Diese Geschichte wird kein gutes Ende nehmen: Schon zu Beginn brennt das Grablicht für Bartleby. Der Kapitalismus schreibt nun mal keine Komödien. Die Inszenierung von Bartleby, der Schreiber am Deutschen Theater Göttingen könnte eine unterhaltsame Kritik an unserer durch und durch ökonomisierten Welt sein, doch der kritische Anspruch scheitert an der Inszenierung.
Von Simon Sendler
Ein Anwalt im aufstrebenden New York des 19. Jahrhunderts. Fernab vom Stress im Gerichtssaal hat er sich als Notar ein gemütliches Einkommen gesichert. Als er sich entscheidet, einen zusätzlichen Kopisten einzustellen, fällt seine Wahl auf Bartleby. Der zeigt sich anfangs als verlässlicher Mitarbeiter, doch lehnt er es – mit einem höflichen »Ich möchte lieber nicht« – ab, seine Kopien auch zu korrigieren. Der Anwalt lässt Bartleby gewähren, sogar, als dieser immer weitere Arbeiten verweigert. Als Bartleby zuletzt überhaupt nichts mehr erledigt und nur noch apathisch an seinem Schreibtisch sitzt, sieht sich der Anwalt nicht in der Lage, Bartleby zu kündigen. Anstelle Bartlebys räumt er selbst das Büro unter dem Vorwand, dem Gericht näher sein zu wollen. Bartleby bleibt zurück und lebt fortan im Treppenhaus und im Foyer des Gebäudes. Als alles Bitten und Betteln, dass Bartleby doch das Gebäude verlassen möge, ohne Konsequenzen bleibt, lassen die Hausbesitzer den Schreiber festnehmen. Im Gefängnis hört Bartleby zuletzt auf, zu essen und verhungert.
Doch zugleich sind die Kollegen eines der größeren Probleme der Inszenierung. Neben Bartleby arbeiten zwei weitere Kopisten im Büro: der aggressive und vom Ressentiment zerfressene Turkey und der aalglatte Karrierist Nippers. Fünfter im Büro ist der Laufbursche Ginger Nut, der es als Einziger schafft, keine überzeichnete Karikatur zu sein. Die überzogene Darstellung der Kollegen durch Emre Aksızoğlu, der hier in Personalunion nicht nur den Part von Chef und Mitarbeitern, sondern zugleich den der Erzählinstanz in sich vereint, ist für das Publikum unterhaltsam und so bekommen die Nebencharaktere auch die meisten Lacher. Für das Stück ist sie allerdings ein Problem. Bartlebys Verweigerung verblasst neben den Macken seiner Kollegen. Zwischen diesen ebenso extrem dargestellten Typen wird Bartleby zu einem Exzentriker unter vielen – und seine Verweigerung zu einer Macke unter vielen.
Nur in einem Punkt hebt sich Bartlebys Absage an alles dann doch von den Schrulligkeiten seiner Kollegen ab: Sie ist die einzige Macke, die sich nicht problemlos in das kapitalistische Weltbild des Anwalts integrieren lässt. Nicht, dass er sich keine Mühe gäbe. Erst beruft er sich auf die Gebote der Nächstenliebe: »Der arme Mensch«, jemand müsse sich doch um ihn kümmern. Dass es reine Nächstenliebe im Kapitalismus nicht gibt, ist klar, und so ist auch der Anwalt der festen Überzeugung, für sein Handeln gegenüber Bartleby irgendwann entlohnt zu werden. In diesem Moment präsentiert das Stück aufrichtige Kapitalismuskritik – aber es bleibt der einzige.
Konsequenzlos verweigertAm Ende ist es wenig verwunderlich, dass die Versuche des Anwalts scheitern. Das stört sein Weltbild allerdings nicht sonderlich und auf keinen Fall längerfristig. Wenn der Anwalt Bartlebys Geschichte erzählt, scheint das ganze für ihn seltsam. Er kann sich auf die Ereignisse keinen rechten Reim machen und verarbeitet sie daher als Kuriosität. Das mag realistisch sein, im Rahmen des Stücks wertet es Bartlebys Verweigerung aber noch weiter ab, denn seine Verweigerung hat für niemanden in seinem Umfeld irgendeine Konsequenz.
Die kurzen Auftritte der Kollegen bleiben nicht die einzigen Zäsuren im Stück. Es gibt auch einige musikalische Momente. Hier begleitet sich Aksızoğlu selber auf Keyboard und Synthesizer, wobei Text und Musik zum Teil sehr assoziativ zusammenspielen und sich Instrumente und Gesang für den kleinen Saal des DT-2 schlicht zu laut aufdrängen. Bereichern kann die Musik zumindest dann, wenn Aksızoğlu Bartlebys »Ich möchte lieber nicht« zu einer Art EDM-Remix verwurstet. Eine interessante und irgendwie ausdrucksvolle Möglichkeit, um die Überforderung und das Unverständnis des Anwalts szenisch umzusetzen.
Unnötige AnglizismenWie die Musik schießen auch die hinzugeschriebenen Anglizismen so manches Mal über das Ziel hinaus. Wenn der Anwalt sein »Business« aus seinem »Office« heraus betreibt, fühlt man sich unsanft vom New York des 19. Jahrhunderts in die moderne Bankenwelt verpflanzt. Die Versuchung, einen mittlerweile über 150 Jahre alten Text zu modernisieren, mag verständlich sein, doch bilden gerade der mittlerweile etwas altmodisch anmutende Duktus und die sanfte Sprachwahl des Anwalts den aufmerksamkeitserregenden Kontrast zum Plot: Den Brückenschlag vom 19. Jahrhundert zum Hier und Jetzt leistet bei Bartleby nun einmal der Inhalt: Die Probleme des Kapitalismus haben sich nicht geändert, da der Kapitalismus sich nicht geändert hat. Das versteht man auch, ohne im »Office« abgeholt zu werden.
All das geht zu Lasten des eigentlichen Themas: die radikale Absage an den Kapitalismus. An Bartleby, der Schreiber sieht man, wie ein solide inszeniertes, interessantes und unterhaltsames Stück trotzdem scheitern kann, wenn es sein erklärtes Ziel selber untergräbt. Dabei hätte die Inszenierung ihre Nachricht problemlos transportieren können. Doch nicht als radikalen Verweigerer stellt das DT seinen Bartleby auf die Bühne, sondern als geisteskranken Wunderling, dem niemand hätte helfen können. Gleichzeitig ist das Publikum mit dem Anwalt in einer sicheren Position, in der Bartlebys Protest und alle unbequemen Fragen auf dem Keyboard weggedudelt werden. Und am Ende bleibt jeder sicher in seinem gemütlichen Status Quo.
Die Kritik trifft leider überhaupt nicht den Kern der Aufführung. Vielleicht saßen Sie ja in einem anderen Stück. Zumindest lese ich heraus, dass Sie die Erzählung an sich schon mal gar nicht verstanden haben. Sie müssen sich unbedingt mehr mit Theater auseinandersetzen bevor Sie Kritiken schreiben. Nächstes mal besser. bestimmt!