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Reihe: Jenseits des Kanons
»Rätselleben«

Lou Andreas-Salomé hat als Autorin und Philosophin, Essayistin und Psychoanalytikerin die intellektuellen Debatten um 1900 mitbestimmt. Sie war nicht etwa eine Randerscheinung der anbrechenden Moderne, sie bewegte sich in ihrem geistigen Zentrum.

Von Katrin Wellnitz

Lou Andreas-Salomé hat gemeinsam mit Friedrich Nietzsche und Paul Rée an philosophischen Theorien gearbeitet, die beiden dabei nicht selten mit ihrem Wissen in die Tasche gesteckt; schon als Jugendliche las sie Kants Theorien in holländischer Sprache mit ihrem Lehrer Hendrik Gillot, einem holländischen Prediger, den sie sich in ihrer Heimat St. Petersburg selbst erwählte. Der eigentliche Nebeneffekt, dass sich die drei Männer beim gemeinsamen Philosophieren in Andreas-Salomé verliebten und sie zur Frau nehmen, als ihr Eigen bezeichnen wollten, ist im allgemeinen Wissen über die Autorin zum Haupteffekt verklärt worden. Sie ist – und ihre Biographie hält noch weitere ganz ähnliche Beispiele bereit – in den Schatten der ›großen Männer‹ und ihrer teils sagenhaft ausgeschmückten Liebesgeschichten gerückt worden; ihr eigenes Schaffen tritt dabei nicht selten ganz in den Hintergrund.

»Die Frau mit der Peitsche«1

Es ist eine vertrackte Sache mit der Peitsche. Die »kleine Wahrheit«, die Nietzsches Zarathustra als Schatz mit sich durch die Dämmerung trägt und die ein »altes Weiblein« ihm überbrachte, besagt es schon: »Du gehst zu Frauen? Vergiß die Peitsche nicht!« – eine »böse Handlungsanleitung für gekränkte frauenbesuchende Männer«2? Oder doch reine Gleichnisrede, die sich in ihrer Abstraktion der konkret misogynen Auslegung zu entziehen vermag?3 Kerstin Decker, die Biographin Lou Andreas-Salomés, ist sich sicher, dass Nietzsche die Peitsche nicht geschwungen hätte ohne die Zurückweisungen der jungen Lou von Salomé; sie nutzt Nietzsches Beziehung zu der umschwärmten Denkerin dann auch als Aufhänger für ihren Klappentext, vergisst dabei nicht, auf Rilke und Freud, die anderen beiden ›großen Männer‹ im Dunstkreis der Autorin einzugehen. Sie bringt dabei Nietzsches Peitschen-Bild mit Andreas-Salomé in Verbindung – und das ist, so abgeschmackt es wirkt, gar nicht so abwegig, gibt es da doch diese Fotografie aus dem Jahre 1882.

Sie zeigt Lou Andreas-Salomé als »Frau mit der Peitsche«, die, so entsteht der Eindruck, zwei ›große‹ Männer, Friedrich Nietzsche und dessen Freund Paul Rée, für eine fotografische Aufnahme des Dreierbundes im Jahre 1882 vor einen Karren spannte. Die Situation war in der Tat angespannt: Beide Männer liebten Louise von Salomé, beide erhielten von ihr eine Abfuhr und beide machten sich weiterhin Hoffnungen. Gemeinsam mit der jungen Intellektuellen und ihrer Mutter befanden sie sich auf Reisen, Nietzsche hatte gerade eine erneute Abfuhr erhalten, pochte nun aber auf ein gemeinsames Zeugnis ihres Dreierbundes, »das zugleich wie eine versprochene Zukunft«4 sein sollte. Einer der bekanntesten Schweizer Fotografen, Jules Bonnet, schoss dieses verhängnisvolle wie deutungsreiche Bild von dem unglücklichen Dreiergespann, angeregt und angeleitet durch Nietzsche, der die junge Autorin auf den Wagen schickte und sich und Rée die Zügel anspannen ließ. So freigeistig diese Idee der zeitgenössischen Fotografie mit ihren üblicherweise steifen und würdevollen Aufnahmen entgegenstand, so sehr vermittelt sie doch auch die fesselnde Befangenheit dieses hoffnungslosen Liebesdreiecks.

