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Bin ich ein Bourgeois?

Die Bezeichnung »Bourgeois« ist uns so fremd, dass es uns im Traum nicht einfallen würde, den Begriff auf uns selbst zu verwenden. Franco Moretti macht uns in seiner Monographie über einen der wichtigsten Akteure des 18. und 19. Jahrhunderts wieder vertraut mit diesem Begriff.

Von Sina Bokelmann

Das Wort »bürgerlich« hat in unserem modernen Sprachgebrauch kaum noch einen Platz. Wird es doch benutzt, haftet ihm meistens etwas Spießiges an. Vielleicht spricht noch der ein oder andere von gutbürgerlicher Küche, wenn es ihm einmal nicht nach Pasta mit Bio-Ziegenkäse oder nach Sushi gelüstet, sondern nach deftigem Braten mit Knödeln und Rotkohl. Und auch als »Bürger« bezeichnen sich nur noch die wenigsten. Der Begriff fällt höchstens noch in politischen oder Verwaltungsangelegenheiten, wenn es um Staatsbürgerschaften geht oder Kommunalpolitiker ihre potenziellen Wähler schwülstig mit »Liebe Bürgerinnen und Bürger« ansprechen.

Die Bezeichnung »Bourgeois« ist uns so fremd, dass es uns im Traum nicht einfallen würde, den Begriff auf uns selbst zu verwenden. Den meisten ist er vor allem aus dem Geschichtsunterricht bekannt, unweigerlich verknüpft mit Marx und Engels und dem Kommunistischen Manifest. Und eben dorthin gehört dieses Wort auch – in den Unterricht, aber nicht ins Leben außerhalb von Schule oder Universität. Er ist nicht mehr alltagstauglich. Was verwundern muss, denn das Wort »Bourgeois« ist eng verbunden mit dem Kapitalismus. Und wann war die Welt je kapitalistischer als sie es heute ist?

Das Fehlen der Bourgeoisie in einer Zeit des Kapitalismus verwundert auch Franco Moretti, so sehr sogar, dass er sein neuestes Buch nach diesem wichtigsten Akteur des 18. und 19. Jahrhunderts benannt hat: Der Bourgeois. Eine Schlüsselfigur der Moderne. In diesem Buch will Moretti den Fragen nachgehen, woher der Bourgeois kam, was er verändert hat in der Welt und wohin er schließlich verschwunden ist.

Nun mag es den ein oder anderen überraschen, dass Franco Moretti sich diesem Thema widmet, ist der in den USA lebende Italiener doch als Literaturwissenschaftler bekannt, der besonders durch seine Theorie des distant reading für Aufsehen gesorgt hat. Der Mitbegründer des Stanford Literary Lab ist es, der die Auswertung literarischer »Daten« vermittels Computerdatenbanken propagiert und für seine Arbeiten anwendet. Wie also kommt er jetzt dazu, sich mit einer sozialen Schicht zu befassen?

Aufschluss liefert hier der originale englische Titel des Buchs: The Bourgeois. Between History and Literature. Der macht deutlich, dass der deutsche Untertitel sehr unglücklich, weil nicht aussagekräftig genug, gewählt ist. Denn das Buch betrachtet den Bourgeois durch die Literatur seiner Epoche – ein Franco Moretti kann eben nicht aus seiner Haut.

Moretti setzt sich aber nicht nur die literarische Brille auf, weil er nun mal Literaturwissenschaftler ist und gerne mit seinen Datenbanken spielt. Die Bourgeoisie, so argumentiert er, hat die Literatur entscheidend geprägt. Zudem bietet die literarische Forschung eine einzigartige Herangehensweise an historische Themen: Einerseits ist Literatur nur von beschränkter Evidenz, denn sie ist einmal der Fantasie eines Menschen entsprungen und damit kein Fakt wie die Passagierliste der Mayflower. Dessen ist sich Moretti wohl bewusst; der gute Wissenschaftler kennt die Defizite seiner Forschungsmethode. Der nicht zu unterschätzende Vorteil von Literatur allerdings ist, dass sie das Denken ihres Autors konserviert, die Dinge, die ihn beschäftigen. Moretti schreibt, dass sich in der Literatur die Lösungen für Probleme erhalten haben, obwohl die Probleme längst nicht mehr bekannt sind. Vermittels reverse engeneering – Rückwärtsarbeiten – lässt sich aber aus der Lösung das Problem rekonstruieren, dem sich der Autor eines literarischen Werkes einst gegenüber sah. Und sobald dieses Problem rekonstruiert ist, tauchen wir tief in lebendige Geschichte ein.

