Dirk von Petersdorff legte 2008 einen Band über die deutsche Lyrikgeschichte vor. Überblick und Orientierung auf 124 Seiten, von einem mit der Theorie und Praxis der Verskunst gleichermaßen vertrauten Literaturwissenschaftler.
Von Philipp Böttcher
Wissen Sie eigentlich, welche Vanitas-Erfahrungen Zahnarztbesuche bei alternden Dichtern hervorrufen können? Nein? Dann schauen Sie doch einmal nach in Robert Gernhardts Gedichtband Weiche Ziele (»Am Abend der ersten Extraktion«) – oder am besten gleich in der Geschichte der deutschen Lyrik, die der Literaturwissenschaftler, Lyriker und Essayist Dirk von Petersdorff beim Verlag C. H. Beck veröffentlicht hat. Selbstbewusst hat der Autor im Titel des 124 Seiten starken Buches auf den Zusatz »kurze« oder »kleine« verzichtet, mit dem derartige Versuche gemeinhin die Anmaßung entschärfen, die sie naturgemäß aufgrund der Diskrepanz von verfügbarer Seitenzahl und zu verhandelndem Gegenstand darstellen.
In der Tat scheint das Ansinnen vermessen, innerhalb des vorgegebenen Rahmens einen belastbaren Überblick über ca. 1.000 Jahre deutschsprachige Verskunst zu präsentieren, wenngleich Petersdorff mit diesem Projekt nicht ohne zum Teil prominente Vorgänger ist. Anders jedoch als Daniel Freys Kleine Geschichte der deutschen Lyrik, die im Epochen- und Autoren-Stakkato vor allem die Veränderungen in der Liebeslyrik zum Thema macht, kommt die Einführung des Jenaer Literaturwissenschaftlers ohne Schwerpunktsetzung aus. Und im Unterschied zu den 1960 posthum veröffentlichten Vorlesungen zur Geschichte des deutschen Verses von Wolfgang Kayser entbehren Petersdorffs Urteile des apodiktischen Tons.
Vielmehr wird bisweilen eine durchaus ansteckende Emphase hörbar, etwa wenn Petersdorff, entzückt von der Vorstellung eines tatsächlich ad tergum abgezählten Hexameters, über die berühmten Verse aus Goethes fünfter Römischer Elegie frohlockt: »Darauf muss man erst einmal kommen«. Angesichts der vom Autor selbst umrissenen Ziele und Kompositionsprinzipien seiner Lyrikgeschichte sind derlei Bemerkungen nur folgerichtig; nennt er doch neben der Exemplarität und der »ästhetischen Leistung« den »Innovationswert« als entscheidendes Kriterium für die Auswahl wie Bewertung der zu behandelnden Autoren und Gedichte.
Nun wäre es im Hinblick auf den Umfang des Buches wohlfeil, dasselbe aufgrund einiger mehr oder weniger bedeutender missing people wie Nikolaus Lenau, Matthias Claudius, Gottfried August Bürger, Volker Braun, Erich Fried oder Günter Kunert zu kritisieren. Viel erstaunlicher ist nicht nur, wer stattdessen alles Platz gefunden hat in dieser Darstellung, sondern dass Petersdorff den Gedichttexten selbst sowie detaillierten Analysen und Interpretationen breiten Raum gibt. Überdies werden die sieben, grob an den Epocheneinteilungen orientierten Kapitel gerahmt durch hilfreiche Literaturhinweise und eine Einleitung, in der Gattung und Gegenstand ebenso konzis wie überzeugend definiert werden. Damit fügt sich das Werk des mit der Theorie und Praxis der Lyrik gleichermaßen vertrauten Autors nahtlos ein in die an ein großes Publikum adressierte Reihe »C. H. Beck Wissen«, innerhalb derer die Germanistik leider noch immer vergleichsweise unterrepräsentiert ist.
Gleichwohl könnten gerade verschiedene Teile dieses breiteren Publikums ob der an einigen Stellen so anspielungsreichen wie unaufgelösten schmucken Schreibe ins Seufzen geraten (über Paul Celan: »Wenn noch Lieder zu singen sind, dann nur ‚jenseits / der Menschen‘«; über Sarah Kirsch: »Sarah Kirsch hat mit Zaubersprüchen begonnen, sie trabte mit einer Schlehe im Mund durch die Landschaft, ist eine Schwärmerin geblieben, aber mit trockenem Witz begabt.«). Andererseits macht sich Petersdorff den Zwang zur Verdichtung auf verschiedene Art und Weise zunutze, indem er etwa zwischen kontextualisierenden und symptomatisierenden Deutungsverfahren wechselt oder über die Ordnung seines Textes selbst Sinn transportiert.
