinthus᾽ epochenmachende Anthologie Menschheitsdämmerung von 1919.2 Darin ist Lasker-Schüler als einzige Dichterin neben 23 männlichen Dichtern wie etwa Jakob van Hoddis, Ernst Stadler und August Stramm vertreten. Mit Gedichten aus ihrem Gedichtband Styx (1901) gelangte Lasker-Schüler früh zu Bekanntheit in den Kreisen der modernen Avantgarden und provozierte den bürgerlichen Geschmack ihrer Zeit, der unfähig war, ihr Genie zu erkennen. Dem abstrusen Vorwurf der »völlige[n] Gehirnerweichung«, den ein Rezensent der Rheinisch-Westfälischen Zeitung in Hinblick auf Lasker-Schülers Gedicht Leise sagen (1910) formulierte,3 sind (hier auszugsweise) die Verse ihres Gedichtes entgegenzusetzen, aus denen unverkennbar eine unvergleichliche poetische Begabung spricht:4
Zentralfigur der Berliner Avantgarde?Du nahmst dir alle Sterne
Ueber meinem Herzen.Meine Gedanken kräuseln sich
Ich muß tanzen.Immer tust du das, was mich aufschauen läßt,
Mein Leben zu müden.
Doch Lasker-Schülers Schaffen erschöpft sich nicht in ihrem lyrischen Werk, das sich bis heute immer wieder neuer Buchausgaben erfreut.5 Vielmehr ist sie eine Künstlerin, die in ihrem medial vielschichtigen Œuvre voller selbstbezüglicher und intertextueller Referenzen äußerst originär war: Neben Lyrik verfasste sie Prosa, einige wenige Dramen, viele Essays und poetische Briefe. Sie zeichnete – vor allem aber inszenierte sie sich immer wieder auch in ihrer Rolle als Dichterin und Künstlerin. Wie Raphael Gross festhält, kann Lasker-Schüler als eine »Zentralfigur der künstlerischen Szene zu Zeiten der Weimarer Republik«6 gesehen werden. In Hinblick auf diese weniger bekannte Bedeutung Lasker-Schülers ist es durchaus lohnend, die Dichterin als Künstlerin jenseits des Kanons und gerade auch im Zusammenhang ihrer umfassenderen Selbstinszenierung im Kontext der Moderne näher zu betrachten.
In den Kreisen der Berliner Avantgarden war Lasker-Schüler eine schillernde Figur. Sie war einige Jahre verheiratet mit dem Kunstorganisator Herwarth Walden und gab nicht nur ihm (der eigentlich Georg Lewin hieß) seinen neuen Namen, sondern sie war auch Namensgeberin der wohl wichtigsten expressionistischen Zeitschrift, des Sturm. Auch unabhängig von ihrem Mann stand Lasker-Schüler in enger Korrespondenz zu wichtigen Denkern und prägenden Künstlern ihrer Zeit wie unter anderem dem einflussreichen Literaturkritiker Karl Kraus.7 Mit Gottfried Benn und Franz Marc sowie dem heute weniger bekannten Peter Hille, der zur Jahrhundertwende ein legendärer Bohemien war, führte sie kongeniale künstlerische Dialoge, die nicht nur Eingang in Lasker-Schülers poetische Werke fanden, sondern auch in zahlreichen Bildern zum Ausdruck kommen. Immer wieder porträtierte Lasker-Schüler sich selbst als Prinz Jussuf von Theben und schuf mit ihm – ebenso wie mit ihrer schon früheren Selbstdarstellung als Tino von Bagdad – eine Kunstfigur, mit der sie zeitlebens identifiziert wurde.
