Wann hat es das je gegeben, dass die Literaturkritik derart einstimmig skandalisiert? Takis Würgers Roman über die Jüdin Stella Goldschlag, die in den 1940er Jahren andere Juden an die Berliner Gestapo verriet, zog viele Verrisse nach sich und Strafanzeigen. Das ist fragwürdig.
Von Stefan Walfort
Bernhard Torsch hält Stella für einen »Groschenroman«. In der März-Ausgabe der konkret, in der sich die Autor*innen in einer Rubrik namens Der letzte Dreck regelmäßig auf kleinem Raum mehr apodiktisch als argumentativ über die jeweiligen Objekte ihrer Häme auslassen, meinte Torsch, Stella betreibe eine »kulturelle Banalisierung deutscher Jahrtausendverbrechen, in der unseligen Tradition dummdreisten Mists wie ›Unsere Mütter, unsere Väter‹«1. Seitdem Takis Würgers Roman im Januar gleich nach Erscheinen für reichlich Wirbel sorgte, melden sich vereinzelt immer noch einige Rezensent*innen zu Wort. Und die Resultate wirken wie Kopien der Verrisse Antonia Baums, Micha Brumliks, Jan Süselbecks und vieler anderer, die sich in ihrer Totalkritik sofort einig waren.
Denn ganz ähnlich hatte schon Brumlik gegen eine »von der Kulturindustrie verramscht[e]«2 Leidensgeschichte gewettert und dabei fälschlicherweise behauptet, der Roman lasse die Folter unerwähnt, die Goldschlag ertragen musste, bevor sie kollaborierte. Daher verschleiere das Buch, dass sie selber eher Opfer als Täterin gewesen sei3. Und ganz ähnlich hatten schon Baum4 und mehrere andere den Roman mit dem 2013 im ZDF ausgestrahlten Dreiteiler Unsere Mütter, unsere Väter5 gleichgesetzt, ohne wenigstens die eine oder andere Parallele am konkreten Material zu belegen. Eine derart lapidare Vergabe schlagwortartiger Urteile bei Missachtung dessen, was der Primärtext tatsächlich hergibt, ist bezeichnend für die Debatte als Ganze. Deshalb drängt sich förmlich die Frage auf, ob innerhalb der Literaturkritik noch immer nicht angekommen ist, was Jan Strümpel mit Blick auf die Literaturwissenschaft bereits für die 80er Jahre als etabliert registrierte: »Seither fordert der Intellekt sein Recht gegenüber dem Affekt«6.
Die Mär von der ach so »neutralen« ErzählinstanzDie einschlägige Forschungsliteratur konstatiert hohe Ansprüche an die Literaturkritik: Eine Rezension zu verfassen sei »eine komplexe Aufgabe der Vermittlung und Bewertung, die vor allem vielfältige Querbezüge der Kunst zu anderen medialen und sozialen Bereichen aufzeigt«7. Im Fall der Unsere Mütter, unsere Väter-Analogien scheint das Ideal gescheitert zu sein, zumal Einführungsbände für die kulturjournalistische Praxis betonen, wie wichtig eine »detaillierte Analyse«, eine »hohe Präzision« und der »plausible Nachweis am Einzelfall« seien, um sich als Fachkundige*r von Dilettantismus, Emotionalität und der »bloße[n] Behauptung«8 abzugrenzen. Süselbeck, der in der ZEIT selbst einen Stella-Verriss publizierte, scheint mit derlei Basics9 grundsätzlich d᾽accord zu sein. Denn auf Literaturkritik.de
Einer der besonders oft gegen Würger vorgebrachten Kritikpunkte lautet: Mit der Figur des Ich-Erzählers Friedrich, der aus der Schweiz nach Berlin reist, dort Stella kennenlernt und sich in sie verliebt, erschaffe der Autor eine moralasymmetrische »Schieflage« à la »unschuldiger Schweizer […], der über jüdische Kollaborateurin urteilt«11. Die These dahinter bleibt zwar unausgesprochen. Das ist ebenso der Fall, wenn Süselbeck in das gleiche Horn stoßend Friedrich als »kaum jemals gebrochene Figur«12 identifizieren zu können glaubt. Doch die Botschaft ist leicht beim Schopf zu packen: Die Erzählperspektive sei identisch mit der Leser*innen-Lenkung. Dass sich ein derartiger Fehlschluss nicht dazu eignet, ihn offen zu explizieren, ist kein Wunder. Dergleichen wäre wahrscheinlich selbst den kühnsten Köpfen zu waghalsig erschienen.