Dass ‚Lyrik nach 1945‘ ‚Schreiben nach Ausschwitz‘ bedeutet bzw. hätte bedeuten sollen, und dennoch nicht bei null anfing, wird beispielsweise offenbar, wenn der Literarhistoriker das letzte Kapitel »Von 1945 bis zur Gegenwart« mit Paul Celan beginnen lässt und den polyglotten Dichter sogleich unterschiedlichsten literarischen Traditionen zuordnet, statt ihn zum ins Sakrosankte entrückten Zeugen des Unsagbaren zu stempeln. Auch im Falle von Robert Gernhardt und Peter Rühmkorf darf das unmittelbare Aufeinanderfolgen im Textverlauf als Hinweis auf die geistige Nachbarschaft zweier Poeten gedeutet werden, die bereits im Jahr 2000 In gemeinsamer Sache unterwegs waren.
Dem Umstand, dass es außerdem kaum möglich ist, die Sagbarkeitsbedingungen von Lyrik in der DDR im Rahmen der Überblicksdarstellung adäquat zu erläutern, begegnet Petersdorff elegant dadurch, dass er diese konzentriert mittels eines Gedichts aufruft:
Dieser Abend, Bettina, es ist
Alles beim alten. Immer
Sind wir allein, wenn wir den Königen schreiben
Denen des Herzens und jenen
Des Staats. Und noch
Erschrickt unser Herz
Wenn auf der anderen Seite des Hauses
Ein Wagen zu hören ist.
Der Gedichtband Rückenwind, in dem das Gedicht als neunter Abschnitt des Wiepersdorfer Zyklus steht, erschien 1976 im Aufbau Verlag – ein Jahr bevor die Autorin Sarah Kirsch die DDR verließ. Die mehrfache Lesbarkeit, die sich aus der offensichtlichen Anbindung an das literarische Erbe und der doppeldeutigen Allusion (auf den zeitgenössischen Überwachungsstaat und ein überliefertes Liebesmotiv) ergibt, ist den Zensoren anscheinend nicht aufgefallen. Allein in diesem Zusammenhang hätte man sich ein ausführlicheres Eingehen auf Bedeutungsambivalenzen und chiffriertes Sprechen als wesentliche Charakteristika von DDR-Lyrik − zum Beispiel anhand der metapoetischen literarischen Kassiber des bedauerlicherweise unerwähnt gebliebenen Reiner Kunze − gewünscht.
Nichtsdestotrotz widmet sich Petersdorff eingehend ideengeschichtlichen, historischen sowie biographischen Kontexten, und beschreibt Literatur somit als komplexes Medium der Weltaneignung. Einzig der Aspekt, dass im Medium des Gedichts zudem poetologische Konzepte ausformuliert und zugleich negiert werden, kommt in diesem Durchgang durch den deutschsprachigen Teil der Gattungsgeschichte ein wenig zu kurz. So wäre etwa Theodor Storms 1851 verfasstes Gedicht »Die Stadt«, das von Petersdorff zitiert und besprochen wird, hervorragend zur Verdeutlichung der literaturprogrammatischen Epochenwende geeignet: Programmatisch »rauscht« darin »kein Wald« mehr und doch wird die vermeintlich prosaisch-alltägliche Erfahrungswelt mit romantischen Darstellungsmitteln poetisiert, also die Romantik gleichsam mit ihrem eigenen Instrumentarium erledigt.
Aber für Dirk von Petersdorff erweist sich in der Geschichte der deutschen Lyrik nicht das Trennende, sondern das Verbindende als darstellenswert. Deshalb schließt sein Werk, in dem der zahnkranke Barthold Heinrich Brockes dem frisch operierten Robert Gernhardt – sicher ein bisschen neidisch auf die neuzeitliche Anästhesie – zuwinkt, mit einer Übertragung Peter Rühmkorfs von Walthers sog. Elegie, an der sich zuvor unter anderem Karl Simrock und Ludwig Uhland versucht haben. Und so enthüllt sich am Ende abermals das ursprüngliche wie unendliche Wesen der Poesie, um das es dem Dichter und Literaturwissenschaftler doch eigentlich die ganze Zeit ging: nämlich um jenes »Gespräch, das wir sind«, das sich noch einmal in Rühmkorfs Übertragung verdichtet, und das uns Dirk von Petersdorff so geistreich und lebendig präsentiert.
Ein guter Artikel! Und eine sehr schön und präzise komponierte Lyrikgeschichte. Man kann sie an allen Ecken und Enden anblättern und findet überall sofort einen Einstieg. Und wer mehr will, kann dann ja in Reclams großem Buch der deutschen Gedichte hemmungslos weiterschmökern…