Wer bin ich und wenn ja, wie viele? Diese Frage könnte sich Nell Zinks Protagonistin in Virginia durchaus stellen. Im Laufe des Romans ist sie nämlich so einiges: weiß, lesbische Studentin und Ehefrau eines schwulen Dichters; schwarz, alleinerziehende Mutter und Drogenlageristin.
Von Anisha Blanke
Bereits ihr erster Roman Der Mauerläufer war ein großer Erfolg und landete 2014 sogar auf der Liste der 100 bemerkenswertesten Bücher der New York Times. Ein Jahr später veröffentlichte sie schon ihren zweiten Bestseller, dessen Übersetzung hierzulande 2019 unter dem Namen Virginia erschien. Nell Zink, die 1964 in Kalifornien geboren wurde, wuchs selbst in diesem Bundesstaat auf. Daher ist es kein Wunder, dass sie die Landschaften und die Einstellungen der Menschen so detailliert beschreiben kann.
Das Buch ist zunächst aus der Sicht des homosexuellen Ehepaares Peggy, die auch Punky genannt wird, und Lee Fleming geschrieben. Später kommen auch Passagen aus dem Leben ihrer Kinder hinzu. Der Originaltitel Mislaid, bedeutet ›verlegt‹ oder etwas freier übersetzt ›vertan‹. Schon der Titel behandelt also den Irrtum der beiden, sich auf eine Beziehung miteinander eingelassen zu haben. Diese Konnotation ist bei der Übersetzung leider verlorengegangen.
»Punky, kriegst du eigentlich nie deine Tage?«
Virginia, Mitte der 1960er Jahre: Peggy Vallaincourt, ein androgynes, lesbisches Mädchen, lässt sich auf eine Affäre mit Lee Fleming, ihrem schwulen Literaturprofessor, ein. Kurz darauf wird sie schwanger. Er sieht sich gerne in der Rolle des Vaters und möchte seine Erfahrungen weitergeben, während sie mehrfach den Wunsch äußert, abtreiben zu wollen. Schließlich heiraten sie und Peggy bringt einen Sohn namens Byrdie zur Welt.
Steht Lee ihr im Krankenhaus noch gegen seine Mutter bei, wendet sich bald das Blatt. Beide erkennen, dass die Anziehung, die einmal zwischen ihnen bestand, nicht mehr vorhanden ist. Trotzdem bekommen sie ein paar Jahre später noch ein weiteres Kind, Mireille, genannt Mickie.
Die Situation spitzt sich zu, als Peggy ihren Mann bei einem Seitensprung erwischt. Vor den Augen ihrer Kinder fährt sie sein Auto in den naheliegenden Fluss, woraufhin er sie in eine Psychiatrie stecken und somit von den gemeinsamen Kindern fernhalten möchte. Daraufhin bereitet sie ihre Flucht aus dem gemeinsamen Haus vor. Als sie diese in die Tat umsetzen möchte, weigert sich Byrdie allerdings mitzukommen, und so geschieht es, dass sie nur Mickie dabeihat, als sie geht. Auf Umwegen kommt sie an die Geburtsurkunde eines verstorbenen Mädchens und gibt ihre Tochter und sich fortan als Schwarze aus.
»Vielleicht muss man aus dem Süden stammen, um zu begreifen, was blonde Schwarze sind«
Peggy nennt sich nun Meg und nimmt den Nachnamen des toten Mädchens Karen Brown an, deren Name ihre Tochter jetzt führt. In Virginia hat Einwanderung schon vor der Sklavenhaltung stattgefunden, daher ist es für ihre Nachbarn nicht ungewöhnlich, dass Schwarze manchmal keine dementsprechende Hautfarbe haben. Ein schwarzer Vorfahre reicht schon, um selbst als schwarz gelten zu können. Da Peggy/Meg von Natur aus krauses Haar und eine leicht bräunende Haut hat und in Mickies/Karens Geburtsurkunde steht, dass sie schwarz sei, zweifelt niemand ihre ethnische Zugehörigkeit an.
Die beiden leben in einer kleinen Hütte, in der sie als Hausbesetzer keine Miete zahlen müssen. Um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, nimmt Meg allerlei Gelegenheitsjobs an. Am lukrativsten stellt sich dabei die Tätigkeit als Drogenlageristin heraus. Es vergeht einige Zeit: Karen kommt in die Schule und überspringt prompt die zweite Klasse, Lee schickt seinen Sohn auf ein Internat, Meg und Karen werden gezwungen aus ihrer Hütte auszuziehen und bekommen eine Sozialwohnung zugewiesen.
Nach seinem Schulabschluss geht Byrdie auf die University of Virginia und schließt sich dort einer Kifferverbindung an. Als Karen ein Stipendium für dasselbe College bekommt und dorthin zieht, beginnt der große Showdown. Werden sich die beiden treffen? Und wenn ja, werden sie sich nach mehr als 10 Jahren wiedererkennen?
Ein Roman voller WidersprücheDer Roman zeigt auf, dass die traditionelle Sichtweise auf bestimmte Lebensstile nicht mit der Wirklichkeit zu verbinden ist. Peggys und Lees Affäre ist leicht erklärt: Er mag ihre androgyne Art, sie genießt es, von überhaupt jemandem sexuell begehrt zu werden. Schön ist hierbei auch der Fakt, dass die beiden sich anfangs tatsächlich anziehend finden und ihre Beziehung nicht dazu nutzen, ihre Sexualität zu leugnen, wie man es eventuell von einem homosexuellen Paar in den prüden 1960er Jahren vermuten würde.
Der Schreibstil ist teilweise etwas zu derb. Vielleicht verhält es sich im Original anders, aber zumindest in der Übersetzung sorgen Sätze wie »Fotzen wurden für Schwänze gemacht« für Unbehagen, gerade weil es sich in diesem Fall um einen Kommentar eines Professors zu (s)einer Studentin handelt. Überraschend ist hierbei auch, dass dieser Satz von Lee kommt, dem man als Literaturprofessor eine gewähltere Ausdrucksweise zuschreiben würde. Gleichzeitig zeigen Ausdrücke wie diese seine misogyne Gesinnung,
Abgesehen davon dauert es einige Zeit, bis die Geschichte Fahrt aufnimmt; dieser Effekt wird durch ungewöhnlich lange Kapitel verstärkt. Spannung kommt selten auf, dementsprechend lässt sich das Buch eher schwerfällig lesen. Mit seinen überzogenen Konflikten erinnert das Werk eher an eine Soap. Die implizierte Gesellschaftskritik über Doppelmoral geht leider daran zugrunde, dass Zink zu viele verschiedene gesellschaftliche Probleme abdecken möchte. Schade, der Roman hätte mit seinen kontroversen Themen rund um Sexismus, Rassismus, Entführung und Identitätsraub echtes Potential gehabt, interessante Denkanstöße zu geben, und ein Vorreiter für andere Werke seines Genres zu werden.