Wenn sich dann aber auch noch die Figur als gar nicht so »neutral«13 erweist wie behauptet, machen sich die entsprechenden Kolporteur*innen ganz besonders »selbst angreifbar« – und das nicht etwa, »weil es keine leichte Sache ist, der Öffentlichkeit […] schlechte Botschaften zu überbringen«, wie Süselbeck seine Rolle zum schicksalhaften Los stilisiert, das Kulturjournalist*innen tapfer zu ertragen hätten14. Nein, vielmehr zieht zu Recht Argwohn auf sich, wer journalistische Standards für andere geltend macht und sie selber missachtet.
Das Übersehen eines Primacy-EffektsHätten Süselbeck und Co. Würgers Roman gründlich gelesen, so hätten sie die Konzeption Friedrichs als »neutralen« Schweizer als das erkennen können, was sie ist: als Auslöser eines Primacy-Effekts. Darunter versteht die Literaturwissenschaft ein Privileg der »ersten Informationen«. Rezipient*innen neigen dazu, diese im Prozess einer »sukzessiven Vorstellungsbildung von Personen« bzw. Figuren während des Lesens besonders zu gewichten.15 Für Autor*innen resultiert daraus ein schier unerschöpfliches Potenzial: Sie können zum Beispiel Erwartungen an Figurenkonsistenz und daraus resultierende Vorhersagen über Ereignisverläufe geschickt subvertieren. Exakt so etwas hat Würger arrangiert: Im Epilog verrät Friedrich, nachdem er sich von Stella getrennt hat und wieder zurück in die Schweiz getourt ist, einen Rivalen an dessen Mörder:
Kurz nach Weihnachten 1942 nahmen Polizisten der Geheimen Staatspolizei Tristan von Appen in seiner Wohnung am Savignyplatz fest. […] Auf einem Grammophon lief während der Festnahme der indexierte Jazzstandard Moonlight von Benny Goodman. Es kam zur Verhaftung, weil ein anonymer Anrufer aus dem Ausland der Geheimen Staatspolizei einen Hinweis gegeben hatte.
Mit dem Anrufer kann niemand anderes als Friedrich gemeint sein. Aufgrund dessen Denunziation vollstrecken Henker an Tristan gemäß der »Volksschädlingsverordnung« die Todesstrafe. Dieser Tristan, ein widerwärtig zynischer SS-Mann, muss beileibe niemandem leidtun; darum geht es nicht. Vielmehr zeigen die Passagen, wie wenig Friedrich tatsächlich über jeden Zweifel erhaben ist, wie doppelbödig der Roman stattdessen in Wirklichkeit ist und wie zwingend Primacy-Effekte mit nachgereichten Informationen abzugleichen sind.16 Inhaltlich betrachtet entlässt der Schluss die Leser*innen mit der Frage, wessen Schuld hier eigentlich schwerer wiegt: diejenige Stellas, bei der wir aufgrund der Folter und einer Drohung der Peiniger, ihre Eltern nach Auschwitz zu deportieren, ahnen, wie alternativlos es gewesen sein muss, mit den Nazis zusammenzuarbeiten? Oder diejenige Friedrichs, der aus einem vergleichsweise erbärmlichen Motiv, aus Eifersucht, vom sicheren Ausland aus und im Schutz der Anonymität jemandem den sicheren Tod beschert?
