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Literaturtheorie
Der Teufel steckt im Detail

Literaturgeschichte ist ein Forschungsgebiet, das sich leichter mit Zeitstrahlen in Verbindung bringen lässt als mit abstrakten Diagrammen. Franco Moretti versucht mit Kurven, Karten, Stammbäume das Gegenteil zu zeigen, verzettelt sich allerdings, wenn es um logische Nachvollziehbarkeit und sauberes Arbeiten geht.

Von Sina Bokelmann

Kurven, Karten, Stammbäume – dahinter kann sich alles verbergen: ein Bericht über die Bevölkerungsentwicklung in Papua-Neuguinea, eine Analyse des Kartoffelanbaus in der Lüneburger Heide oder eine Untersuchung zur Vererbung von Gendefekten bei der Kelaart-Langkrallenspitzmaus (Feroculus feroculus). Wegen dieser Vielfalt an Interpretationsmöglichkeiten überrascht der Untertitel von Franco Morettis Buch, obwohl er Klarheit schafft: Abstrakte Modelle für die Literaturgeschichte.

Literaturgeschichte ist ein Forschungsgebiet, das sich leichter mit Zeitstrahlen in Verbindung bringen lässt als mit abstrakten Diagrammen. Doch laut Franco Moretti sind es gerade diese Diagramme, die dem Literaturwissenschaftler völlig neue Einblicke bieten. Moretti ist Professor für English und Comparative Literature an der Stanford University, also einer vom Fach. Zudem ist er Mitbegründer des Literary Lab, das sich mit digitaler und quantitativer Literaturrecherche befasst. Und auch das mag erst einmal befremdlich klingen.

Neue Pfade

In diesem Buch, ebenso wie in einigen seiner Aufsätze, propagiert Moretti das, was er distant reading nennt. Wo das klassische close reading sich mit einem Text auseinandersetzt und diesen bis ins kleinste Detail analysiert, tritt das distant reading einen Schritt zurück, um große Textkorpora zu betrachten. Der Blick auf nur wenige Merkmale mache deren Zusammenhänge untereinander aus der Entfernung sichtbar. Die Erkenntnisse, die so gewonnen werden, können dann, ganz übersichtlich, in Kurven, Karten und Stammbäumen dargestellt werden. Auf diese Weise entstehen Daten, keine Interpretationen.

So viel also zur Theorie. Und es soll an dieser Stelle schon einmal klargestellt werden: Diese Theorie ist keinesfalls eine schlechte. Nur wer mit Konventionen bricht, wer die ausgetretenen Pfade verlässt, kann etwas wirklich Neues entdecken. Wichtige Kontexte können herausgearbeitet und Daten übersichtlich dargestellt werden. Ergänzend zu bzw. ergänzt von der althergebrachten Methode des close reading stehen dem Literaturwissenschaftler reichlich Möglichkeiten zur Erkenntnisgewinnung offen.

Buch-Info


Franco Moretti
Kurven, Karten, Stammbäume
Abstrakte Modelle für die Literaturgeschichte
Aus dem Englischen von Florian Kessler
Suhrkamp Verlag: Berlin,
138 Seiten, 10,00€

 
 
Morettis Konzept ist nun noch ein recht junges (seit den Achtzigerjahren befasst er sich damit), und dementsprechend plagt es sich mit Kinderkrankheiten. Das gibt Moretti soweit zu, er steht zu den Lücken, die seine Theorie hier und da aufweist. Schön und gut. Schwierig wird es, wenn sich nicht bloß der eine oder andere kleine Denkfehler eingeschlichen, sondern der Literaturwissenschaftler unsauber gearbeitet hat.
Und hier liegt Morettis Problem, insbesondere in dem Teil des Buches, der mit Stammbäume überschrieben ist. Wie schon zu erahnen, lehnt sich Moretti hier stark an Darwins Evolutionstheorie an. Er scheint aber im Biologieunterricht hin und wieder nicht richtig aufgepasst zu haben, und so kränkelt das Buch insbesondere am fehlerhaften Umgang mit Darwins Lehre.

Es geht damit los, dass einer der Stammbäume, die Moretti präsentiert (er befasst sich mit der Entwicklung des Detektivgenres), genau genommen kein Stammbaum ist. Die Aufgabe eines Stammbaums ist es, eine Entwicklung durch die Zeit abzubilden – Morettis Stammbaum besitzt jedoch gar keine Zeitachse. Zudem legt er seinen Fokus extrem auf die Selektion, die in der Biologie tatsächlich nur einen untergeordneten Stellenwert innehat, wenn es um Stammbäume geht.