Hinter derartigen Anekdoten – die nicht selten die Opferrolle verliebter Männer in den Vordergrund rücken – tritt das, was Andreas-Salomé im Laufe ihres literarischen wie wissenschaftlichen Schaffens mitzuteilen hatte, häufig ganz in den Hintergrund. Dabei ließe sich schon ihr Austausch mit

Reihe

Die ausgetretenen Pfade des literarischen Kanons verlassend setzen die Autor*innen dieser Reihe sich mit Dichterinnen, Denkerinnen, Schriftstellerinnen auseinander, deren Werke oft ganz zu Unrecht im Schatten kanonischer Texte liegen und hier in Teilen neu entdeckt werden können. Weitere Beiträge folgen hier.

 
 
den intellektuellen Größen ihrer Zeit ganz anders beleuchten: Andreas-Salomé bewegte sich mit ihrem Schaffen im Zentrum geistiger wie gesellschaftlicher Umbrüche; ihr Austausch mit Philosophen wie Friedrich Nietzsche und Paul Rée, mit Dichtern und Literaten wie Rainer Maria Rilke und Gerhart Hauptmann oder mit Psychoanalytikern wie Sigmund Freud und Alfred Adler trug maßgeblich zu neuen Stoßrichtungen verschiedener philosophischer, wissenschaftlicher, literarischer, weltanschaulicher und psychoanalytischer Bemühungen bei. Die aktive und schöpferische Rolle Andreas-Salomés dabei in den Blick zu nehmen und ihr Werk auch jenseits der ›großen Männer‹ und ihrer Eitelkeiten ernst zu nehmen, bleibt weiterhin Aufgabe zukünftiger wissenschaftlicher und journalistischer, dabei interdisziplinär ausgerichteter Auseinandersetzungen mit dem Leben und Werk der Autorin. Das Medium des Films hat sich hier schon als gelungener Anstoß erwiesen: Mit dem Kinofilm Lou Andreas-Salomé von 2016 hat die Regisseurin Cordula Kalbitz-Post die selbstbewusste wie eigenwillige Biographie Andreas-Salomés einem breiten Publikum zugänglich gemacht und dabei insbesondere das Wirken der Autorin beleuchtet. Ausgangspunkt der Handlung ist dabei übrigens das Haus am Göttinger Hainberg, in dem Andreas-Salomé bis zu ihrem Tod lebte.

Dabei ist es wichtig, zu den Texten zurückzufinden und die Arbeit mit diesen aus der Zone oft rein männlicher Wertungen zu befreien. »Scharfsinnig wie ein Adler und mutig wie ein Löwe«5 oder »von gefährlicher Intelligenz«6 sind stereotype Attribute, die veraltete und sexistische Zuschreibungsmuster bespielen, ohne dem Werk der Autorin in irgendeiner Weise näherzukommen.

»So wie die Lou ist doch niemand.«7

Lou Andreas-Salomé hat ab 1880 als eine der ersten Frauen ein Hochschulstudium an der Universität in Zürich aufgenommen, um dort Vorlesungen zur Religionswissenschaft, Philologie, Philosophie und Kunstgeschichte zu hören. Gleichzeitig schrieb sie erste Gedichte, die sie nicht etwa in der Schublade verschwinden ließ, sondern ihrem Professor Gottfried Kinkel vorlegte. Beeindruckt war dieser besonders von ihrem Gedicht Lebensgebet, das ihre zugewandte und dabei gleichsam kämpferische Haltung dem Leben gegenüber lyrisch zusammenfasst und das später durch Nietzsche vertont wurde:

Gewiß, so liebt ein Freund den Freund,
Wie ich Dich liebe, Rätselleben –
Ob ich in Dir gejauchzt, geweint,
Ob Du mir Glück, ob Schmerz gegeben.