Buch


Franco Moretti
Der Bourgeois – Eine Schlüsselfigur der Moderne
Suhrkamp: Berlin, 2014
275 Seiten, 24,95€

 
 
In seinem Bourgeois stellt Moretti Betrachtungen über so unterschiedliche Werke wie Defoes Robinson Crusoe, Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahre und Ibsens Nora oder Ein Puppenheim an – um nur einige zu nennen. Dabei interessiert ihn besonders der Prosastil, der zum eigentlichen Star des Buches wird. Nirgends, so Moretti, werden der Charakter des Bourgeois und sein Einfluss auf die Literatur so deutlich wie in diesem Stil, der nüchtern ist, diszipliniert, regelmäßig. Bezeichnend für den Bourgeois und seine Literatur sind darüber hinaus gewisse Stichworte wie »nützlich«, »Effizienz« und »earnest«. Moretti verfolgt die Entwicklung dieser Stichworte nach, ihre ursprüngliche Bedeutung bis hin zu jener, die sie für die Bourgeoisie so bezeichnend machen sollte. Wer dabei jetzt an dröge Erklärungen zur Etymologie denkt, ist allerdings auf dem Holzweg, denn Moretti ist nicht nur ein innovativer Wissenschaftler, sondern auch ein begnadeter Autor, der es versteht, Informationen unterhaltsam zu verpacken. Er ist nicht dem Glauben erlegen, ein wissenschaftliches Buch müsste möglichst unverständlich sein, um als gut gelten zu können. Moretti brilliert durch Wissen und amüsiert mit Flapsigkeit.

Mit dieser Flapsigkeit und dem laxen Ton geht allerdings das Risiko einher, sich an Gemeinplätzen zu bedienen und zu verallgemeinern, wo der wissenschaftliche Blick differenzierter sein sollte. Das Bürgertum war ernsthaft, das Viktorianische Zeitalter grau und blind, die Literatur bar jeder Inspiration und nur getrieben von eiserner Arbeitsdisziplin. Wieder verfällt Moretti in sein altes Schema, stellt Behauptungen als Tatsachen dar, ohne sie hinreichend zu begründen. Und dabei muss es jedem Literaturfreund in der Seele wehtun, zu hören, dass die Literatur des 18. und 19. Jahrhundert uninspiriert war, lediglich das Ergebnis von Selbstdisziplin und dem unermüdlichen Arbeitsdrang des Bourgeois.

Schönstes Beispiel für so eine Behauptung ist eine Bemerkung, die Moretti zum Thema Privatsphäre fallen lässt. Lediglich in einem Nebensatz erwähnt er, dass die Privatsphäre in den Niederlanden entstanden sei. Einfach so. Keine Erklärung, nichts. Als hätten die Holländer sich um einen runden Tisch gesetzt, für die Einführung einer Privatsphäre gestimmt, mit einem Holzhämmerchen auf den Tisch geklopft und wären dann einhellig in die Mittagspause gegangen. Dabei ist die Entwicklung der Privatsphäre, wie wir sie heute kennen, ein Prozess, der sich über Jahrhunderte hinzog und längst nicht beendet ist. Erst jüngst sorgten Facebook und seine Aufzeichnung des Surfverhaltens der User wieder für Aufsehen. Ein eindeutiger Beweis dafür, dass sich die Privatsphäre immer weiter verändert. Zu behaupten, die Privatsphäre wäre von den Niederländern erfunden worden wie Ricola von den Schweizern, ist noch mehr als eine Vereinfachung.