Wie stark diese Gleichsetzung Lasker-Schülers mit den Figuren Prinz Jussuf von Theben und Tino von Bagdad war, geht unter anderem aus Gottfried Benns Rede auf Else Lasker-Schüler (1952) hervor, in der er festhält:
Man konnte weder damals noch später mit ihr über die Straße gehen, ohne daß alle Welt stillstand und ihr nachsah: extravagante weite Röcke oder Hosen, unmögliche Obergewänder, Hals und Arme behängt mit auffallendem, unechtem Schmuck, Ketten, Ohrringen, Talmiringe an den Fingern […]. […] Das war der Prinz von Theben, Jussuf, Tino von Bagdad, der schwarze Schwan. 8
Aufsehen erregte dabei nicht nur ihre ungewöhnliche, orientalisch anmutende Kleiderwahl, sondern auch das offenkundige Spiel mit den Geschlechterrollen. Indem Lasker-Schüler mit Pluderhosen und kurzem Pagenkopf in Erscheinung trat, brach sie mit den konventionellen Geschlechtszuschreibungen ihrer Zeit und verlieh sich eine spielerische Androgynie, die auch in ihrem literarischen Werk eine große Rolle spielt.9
Welche Sprengkraft der Androgynie zukommt, erschließt sich erst unter Einbezug des zeitgenössischen Geschlechterdiskurses:10 Schreibenden Frauen wurde noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht die gleiche Autonomie wie männlichen Autoren zugestanden. Trotz der erstarkenden historischen Frauenbewegung und neuer sexualwissenschaftlicher Erkenntnisse galten Autorinnen noch immer als Frauen in einem männlichen Beruf. Selbst der progressive Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld sah in der Berufswahl der Schriftstellerin einen »Beruf des anderen Geschlechts« und daher in Frauen, die als Schriftstellerinnen tätig waren, eine »Mischung männlicher und weiblicher Grundsubstanz.«11 Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass auch Lasker-Schüler von ihren Zeitgenossen mit männlichen Zuschreibungen bedacht wurde:12 Karl Kraus hat in Lasker-Schüler die »einzige männliche Erscheinung der heutigen deutschen Literatur«13 gesehen. Der Schriftsteller Sigismund von Radecki postulierte: »Sie war in ihrem Genialen männlich [Jussuf, der Prinz von Theben] und hatte doch einen Frauenleib.«14 Das männlich-androgyne Autorbild wird dadurch untermauert, dass Lasker-Schüler sich, wie Dieter Bänsch herausstellt, »fast ausschließlich männlicher Symbole bediente.«15
Lyrische Homoerotik und AndrogynieDoch nicht nur in ihrer Selbstdarstellung unterwandert Lasker-Schüler die vorherrschenden weiblichen Rollenbilder – auch in ihren Dichtungen werden die Geschlechtergrenzen fragil. So bekundet etwa das weiblich anmutende lyrische Ich in ihrem frühen Gedicht Urfrühling (1901): »Ich vergass meines Blutes Eva / Über all’ diesen Seelenklippen, / Und es brannte das Rot ihres Mundes, / Als hätte ich Knabenlippen.«16 Der Vergleich mit den Knabenlippen, auf denen das Rot des Mundes Evas brennt, evoziert das Bild eines homoerotischen Kusses. Dass der Kuss nicht ausdrücklich benannt, sondern nur angedeutet wird, lässt den Schluss zu, dass das hier suggerierte Begehren ein eigentlich Unaussprechliches ist, weil sich in ihm die konventionellen Geschlechtergrenzen auflösen. Homoerotische Konstellationen begegnen in den Dichtungen Lasker-Schülers immer wieder – sie sind dabei allerdings nicht auf die weiblich-weibliche Verbindung beschränkt. So stellt sich das weibliche sprechende Ich Gedichte Du es ist Nacht, das 1907 im Rahmen des Prosabandes Die Nächte Tino von Bagdads veröffentlicht wurde, als homoerotisch liebender Knabe dar: »Über den Grabweg hinweg / Wollen wir uns lieben, // Tollkühne Knaben, / Könige, die sich nur mit dem Szepter berühren.«17