Ich liebe Dich samt Deinem Harme;
Und wenn Du mich vernichten mußt,
Entreiße ich mich Deinem Arme
Wie Freund sich reißt von Freundesbrust.

Mit ganzer Kraft umfaß ich Dich!
Laß Deine Flammen mich entzünden,
Laß noch in Glut des Kampfes mich
Dein Rätsel tiefer nur ergründen.

Jahrtausende zu sein! zu denken!
Schließ mich in beide Arme ein:
Hast Du kein Glück mehr mir zu schenken –
Wohlan – noch hast Du Deine Pein.

Diesem mächtigen Du, dem Leben mit all seinen Schattenseiten, widmete die Autorin große Teile ihres Werkes, setzte sich dabei sowohl wissenschaftlich, literarisch als auch weltanschaulich mit seinem Sinn und den Perspektiven, die ihr darin offenstanden, auseinander. Zahlreiche religionstheoretische Aufsätze und Essays binden das für die Jahrhundertwende so typische Schlagwort des Lebens an christlich geprägte Frömmigkeitskonzepte, beginnen mit dem frühen Gottesverlust und münden in eine dem Freigeist verschriebene Lebensbejahung, die immer wieder auf die freie Lebensform der Autorin verweist, mit der sie sich aus jeglichen normativen Zwängen zu lösen suchte. In ihre Memoiren, die posthum unter dem Titel Lebensrückblick erschienen, fügte sie in das Kapitel über Freundschaften, u.a. zu Paul Rée und Friedrich Nietzsche, einen Brief an ihren zurückgewiesenen Verehrer Hendrik Gillot ein, der in all seiner Intensität die Eigenwilligkeit und Selbstbestimmtheit der Autorin zum Ausdruck bringt. So schrieb sie ganz bezeichnend über eine mögliche Vereinnahmung durch Malwida von Meysenbug, die sich für die Frauenbewegung stark machte:

Sie [von Meysenbug, K.W.] pflegt sich so auszudrücken: dies oder jenes dürfen ›wir‹ nicht thun, oder müssen ›wir‹ leisten, – und dabei hab ich doch keine Ahnung, wer dies ›wir‹ eigentlich wohl ist, – irgend eine ideale oder philosophische Parthei wahrscheinlich, – aber ich selber weiß doch nur was von ›ich‹.8

Malwida von Meysenbug hatte nämlich nichts mit dem emanzipierten Plan der ehrgeizigen jungen Frau anfangen können, mit den Verliebten Paul Rée und Friedrich Nietzsche in eine intellektuelle Denker*in-WG zu ziehen.

Das Selbstbild der Autorin ist scheinbar nicht mit einem vereinenden wie vereinnahmenden »Wir« zusammenzubringen. Unterstrichen wird dieser Unwille zur Anpassung durch die Ambivalenzen, die das Leben und Werk der Autorin durchziehen. Andreas-Salomé wird aufgrund ihrer Lebensführung gerne von Emanzipationsbewegungen heranzitiert, obgleich sie in ihren Schriften neben starken Emanzipationsgedanken mitunter auch ein selbst für ihre Zeit rückschrittliches Frauenbild vertrat.9 So verwundert es auch nicht, dass sie den aufstrebenden Emanzipationsbewegungen eher kritisch gegenüberstand; wesentlich für das Verständnis dieser Ablehnung ist hingegen nicht nur ihr ambivalentes Frauenbild, sondern ebenso ihr Bezug zu allem Politischen. Es ist schwierig, in ihrem Werk direkte Bezüge zur Politik und zum politischen Geschehen zu finden. Zwar verweist sie häufiger auf politische Geschehnisse, z.B. auf den Ersten Weltkrieg, zwar deutet sie diese z.B. in Briefen auch näher aus, doch ihre Auslegungen bleiben allgemein und führen, vorbei an konkreten politischen Stellungnahmen, in die Abgründe des Psychologischen.10