Man könnte jetzt argumentieren, dass Moretti Darwins Theorie abgeändert hat, um sie den Bedürfnissen der Literaturwissenschaft anzupassen. Was der Leser dann zumindest erwarten dürfte, ist eine entsprechende Bemerkung, der Hinweis darauf, dass die Theorie nicht originalgetreu übernommen worden ist. Moretti schweigt sich dazu vollkommen aus.

Ohnehin verschweigt Moretti dem Leser so einiges. Da werden schon einmal Behauptungen aufgestellt, ohne begründet zu werden. So zum Beispiel, wenn es um die Kernaussage des Kapitels Stammbäume geht. Darin vertritt Moretti die These, dass es clues, also Fährten oder Hinweise, waren, die das Interesse der Leser weckten und letztlich Arthur Conan Doyle und seinen Detektiv Sherlock Holmes so berühmt machten. Das Kapitel analysiert die Verwendung dieser clues in der Detektivliteratur vor und nach Doyles erstem Holmes-Band, um zu zeigen, dass letztlich nur die Geschichten auf Dauer Erfolg hatten, die clues verwendeten. So ausführlich Moretti sich mit dieser These vermutet – nirgends wird dem Leser erklärt, warum es ausgerechnet die clues waren, die Sherlock Holmes so erfolgreich machten.

Auch wird von einer Kontrollgruppe von hundert Detektivgeschichten gesprochen, obwohl am Ende im Stammbaum nur zwölf auftauchen. Offensichtlich wurde eine Auswahl getroffen. Der Leser bleibt aber im Dunkeln darüber, nach welchen Kriterien das passiert ist. Das Problem liegt darin, dass Kurven, Karten, Stammbäume mehr oder weniger eine Zusammenstellung von Aufsätzen ist, die Moretti bereits vorher verfasst hatte bzw. auf Erkenntnisse referiert, die aus älteren Aufsätzen stammen. So wird in einem Aufsatz (The Slaughterhouse of Literature, 2000) durchaus erklärt, wie Moretti dazu kam, ausgerechnet die zwölf Detektivgeschichten auszuwählen, die nachher in dem Diagramm auftauchen. In Kurven, Karten, Stammbäume fehlt allerdings jeglicher Hinweis dazu, es wird nicht einmal auf den ursprünglichen Aufsatz verwiesen.

Unwegsam

Doch das sind nicht die einzigen Versäumnisse, die sich bei Moretti finden: Er verstrickt sich in widersprüchliche Aussagen, er wirft Fragen auf, die er letztlich unbeantwortet lässt, und an einer Stelle gerät er beinahe in einen Zirkelschluss: Dieser betrifft wiederum jene clues, von denen Moretti vermutet, dass sie ausschlaggebend für Doyles Erfolg waren. Um seine These zu stützen, untersucht er eine Kontrollgruppe von Detektivgeschichten auf die Nutzung von clues, darunter solche von Doyle als auch von zahlreichen anderen Krimiautoren der Epoche. Die Tatsache, dass all jene Geschichten, in denen keine clues auftauchten, auch keinen langanhaltenden Erfolg genossen, nimmt Moretti als Bestätigung seiner Theorie. In einer Antwort auf diese Annahme (veröffentlicht in der New Left Review) fragte Christopher Prendergast, ob Morettis Argumentation sich nicht im Kreis drehen würde. Denn die Suche nach einem Merkmal kanonischer Detektivliteratur muss in nichtkanonischer Detektivliteratur ergebnislos bleiben – besäße sie dieses Merkmal, wäre sie ja kanonisch. Moretti kann sich nur mit Mühe und Not herausreden. Er erklärt, er habe sich nicht für die clues als erfolgversprechendes Merkmal entschieden, weil sie von Doyle verwendet wurden, sondern weil zahlreiche Theorien zum Detektivgenre ihnen große Wichtigkeit beimessen. An Doyle wird bloß der Maßstab angelegt, mit dem in der heutigen Forschung Detektivliteratur gemessen wird. Doch Morettis Rechtfertigung umweht ein Hauch von Trotz, sie kann nicht alle Zweifel beseitigen. Es bleiben ein fahler Nachgeschmack und die Frage, welche Gültigkeit das Ergebnis an dieser Stelle noch beanspruchen kann.

Ohne jeden Zweifel ist Moretti ein Vorreiter auf seinem Gebiet, der in Kurven, Karten, Stammbäume wie auch in seinen restlichen Werken Denkanstöße liefert, die die Literaturwissenschaft auf lange Sicht bereichern könnten. Es steht aber ebenso außer Frage, dass vorher einige nicht unerhebliche Defizite in Morettis Konzept ausgemerzt werden müssen. Denn eine gute Literaturtheorie braucht Transparenz, damit sie nachvollzogen und angewendet werden kann.



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 Veröffentlicht am 25. März 2014
 Kategorie: Wissenschaft
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