Moretti porträtiert den Kampf zwischen dem Bürger, der in seinem heimeligen Salon sitzt und das sittsame Familienleben pflegt, und dem Bourgeois, der Unternehmer ist, der ewig arbeiten muss. Dieser Drang zur Arbeit ist für ihn dem Bourgeois inhärent, es ist der Motor, der ihn immer weiter vorantreibt, wenn auch keiner so recht weiß wohin. Denn ursprünglich war der Bourgeois jemand, der sich gerade dadurch auszeichnete, dass er nicht arbeiten musste. Die Bourgeoisie scheint längst nicht so einheitlich zu sein, wie der erste Blick andeutet, und es ist diese innere Zerrissenheit, die letzten Endes den Untergang des Bourgeois bedeutet: Der aufrichtige Ehrenmann opfert sein Gewissen dem rücksichtslosen Entrepreneur, der auf Gewinn aus ist. Er bricht sich sein eigenes Rückgrat, in jedem Sinne des Wortes. Und obwohl der Bourgeois wirtschaftlich die Vormachtstellung innehat, fällt es ihm lange schwer, auch in der Politik Fuß zu fassen. Jedes Mal, wenn das Bürgertum kurz davor steht, auch die politische Führung zu übernehmen, kommt ihm etwas dazwischen – die Weltkriege. Während des Ersten Weltkriegs schlug die Bourgeoisie sich auf die Seite der alten Eliten, um letztlich mit ihnen zu scheitern. Im Zweiten Weltkrieg dann vertraute das Bürgertum seine Interessen den Faschisten an, was sich als noch fatalere Entscheidung erweisen sollte. Mit der zunehmenden Demokratisierung nach dem Zweiten Weltkrieg war schlussendlich kein Platz mehr für eine Klasse, die ihre Herrschaft auf nichts außer Konsens und Prestige gründete.

Der Bourgeois ist ein kluges Buch und noch dazu eines, das auch ungewöhnliches Wissen unterhaltsam zu vermitteln vermag, so zum Beispiel das um die Rolle des Gerundium Perfekt im Robinson Crusoe – Crusoes Tun ist immer zukunftsgerichtet, er tut Dinge, um andere Dinge tun zu können. Kaum jemand würde sich freiwillig eine Untersuchung zu dieser Zeitform anschauen, aber Moretti schafft es, dem Leser einige unerwartete Aha-Momente zu bescheren. Man fühlt sich gut, wenn man sein Buch liest. Gut unterhalten, gut informiert. Und ein kleines bisschen so, als würde man das Universum austricksen, weil man Spaß beim Lesen hat und trotzdem viel lernt. Allerdings fühlt man sich manchmal auch, als würde Moretti einen nicht für voll nehmen, nämlich dann, wenn er verallgemeinert, obwohl es vollkommen klar ist, dass die Dinge niemals so einfach sein können. Sicherlich kann man von einem Buch begrenzten Umfangs nicht erwarten, detailgenau jede Aussage zu belegen. Andererseits darf so ein Buch aber auch nicht erwarten, dass der Leser alles schluckt, was man ihm vorwirft. Nicht alle bourgeoisen Schriftsteller sahen ihr Tun als Nine-to-Five-Job, nicht alle Viktorianer waren gegenüber der Realität willentlich blind und unwissend. Nachts sind eben doch nicht alle viktorianischen Katzen grau.

Im Gegensatz zu einigen seiner bisherigen Arbeiten lehnt sich Moretti mit Der Bourgeois nicht allzu weit aus dem literaturwissenschaftlichen Fenster. Das tut der Qualität des Werks aber keinen Abbruch. Es ist sowohl ein Buch für die, die es einmal lesen und sich an all dem Wissen erfreuen wollen, als auch für jene, die tiefer eintauchen wollen in Morettis Arbeit und sich eingehender mit der Materie befassen. Es ist ein vielfältiges Buch, eines, das gerade deswegen so faszinierend ist, weil es nicht stringent einer Fragestellung folgt, sondern durch Zeiten und Kulturen mäandert wie ein Fluss und immer wieder kleine Informationsströme in sich aufnimmt. Es ist ein bisschen wie der Bourgeois in seinen besten Zeiten: arbeitsam und abenteuerlustig zugleich.



Metaebene
 Autor*in:
 Veröffentlicht am 16. April 2015
 Kategorie: Wissenschaft
 Fred Barnard via Wikimedia Commons
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