Freigeist und Sphinx

In ihrem Werk finden sich hingegen zahlreiche Bezüge zu sozialpolitischen Bestrebungen der Lebensreformbewegung. In ihrer Erzählung Ródinka. Russische Erinnerung von 1923 setzt sie sich beispielsweise mit auch revolutionär geprägten Reformbestrebungen auseinander und führt an praktischen Beispielen erzieherische Reformideen vor, die an das Engagement eines Lew Tolstoi erinnern.11

Die Reformideen lehnen sich immer auch an die Frage an, welche Inhalte das Leben, das sich seit dem späten 19. Jahrhundert aus den Banden eines traditionellen metaphysischen Glaubenskonzepts zu lösen begann, dem Menschen überhaupt noch bereithalten könne. Dort, wo die Leerstelle ›Gott‹ entstand, bildeten sich um 1900 neue Konzepte heraus, die diesseitiger ausgerichtet waren und das Leben als Schlagwort in ihr Zentrum stellten.12 Andreas-Salomé bewegte sich mit ihren essayistischen, aber auch literarischen Schriften im Zentrum der weltanschaulichen Debatten rund um den Lebensbegriff. Insbesondere ihre zahlreichen religionstheoretischen und philosophischen Publikationen, die der Philologe Hans-Rüdiger Schwab im Jahr 2010 gesammelt in zwei Bänden herausgab, zeugen von der selbstständigen und selbstbewussten Arbeit der Autorin. Mit ihr strebte sie

Band 1


Lou Andreas-Salomé
Aufsätze und Essays Bd. 1: »Von der Bestie bis zum Gott« (Religion)
Herausgegeben von Hans-Rüdiger Schwab
MedienEdition Welsch: Taching am See 2011
327 Seiten, 26,80€

 

Band 2


Lou Andreas-Salomé
Aufsätze und Essays Bd. 2: »Ideal und Askese« (Philosophie)
Herausgegeben von Hans-Rüdiger Schwab
MedienEdition Welsch: Taching am See 2014
352 Seiten, 26,80€

 
 
einer spinozistischen Weltauffassung entgegen, in der Freiheit und Ganzheit sich die Waage hielten. Die Übertragung der verschiedenen theoretischen Konzepte in die Praxis literarischer Texte, die alle drei Grundgattungen bespielen, gestalten die Beschäftigung mit dem Werk der Autorin so spannend wie herausfordernd.

Schon in ihrem Erstlingswerk Im Kampf um Gott, das sie unter dem männlich konnotierten Pseudonym Henri Lou – eine Mischung aus ihrem Namen und dem Namen ihres ersten Lehrers Hendrik Gillot – im Jahr 1885 veröffentlichte, lassen sich wesentliche Eckpfeiler ihrer auch späterhin weiterentwickelten Theorien ausmachen. Sie lebte und reiste mit Paul Rée, das Zerwürfnis mit Friedrich Nietzsche lag hinter ihr. Die Familie habe, so skizziert die Autorin in ihrem Lebensrückblick, Druck auf sie ausgeübt, sie zurück nach Hause holen wollen. Gemeinsam mit ihrem Freundeskreis und Paul Rée habe sie den Beschluss gefasst, ein Buch zu schreiben, um der Familie die Fähigkeit zum selbstständigen Leben im Ausland aufzuzeigen. Innerhalb weniger Wochen entstand nun also ihr erster Roman. Er wurde von der Kritik recht begeistert aufgegriffen und sein Ruhm drang bis nach Norwegen zu Arne Garborg vor. Andreas-Salomé äußerte sich später abfällig über ihr Erstlingswerk und gab an, es lediglich »zusammengeschmiert« zu haben. Das mag nicht überraschen, da dieses Werk, das sie als 22-Jährige veröffentlicht hatte, einige Schwächen aufweist.

Zu einem nicht unerheblichen Teil wirkt es wie eine essayistische Rundumschau zu weltanschaulich relevanten Themen, die sich in mitunter überladene Dialoge verirrt hat. Dennoch sollte der Roman nicht unterschätzt werden. Er stellt den experimentellen Versuch dar, die teils allein, teils im Gespräch mit anderen (insbesondere mit Friedrich Nietzsche) entwickelten Theorien in die Praxis eines literarischen Textes zu überführen.