Adaptionen des Platonischen Androgynie-MythosDas Changieren der Geschlechtsidentitäten ist ein wiederkehrender Aspekt der Androgynie in Lasker-Schülers Werk.18 »Androgynie« bedeutet wörtlich übersetzt »Mannweiblichkeit« und meint in einem umfassenderen Sinn die Vereinigung weiblicher und männlicher Eigenschaften in einer Person.19 In der Kunst und Literatur hat die Androgynie eine andauernde Tradition. In Platons Dialog Das Gastmahl findet sich der berühmte Androgynie-Mythos erzählt, auf den künstlerische Adaptionen wie auch Lasker-Schüler immer wieder rekurrieren.20 Zu Urzeiten – so erzählt Platons Mythos – hatten die Menschen noch eine andere Gestalt: Als Kugelmenschen lebten sie auf der Erde. Sie hatten zwei Köpfe, vier Arme und vier Beine und traten in unterschiedlichen geschlechtlichen Konstellationen in Erscheinung: Es gab männlich-männliche, weiblich-weibliche und männlich-weibliche, die letzteren wurden die Androgynen genannt.21 In ihrem Übermut zogen die vergnüglichen Kugelmenschen den Zorn der Götter auf sich und wurden in der Mitte zerteilt. Seither suchen die Menschen nach ihrer verlorenen Hälfte und können nur in der Umarmung mit ihrer ursprünglich verlorenen Hälfte kurzzeitig ihre Sehnsucht stillen.22
In Lasker-Schülers Gedicht Nebel (auch unter dem Titel Erfüllung, 1905) findet sich eine frappante Analogie zu dem Motiv der sich kugelnden Menschen, die darauf hindeutet, dass Lasker-Schüler mit dem Mythos der Androgynie vertraut war:23 »Und was werden wir beide spielen…. / Wir halten uns fest umschlungen / Und kugeln uns über die Erde, / Über die Erde.«24 Das Androgynie-Motiv, das Lasker-Schüler bereits in ihren frühen Gedichten entfaltet, bleibt ein wesentliches Element ihrer nachfolgenden Prosa und ihrer Selbstinszenierung als Tino von Bagdad und Prinz Jussuf von Theben.25
Bis in die 1990er Jahre hinein sitzt die Forschung der scheinbaren autobiographischen Verschränkung von Leben und Werk auf und verkennt oftmals die Bedeutung, die dem androgynen Spiel zukommt.26 Ein Topos der Lasker-Schüler-Forschung ist, dass Lasker-Schüler sich die Jussuf-Maskerade aneignete, um das Ende ihrer Ehe mit Walden zu verarbeiten.27 Diese Fehleinschätzung ist ein weiterer Grund, warum auch Lasker-Schüler »Jenseits des Kanons« zu würdigen ist. Denn insbesondere in ihren weniger
Raffiniert werden bereits in der ersten Episode des Peter Hille-Buch Text und Kontext verwoben, wenn die Erzählinstanz bekundet:
Ich war aus der Stadt geflohen und sank erschöpft vor einem Felsen nieder und rastete einen Tropfen Leben lang, der war tiefer als tausend Jahre. Und eine Stimme riss sich vom Gipfel des Felsens los und rief: ›Was geizst du mit Dir!‹ Und ich schlug mein Auge empor und blühte auf und mich herzte ein Glück, das mich auserlas. Und vom Gestein zur Erde stieg ein Mann mit hartem Bart- und Haupthaar, aber seine Augen waren samtne Hügel. Und kleine Kobolde kletterten über seinen Rücken und beklopften ihn mit ihren Hämmerchen und nannten ihn Petrus. Und wir stiegen ins Tal herab und der Mann mit dem harten Bart- und Haupthaar fragte mich, von wo ich käme – aber ich schwieg; die Nacht hatte meine Wege ausgelöscht, auch konnte ich mich nicht auf meinen Namen besinnen, heulende hungrige Norde hatten ihn zerrissen. Und der mit dem Felsnamen nannte mich Tino. Und ich küsste den Glanz seiner gemeisselten Hand und ging ihm zur Seite. 30
Das hier erwähnte Vergessen der vorgängigen Identität suggeriert nicht nur einen Bruch in der Biographie des fiktiven Ich, sondern es weist gleichsam auch über die erzählte Welt hinaus: In der Fiktion, so lässt sich die Eingangsepisode deuten, weiß die literarische Figur nichts mehr von seiner außerhalb des Imaginierten liegenden Identität als Lasker-Schüler. Lasker-Schüler ist nunmehr Tino, so wie Peter Hille – auf den der Titel des Peter Hille-Buch so unverkennbar referiert – im Text ausschließlich »Petrus« heißt. Die Verknüpfung von Text und Kontext wird durch beide Dichter auch dadurch forciert, dass sie in ihren Briefen und Essays immer wieder darauf verweisen, dass Peter Hille Lasker-Schüler auch im Leben mit dem Namen »Tino« versehen hat. Die Androgynie der Tino-Figuration wird dabei durch ihre Kindlichkeit und Knabenhaftigkeit konstituiert. So bekundet Lasker-Schüler selbst: »Ich war damals, als ich Peter Hille kennenlernte, wie man so sagt, noch ganz klein, himmelblau, er meinte zwar, ich sei rot und grün, und nannte mich Tino, das kleine Mädchen mit den Knabenaugen.«31 Das Mädchen, das knabenhaft erscheint, ist, ebenso wie die spätere Selbstdarstellung Lasker-Schülers als Prinz Jussuf von Theben, ein androgynes Phänomen, das in einem unmittelbaren Zusammenhang zu Lasker-Schülers Autorinszenierung steht.