Bernhard Torschs Vorwurf, Würger tauche »nie in die Tiefe, sondern schwimmt an der Oberfläche wie einer, der Angst vor dem hat, was er im Ozean finden könnte«17, verkennt also den soeben beleuchteten Sachverhalt. Mit der Meeres-Metapher verkehrt er sogar ins Blamable, was bei Hemingway und dessen Erben wie Judith Hermann oder Daniel Kehlmann für gewöhnlich als Pluspunkt gilt: auf die Spitze eines Eisbergs hinzudeuten und der Rezeption zuzutrauen, sich eigenständig dem Darunterliegenden zu nähern.18 Das mag nicht in jedem Fall auf wünschenswerte Weise gelingen. Wenn sich Süselbeck über besonders unsensible Formen der Rezeption einiger Würger-Groupies auf Instagram empört, hat er damit wohl nicht Unrecht. Nur ist, anders als er insinuiert, damit noch nichts über eine Repräsentativität solcher Auswüchse gesagt.
Darüber hinaus läuft der Vorwurf, der Roman »banalisiere« die NS-Verbrechen, ebenfalls ins Leere. Denn die Schuld klar als Täter erkennbarer Figuren kommt darin via vielfältiger Ausdrucksformen deutlich zum Vorschein. Besonders Teile der hineinmontierten, inzwischen als Gegenstand einer Strafanzeige herhaltenden19 Auszüge aus Prozessakten eines sowjetischen Tribunals veranschaulichen, mit welch einem Eifer und vorauseilendem Gehorsam gewöhnliche Passanten sich bei der Festnahme von tatsächlichen oder vermeintlichen Juden bei den Mächtigen anbiederten. Robert Bosch, ein Nutznießer von Zwangsarbeit, wird als solcher klar benannt. Und Friedrichs Mutter, eine schnapsselige Karikatur einer Blockwartin, entlarvt sich selbst als eine von vielen gewöhnlichen Antisemit*innen. Sie könnte glatt Tante Adelheid aus Irmgard Keuns großartigem, antifaschistischen Roman Nach Mitternacht nachempfunden worden sein. Für gewöhnlich gelten solche intertextuellen Verweise in der Literaturwissenschaft als Qualitätsmerkmal.
Die Aussagen und Intentionen des Autors sind zweitrangig!Es gibt aber wahrlich auch tragfähige Gründe, Stella zumindest in Teilen als schlecht gemacht zu bewerten. Goldschlags ständige Entblößung wäre da zu nennen: Als Friedrich sie erstmals kennenlernt, arbeitet sie als Aktmodell. Als wir sie längst als Kollaborateurin kennengelernt haben, lümmelt sie frohgemut mit Sekt und Vicki Baum-Lektüre im Badeschaum herum. Inwieweit sich hier nebenbei das antisemitische Stereotyp der »schönen Jüdin« reproduziert, wie manche Kritiker*innen hervorheben, müsste durch umfangreichere Untersuchungen geklärt werden. Dreist ist aber auf jeden Fall die im Stella-Epilog und in Interviews20 vorgebrachte Frage Würgers, weshalb Goldschlag »weiter Juden jagte, nachdem ihre Eltern vergast worden waren«. Damit ignoriert er, in welcher Lebensgefahr sie selbst weiterhin schwebte.21
Bei aller berechtigten Kritik ist das Buch sicherlich nicht der letzte Dreck. Und weder ist man gezwungen, manch fragwürdige Interpretation des Autors über sein eigenes Werk nachzuvollziehen, noch dazu die Geschichte »ohne jedwede tiefergehende Verstörung auf der Couch oder in der Badewanne [zu] konsumier[en]«22, wie Süselbeck den Lektüremodus aus der Kürze der Sätze automatisch ableitet. Allen, die dennoch erst einmal skeptisch bleiben, sei empfohlen, das Buch noch einmal einer vernünftigen (Re-)Lektüre zu unterziehen.