Inszeniert wird in dem Roman der autobiographische Bericht eines Einsiedlers, der mit Fragmente aus den Papieren eines Einsamen überschrieben ist und sich einfügt in eine kurz gehaltene auktoriale Rahmenerzählung. Erzählt wird die Geschichte eines Gottesverlusts, die sich im geistlichen Milieu abspielt. Konkrete Hinweise auf Zeit und Ort werden ganz bewusst unterminiert. An Heinrich von Kleist mag man sich erinnert fühlen bei Ortsbeschreibungen wie »in das […] nicht sehr entfernte *** Gebirge«. Der Autobiograph und sein Bruder entwachsen dem religiösen Einfluss ihres Vaters, der als Dorfpfarrer einen leidenschaftlichen wie strengen Glauben praktiziert und an seine Söhne weiterzugeben gedenkt. Die Handlung ist durchzogen von Unglücksmomenten. Die ergeben sich scheinbar aus dem Glaubensabfall des Protagonisten. Die Handlungsschilderung wird untermalt mit weltanschaulichen Dialogen, die nicht selten in ein sentenzenhaftes, belehrendes »Wir« verfallen:

[K]eine Idee schleudern wir so weit hinter uns, keine erscheint uns so abstoßend wie die, über welche wir soeben erst hinausgegangen sind.

Die Dialoge sind dabei teilweise theoretisch überladen und lassen die Figuren zu abstrakten Größen werden, die sich religionstheoretischen und weltanschaulichen Fragestellungen widmen. Klug und gelehrig werden sie vor den Lesenden ausgebreitet.

Einer Überreizung der theoretisch-gelehrigen Atmosphäre, die die Figuren teilweise zu statisch erscheinen lässt, wird entgegengewirkt, indem die Autorin die Theorie in ein märchenhaftes Setting einspannt. Alles beginnt mit der Beschreibung einer einsamen Hütte, die weit ab vom Dorf in die Berge verlegt wird: »Die Türpfosten glichen zwei riesigen Zuckerstangen im Märchen und das steinbeschwerte Dach hatte sich eine Schneekappe so tief über den Kopf gezogen, daß ihre gezackten Eistroddeln neugierig bis zu den Fenstern hinablangten.« Die Anthropomorphismen, also Belebungen unbelebter Gegenstände, evozieren hier eine Märchenstimmung. Andreas-Salomé spannt den märchenhaften Bogen weiter bis zur Geschichte einer Figur mit dem symbolträchtigen Namen »Märchen«. Sie bereichert die gelehrige, teils leere Atmosphäre mit kindhafter Lebendigkeit. Die Geschichte, in die sich weltanschauliche Meilensteine einfügen, geht, wie in vielen klassischen Volksmärchen auch, nicht gut aus; das gute Ende zerbricht hier an der sozialen Realität.

Vorrangig wird hier die durchaus tragische Geschichte von Freigeistern verhandelt, wobei Andreas-Salomé an ihre eigene sowie an die Geschichte Friedrich Nietzsches gedacht haben wird. Im Zentrum steht dabei die Frage:

Und wer hilft dir aus dieser ertödtenden Nichtigkeit des Lebens?

Das Lebensrätsel setzt die Autorin hier mit dem Rätsel der Sphinx gleich, führt dabei die Entzauberung des größten aller Rätsel gleichnishaft vor:

Und seine Lösung lautet dem, der sie in’s praktische Leben übersetzt: ›Eine Spanne Zeit, die darin besteht, daß man sie Morgens auf vieren, Mittags auf zweien, Abends auf dreien Beinen durchkriecht, um zu sterben – sieh, das ist ihr Sinn!‹

Die scheinbare Nichtigkeit steht jedoch für die Autorin nicht am Ende jedweder Lebenseinsicht, sondern an deren Anfang; sie löst sie schließlich sentenzenhaft auf: »Je nichtiger das Leben, desto größer der Mensch, der es zu adeln weiß«. Der Kampf mit dem Leben, den der Roman vorführt, wird in der Theorie wie der Praxis des Erzählten zu einer neuen Glaubensform sublimiert, in deren Mittelpunkt das Schlagwort des Lebens aufscheint.