Die Selbstbehauptung als Dichterin vor der Folie des androgynen Dichterideals der RomantikDoch anders als die Forschung oftmals vermutet hat, negiert Lasker-Schüler mit ihrer androgynen Selbstdarstellung keineswegs ihr weibliches Geschlecht oder gar ihre Autorschaft.32 In ihrer Streitschrift Ich räume auf! (1925), in der sie ihre Verleger anklagt, hält Lasker-Schüler fest, dass »Else Lasker-Schüler« ein »starker Name [ist], der zum ersten Male für mich zeugte.«33 Ihren Status als Dichterin verteidigt Lasker-Schüler immer wieder in ihren Werken – etwa auch dadurch, dass sie die Maskeraden ganz transparent als solche inszeniert und immer wieder durchscheinen lässt, dass sich in dem Gewand Jussufs die Berliner Dichterin verbürgt: »ich war verkleidet als Poet […] Ich bin Poetin!!«34 Dafür, dass Lasker-Schüler mit ihren androgynen Selbstdarstellungen an ihrer Anerkennung als poetischer Autorität gelegen ist, sprechen zudem Anspielungen auf das Ideal des androgynen Dichters, das vor allem in der literarischen Romantik kumuliert.
Geprägt wurde das Bild des androgynen Dichtergenies insbesondere durch die maßgeblichen romantischen Bildungsromanen Lucinde (1799) von Friedrich Schlegel und Heinrich von Ofterdingen (1802) von Novalis.35 Beide Romane haben gemeinsam, dass sie die Bildungswege männlicher Protagonisten erzählen, die jeweils in der liebenden Begegnung ihrer Frauen ihr dichterisches Potential vollends entfalten und durch die Liebe ihres weiblichen Gegenparts erst komplettiert werden. So heißt es etwa in Schlegels Lucinde: »Nur in der Antwort seines Du kann jedes Ich seine unendliche Einheit ganz fühlen. Dann will der Verstand den innern Keim der Gottähnlichkeit entfalten, strebt immer näher nach dem Ziele und ist voll Ernst, die Seele zu bilden, wie ein Künstler das einzig geliebte Werk.«36 Diese Vervollkommnung des männlichen Dichtergenies kann insofern als Motiv der Androgynie interpretiert werden, als schon in Platons Androgynie-Mythos die mannweibliche Liebesvereinigung als androgyne Konstellation verstanden wird. Bildung als eines der prägenden Narrative der Zeit um 1800 wird in der Romantik also nicht nur mit Männlichkeit, sondern auch mit Androgynie assoziiert.37 Und gerade diese Assoziation von Androgynie und dichterischer Vervollkommnung ist eine wesentliche Folie für Lasker-Schülers Konzeption der Tino-Figur im Peter Hille-Buch.38
Tinos androgyner Bildungsweg im Peter Hille-BuchTino, das »Mädchen mit den Knabenaugen«, nimmt in der episodisch entfalteten Handlung des Peter Hille-Buch eine literaturgeschichtlich traditionell männlich assoziierte Position ein: Es ist Tinos Entwicklung zur Dichterin, die in der Handlung nachvollzogen wird.39 Die Androgynie wird dabei jedoch anders als in den romantischen Bildungsromanen nicht durch eine heterosexuelle Liebesvereinigung konstituiert, vielmehr ist Tino in sich selbst androgyn. So wird sie nicht nur, wie aus der oben zitierten Eingangsepisode hervorgeht, männlich anmutend in den Text eingeführt, sondern changiert auch in der Fremdsicht zwischen männlich und weiblich. Die anderen Figuren erkennen Tino aus der Ferne als »Knaben«40, während den Leser*innen durch das weibliche Pronomen, mit dem konstant auf Tino referiert wird, Tino als weibliche Figur ausgewiesen wird. Der Entwicklungsprozess Tinos zur Dichterin wird in verschiedenen Stationen vollzogen, die mal männlich und mal weiblich kodiert sind. So verkleidet sich Tino unter anderem als Scheherezade (»und ich musste das Kleid Scheherezadens anlegen«41) und damit als die Märchenerzählerin aus Tausendundeine Nacht und damit als eine der berühmtesten weiblichen Erzählstimmen der Weltliteratur. Dadurch scheint Tino sich zunächst in eine weiblich kodierte Erzähltradition einzufügen. Andererseits wird sie als Lehrling ihres Meisters Petrus dargestellt, womit Tino eine männlich kodierte Position einnimmt.
