Seit 30 Jahren macht Herta Müller Collagen aus Zeitungsschnipseln. Beim Literaturherbst erklärt sie, wie diese Literatur in Handarbeit mit ihrem übrigen Werk zusammenhängt, welche Beziehung die Wörter mit ihr eingehen, und was ihr neues Buch mit Geflüchtetenpolitik zu tun hat.
Von Philip Flacke
Als Herta Müller am 27. Oktober im Deutschen Theater bei einer der letzten Lesungen des diesjährigen Literaturherbstes ihr Schreiben reflektierte, war es
Das erste Buch, aus dem sie an diesem Abend liest, ist nämlich nicht ihr im März erschienener Band mit Collagen, sondern ihr vorletztes Buch: Mein Vaterland war ein Apfelkern (Hanser 2014) entstand als Gespräch mit der Wiener Publizistin Angelika Klammer. Bei der Durchsicht sei Müller dann aber mit den Wörtern nicht mehr zufrieden gewesen, erzählt sie. Sie habe erst korrigiert, dann verändert, um schließlich in Briefen mit Klammer zusammen die bloße Verschriftlichung in die mediale Stimmigkeit zu überführen, die Medienwissenschaftler*innen Verschriftung nennen. Denn: »Das Papier ist ein anderes Gegenüber als das Gesicht.« Wie verhält sich denn die elegant designte Litlog-Oberfläche dazu?
Im Vorfeld einer BüchertischrodungEin Gespräch also, aber mit ungleich verteilten Rollen. Die Zuschauer*innen, die vom Parkett bis zum zweiten Rang nur ganz wenige Plätze unbesetzt lassen, haben die bequemeren Stühle, aber bis auf Husten, Klatschen, Lachen, Handybimmeln sind sie still. Anja Johannsen, Leiterin des Literarischen Zentrums und promoviert mit einem Thema über Müller, fasst sich kurz bei der Begrüßung: Sie stellt die Namhaftigkeit des Gastes heraus. Und Ernest Wiechner, der das Gespräch führen soll, hat sich schon damit abgefunden, dass sein Gegenüber ohnehin »90 % des Abends bestreiten« wird.
Bestimmt wären nicht so viele Besucher*innen gekommen, wenn Müller nicht den Literaturnobelpreis und zahlreiche andere Auszeichnungen bekommen hätte. Aber Zuhör- und Leser*innen gewinnen kann Müller ganz alleine und ohne auch nur eine Spur autoritären Auftretens. Herta Müller weiß auf eine Art zu erzählen und Gedanken in Wörter zu packen, dass das Zuhören wie von alleine kommt. Hinterher nehmen so viele ein neues Buch mit nach Hause, dass auf dem Büchertisch kein einziges von ihr mehr übrig bleibt. Leider ist es die große Kette Thalia, die sie alle verkauft, und nicht eine der kleineren Buchhandlungen.
Büchermachen als HandarbeitMüller liest dreimal an diesem Abend: zuerst aus Mein Vaterland war ein Apfelkern, dann zweimal aus der Collagensammlung Im Heimweh ist ein blauer Saal (Hanser 2019). Die Text-Bild-Kombinationen, zusammengeklebt aus Zeitungsschnipseln, werden dazu per Beamer an eine Leinwand projiziert. Nur auf den allerersten, allerflüchtigsten Blick haben sie Ähnlichkeit mit Erpresserschreiben vergangener Fernsehtage. Viel zu fürsorglich sind die Farben aufeinander abgestimmt, die Formen zueinander in Beziehung gesetzt. Jedes einzeln aufgeklebte Wort, berichtet Müller, ist inzwischen durch zwei Kartonschichten erhöht, »damit es sich abhebt wie eine kleine Plakette«. Das sei eine Zufallsentdeckung gewesen, gemacht beim Zerschneiden vorschnell geklebter Collagen.
Ob die Arbeiten nun Literatur sind oder Bildende Kunst oder beides, scheint Müller mehr oder weniger egal zu sein. Wichtig ist für sie vielmehr die Art, wie sie entstehen. Auch wenn die Haut vom Kleber rau wird: Pinzette, Handschuhe gingen nicht.
Man muss das mit den Händen machen.
Es scheint, als sei Müller um Fairness bemüht gegenüber ihren Wörtern und Materialien und dem, was sie damit ausdrücken will. Auf einer Collage steht unter dem gesichtslosen Kopf eines Mannes: »Die Geschichte vom seidenen Faden in 4 Worten: der Präsident lässt morden.« Die letzten beiden Wörter
Welche Funktion haben die Collagen in Müllers Werk? Aus ihrer Sicht spielen Prosa und Collagen ineinander, sodass sich Themen und Motive ihrer Klebearbeit in den längeren Erzähltexten wiederfinden oder umgekehrt ungenutzte Ideen aus Romanprojekten zu Collagen werden können. So entstammt der Buchtitel Mein Vaterland war ein Apfelkern einer Seite, die sich jetzt in Im Heimweh ist ein blauer Saal wiederfindet. Das »Bild dazu« beschreibt Müller folgendermaßen: »eine zusammengesetzte Person. Dünne lange Beine auf Zehenspitzen, ihr Brustkorb ein dunkles Holzkästchen und drin im Brustkorb eingesperrt ist der Kopf.«
Die Notwendigkeit der FluchtDie Figuren in Im Heimweh ist ein blauer Saal tragen die Spuren der Zeitungen, aus denen sie kommen, mindestens genauso wie die Erinnerung an Müllers Vergangenheit im totalitären Rumänien Ceaușescus. Es sind politisch Verfolgte darunter, Menschen auf der Flucht, Familien, die Sehnsüchte haben und Ängste und Hunger. Sie sind mit einer Welt konfrontiert, die ist, wie sie ist, nicht erklärt und sich nicht bitten lässt. Im Deutschen Theater fordert Müller Verständnis für die Notwendigkeit der Flucht.
Alle Diktaturen machen Flucht.
Anstatt dass man Anteilnahme fördere, würden die Leute in den Hass getrieben. So in Viktor Orbáns Ungarn, aber auch in Rumänien: »ein unerträglicher Nationalismus, der bis zum Faschismus geht«. Und das funktioniere, obwohl in den eigenen Familien selbst Fluchtgeschichten erzählt würden. Es sei »wie eine kollektive Gehirnwäsche«.
Müllers Kritik an fremdenfeindlicher Geflüchtetenpolitik wird mit Applaus aufgenommen. Und auch nach jedem Mal Lesen wird applaudiert, ganz
Im Lesungsbericht, der aus dem Abend im Deutschen Theater geworden ist, sind die Rollen ebenfalls ungleich verteilt. Schön und gut, mit der Kommentarfunktion ist immerhin die technische Möglichkeit gegeben, selbst ein Gespräch zu führen, – so wie es auch nach der Lesung theoretisch noch die Möglichkeit gegeben hätte, bei der Signierstunde die Frage zu stellen, für die vorher keine Gelegenheit war. Schön und gut. Immerhin stört sich hier niemand an Handybimmeln und Hustenanfällen. Herta Müller steht im Mittelpunkt, aber sie kann ihre Wörter nicht mehr einholen, die Verschriftung des Gesagten nicht betreuen. Nicht ohne Skrupel zitiert deshalb der Berichterstatter Sätze, die an diesem Abend gefallen sind, ohne für die Schrift gemacht zu sein. Aber wie könnte man solche Sätze denn nicht zitieren: »Ich versuche auch den Text zu behüten, aber er behütet natürlich auch mich.«