Das Haus am Hainberg

In Göttingen fand die Autorin als angehende Psychoanalytikerin ab 1903 gemeinsam mit ihrem Mann Friedrich Carl Andreas ihre Wahlheimat und hier blieb sie bis zu ihrem Tod. Die Geschichte ihres Göttinger Hauses, das sie liebevoll als »Loufried« bezeichnete und das mit diesem Namen in die Göttinger Stadtgeschichte eingegangen ist, ist keine gewöhnliche. Sie spiegelt vielmehr den Charakter Andreas-Salomés auf anschauliche Weise wider. Auf der Suche nach einem Göttinger Haus erblickte sie es und wusste, dass sie dort wohnen musste, jedoch war das Haus bewohnt. »Ich raste beim Gedanken, dass das nicht zu haben sei«, schrieb sie am 18. Januar 1904 in ihr Tagebuch.13

Und irgendwie schaffte sie es, die Bewohner, eine alte Frau und ihren Sohn, davon zu überzeugen, dass sie in ihr Haus einziehen müsse. So sehr liebte sie das Leben in dem Haus am Berg mit dem großen Garten, dass sie ihm ein Buch, Das Haus, widmete. Und Rilke schrieb ihr am 13. November 1903: »Liebe Lou, es rührt mich seltsam an, daß nun eine Heimat um Dich steht, ein Haus, Deines Wesens voll, ein Garten, der von Dir lebt, eine Weite, die Dir gehört«.14 Lou Andreas-Salomé lebte fortan in ihrem Haus am Berg und praktizierte in einer kleinen Praxis als Psychoanalytikerin, half damit bis ins hohe Alter hinein noch unzähligen Menschen.

Das Haus hat bis in die 1976er Jahre überlebt; dann wurde es trotz überregionaler Proteste, die auch von Günter Grass mitgestaltet wurden, abgerissen. Der große Garten ist heute immerhin noch zu erahnen, trieb neugebaute Häuser aus dem Boden. Auf dem Grundstück erinnern ein Gedenkstein sowie ein privat geführtes Lou-Andreas-Salomé-Museum an die Autorin; entlang der Zäune führt – nicht unweit vom Hainbund-Denkmal – der Lou-Andreas-Salomé-Weg Spazierende am alten Grundstück vorbei. Das Lou Andreas-Salomé Institut für Psychoanalyse und Psychotherapie Göttingen trägt dazu bei, die Erinnerungen an die vielseitige Denkerin in der Stadt zu erhalten. Ihre Geschichte führte die Autorin über Umwege schließlich nach Göttingen. Von hier aus beteiligte sie sich weiterhin daran, den Weg in die europäische Moderne zu ebnen.

Von Göttingen aus lässt sich das Leben und Werk der Autorin immer wieder neu entdecken; ihr Wirken ist jedoch auch über die Stadt hinaus von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Ohne den Einfluss von Andreas-Salomé lässt sich das Leben und Werk eines Rainer Maria Rilke nicht umfassend begreifen. Eine Kulturgeschichte mit schwarzen Löchern schreibt, wer die Autorin bei der Betrachtung des intellektuellen Lebens um 1900 ausklammert. Ihr Werk trägt schließlich nicht nur dazu bei, die Denkbewegungen um 1900 besser zu begreifen, es steht auch in ihrem Zentrum und sollte neben den anderen großen Werken der Zeit als solches gewürdigt werden.