Poetische Initiation und LegitimationDie eigentliche poetische Initiation Tinos vollzieht sich bezeichnenderweise in einem androgyn aufgeladenen Prüfungsereignis: Tino bekommt von ihrem Meister Petrus einen Dolch zugesteckt, mit dem sie ein Tor passiert und sich in einem rätselhaften Kampf beweist, der in der Handlung nicht explizit erzählt wird. Angedeutet wird nur, dass der Dolch, der nunmehr wie ein Körperteil anmutet, blutet: »Und einen Dolch steckte er in meinen Gürtel – ich wusste nicht, warum das geschah. Aber als ich durch das goldne Tor in die Stätte kam, schwollen mir süssliche Eitelkeiten entgegen, […]. Und als ich zu Petrus zurückkehrte, brannte mein Leib und er zog den Dolch aus meinem Gürtel, der blutete.«42 Die höchst suggestive und stark verschlüsselte Szene spielt mit phallischen und deflorierenden Symbolen, die durch dieses Changieren männlicher und weiblicher Konnotationen androgyn erscheinen.43 Vor Petrus, der Tino auf die kämpferische und damit in ihren Grundzügen männlich anmutende Probe stellt, erweist sie sich würdig, das Andenken zu erfüllen, das er sich von Tino wünscht: »Du wirst meinem Andenken einen Thron bereiten.«44 Der Text selbst stellt schließlich dieses Andenken dar – er ist eine Huldigung Petrus’ und zugleich der Beweis der poetischen Potenz Tinos, die als auch in der erzählten Welt als Verfasserin des Peter Hille-Buch in Erscheinung tritt.
Das kämpferisch verteidigte KünstlertumDie im Peter Hille-Buch evozierte Verknüpfung von Androgynie und Künstlertum bleibt ein beständiges Merkmal der Tino- und Jussuf-Figuren in Lasker-Schülers Prosa der Schaffensphase bis 1919. Dass Lasker-Schüler einerseits mit traditionellen Geschlechterbildern ihrer Zeit bricht und sich andererseits auf motivgeschichtliche Vorprägung des androgynen Dichters bezieht, lässt sich als emphatische Verteidigung ihrer Rolle als legitimierte Dichterin und Künstlerin verstehen.45 Die Figuren ihrer literarischen Texte geben sich immer wieder kämpferisch. Die Erzählinstanz in den Briefen nach Norwegen konstatiert: »Ich richte mich noch einmal auf, stoße meine wilden Dolche alle in die Erde, eine Kriegsehrung zu meinem Haupte. Hier und nicht weiter!«46 In dem Prosastück Der Kreuzfahrer (1910) trägt die weibliche Erzählfigur »das heilige Kriegsgewand meiner Heimat, im Gürtel, den Dolch, der ist gebogen und unentwendbar, wie die Mondsichel.«47 Mit diesem Gewand tritt sie als »Kriegerin“ auf und zieht als erste Prinzessin von Bagdad »in die Schlacht.«48 Und auch die Figur des kaiserlichen Jussuf in dem Roman Der Malik (1919) gibt sich kämpferisch, wenn es heißt:
Gestern hielt der Kampf an bis in die Nacht. […] Ich scherze und tauche den Schreibstift in Blut. Ich kämpfe wie im Gemälde; Meine Lippen sind noch schwarz vor Blutdunst. Ich lag dann den Rest der Nacht wach […], nur Mein Somali Oßman starrte geradeaus in mein Gesicht, das dichtete Rosen nach all dem Kriegsgräuel.49
Bezeichnenderweise ist es ein Kampf am Schreibtisch, den Jussuf hier ausficht. Es ist der Ort, von dem aus Lasker-Schüler sich als Dichterin für die Nachwelt unvergesslich macht.