  1. Iken, Katja: Die Frau mit der Peitsche, 29.06.2016.
  2. Decker, Kerstin: Lou Andreas-Salomé. Der bittersüße Funke Ich. Berlin 2. Aufl. 2013, S. 11.
  3. Für eine umfassende Deutung der Textstelle siehe z.B. Hödl, Hans Gerald: Der letzte Jünger des Philosophen Dionysos. Studien zur systematischen Bedeutung von Nietzsches Selbstthematisierungen im Kontext seiner Religionskritik. Berlin 2009.
  4. Decker, Kerstin: wie Anm. 2, S. 54.
  5. Friedrich Nietzsche in einem Brief an Paul Gast, zitiert nach Lühe, Irmela von der: »Scharfsinnig wie ein Adler und mutig wie ein Löwe«. Lou Andreas-Salomé im Grenzraum (akademischer) Disziplinen und im Dschungel (männlicher) Deutungen, in: Britta Benert/ Romana Weiershausen (Hg.): Lou Andreas-Salomé. Zwischenwege in der Moderne / Sur les chemins de traverse de la modernité. Taching am See 2019, S. 41–60, hier S. 41. – Irmela von der Lühe beschreibt in ihrem jüngst erschienenen Beitrag auf eindrückliche Weise, mit welch souveräner Ignoranz bzw. Immunität Andreas-Salomé selbst solchen wertenden Vereinnahmungen von außen entgegentrat.
  6. Sigmund Freud in einem Brief an Sándor Ferenczi, zitiert nach ebd., S. 43.
  7. Brief von Anna Freud an Andreas-Salomé vom 17. August 1931, zitiert nach: Rothe, Daria A./ Weber, Inge (Hg.): »…als käm ich heim zu Vater und Schwester«. Lou Andreas-Salomé – Anna Freud Briefwechsel 1919-1937. Bd. 2. Göttingen 2001, S. 596.
  8. Andreas-Salomé, Lou: Lebensrückblick. Grundriß einiger Lebenserinnerungen. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Ernst Pfeiffer. Frankfurt am Main 1974, S. 78.
  9. Sehr anschaulich ist z.B. ihr Essay Der Mensch als Weib von 1899, in dem sie das weibliche Element als niedriger entwickelt und weniger ausdifferenziert beschreibt. Siehe hierzu auch: Weiershausen, Romana: Wissenschaft und Weiblichkeit. Die Studentin in der Literatur der Jahrhundertwende. Göttingen 2004, S. 125.
  10. Ein gutes Beispiel findet sich in einem Brief an Rainer Maria Rilke vom 12. September 1914. Hier schreibt sie über das Ungeheuerliche des Krieges, erklärt das »geheime Unwirkliche«, das »Gespensterhafte« daran zum eigentlich Entsetzlichen. Sie deutet den Krieg dabei psychologisch aus, fasst die Schuld daran als eine kollektive auf, ohne politische Fragestellungen näher zu beleuchten. Siehe: Rilke, Rainer Maria/ Andreas-Salomé, Lou: Briefwechsel, mit Erläuterungen und einem Nachwort, hrsg. v. Ernst Pfeiffer. Zürich 1952, S. 376-380.
  11. Auf seinem Gut hatte dieser ab 1859 eine Schule eingerichtet, in der er Bauernkindern durch eine nonkonformistische Erziehung zu einer besseren Zukunft verhelfen wollte.
  12. Für eine sehr kompakte Einführung in diese Thematik siehe Spiekermann, Björn: »Kunst und Leben« – Zum intellektuellen und poetologischen Profil einer literarischen Lebensreform in Programmschriften der frühen Moderne (1880-1895). In: Die Literatur der Lebensreform. Kulturkritik und Aufbruchstimmung um 1900. Hg. v. Thorsten Carstensen und Marcel Schmid, Bielefeld 2016, S. 43-64.
  13. Zitiert nach Decker, Kerstin: wie Anm. 2, S. 241.
  14. Rilke, Rainer Maria/Andreas-Salomé, Lou: wie Anm. 10, S. 118.


Metaebene
 Autor*in:
 Veröffentlicht am 2. November 2019
 Kategorie: Wissenschaft
 von Sophie Taeuber-Arp via Wikimedia Commons gemeinfrei
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