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Wallstein-Jubiläum
Der Werwolf in uns

2006 wurde Jörg Albrecht mit seinem Debütroman Drei Herzen als talentierter Jungautor gefeiert. Sechs Jahre später beweist er mit Beim Anblick des Bildes vom Wolf, dass das Bestehen im Künstlermilieu des neuen Berlins nichts für Zartbesaitete ist – sondern eher etwas für Werwölfe…

Von Melina Jander

In einer Stadt, in der Kreativität groß geschrieben wird, hast du jeden Tag die Chance, das ganz große Glück zu finden. Wenn du erst einmal einen Fuß in die Welt der Kulturschaffenden gesetzt hast, dann brauchst du den zweiten eigentlich nur noch nachzuziehen. Und schon bist du ein Teil dieser riesigen creative family, in der jeder jeden lieb hat. Denkst du. Denn dann kommt der Moment, in dem du merkst, dass das Nachziehen des zweiten Fußes gar nicht so einfach ist. Nicht weil dich plötzlich der Mut oder die Kraft verlässt, sondern weil in der Kreativwelt nur Platz für erste Füße ist. Und so wird dein Sein unter Deinesgleichen zu einem Balanceakt, ein ständiges Dazwischen, das dich unentwegt daran erinnert, dass deine Träume vom großen Glück tatsächlich nichts als Träume waren. Und vermutlich immer bleiben werden.

Buch-Info


Jörg Albrecht
Beim Anblick des Bildes vom Wolf
Wallstein Verlag, Göttingen, 2012
262 Seiten, 19,90€
E-Book 15,99€

 

Jubiläum

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2015 feiert das von Thorsten Ahrend verantwortete Literaturprogramm des Wallstein Verlags sein 10-jähriges Jubiläum. Das belletristische Programm steht für anspruchsvolle und preisgekrönte Literatur aus den Bereichen Prosa, Lyrik, Dramatik und Essayistik. Ständig wird es durch zeitgenössische Autorinnen und Autoren erweitert: Bücher von Lukas Bärfuss, Daniela Danz, Ralph Dutli, Dorothea Grünzweig, Maja Haderlap, Harald Hartung, Dea Loher, Sabine Peters, Teresa Präauer, Patrick Roth, Hendrik Rost, Gregor Sander, Ron Segal, Kai Weyand und Matthias Zschokke u.v.m. setzen deutliche Akzente auf die Gegenwartsliteratur. Im August und September gratuliert Litlog, indem es seinen Fokus auf aufgewählte Bücher des Literaturprogramms legt.

 
 

Genau diese Erfahrung wird von Jörg Albrecht in seinem Roman Beim Anblick des Bildes vom Wolf thematisiert. Es dreht sich um einen kleinen Freundeskreis Anfang Dreißig im deutschen Künstler-Mekka, natürlich Berlin. Dort gehört es zum guten Ton, vor und nach der Arbeit zu arbeiten, also eigentlich immer zu arbeiten, denn auch Spaß ist Arbeit und das Knüpfen und Pflegen sozialer Kontakte ist Arbeit und durchzechte Partynächte sind Arbeit und überhaupt ist immer alles Arbeit. Für Thies, seine Ex-Freundin Wanda, Hartz IV-Empfänger Jasper und die Zwillinge Jonte und Pelle scheint jedes neue Projekt auch eine weitere Chance auf die große Karriere zu sein – oder zumindest die Chance darauf, eine weitere Sprosse der Karriereleiter empor klettern zu können. Denn eines ist klar: Je erfolgreicher du bist, umso glücklicher bist du auch. Heißt es zumindest immer.

»Please, let me be your project!«

Da wundert es dann auch nicht, dass die fünf Freunde zusammen an Jaspers neuem Projekt mitarbeiten, quasi gemeinsam und doch jeder für sich darauf bedacht, es mit dieser Sache irgendwie doch noch mit beiden Füßen in die Kreativbranche zu schaffen. Dieses neue Projekt ist nichts weniger als der Diplomfilm von Jasper, mit dem er nach etlichen Jahren halbherzigen Studiums dann doch noch seinen Abschluss schaffen möchte. Um Werwölfe soll es gehen, Werwölfe in der Großstadt. Ihr tägliches Leben soll beleuchtet werden, Kapitalismuskritik, Protestbewegung und sexuelle Befreiung inbegriffen. Es scheint fast so, als wolle Jasper in seinem Film genau das abbilden, was ihm und seinen Freunden aller ursprünglichen Ideale zum Trotz abhanden gekommen ist. Dass der Werwolf stellvertretend für den stereotypen Stadtbewohner steht, liegt auf der Hand, tut der Euphorie Jaspers allerdings keinen Abbruch, schließlich soll sein Film etwas ganz Großes werden. Schluss mit Hartz IV und Eltern-Anpumpen, mit Anfang Dreißig hat man schließlich auf eigenen Beinen zu stehen!

Und das will eigentlich jede der Figuren, die der Autor mit sensibler Vielschichtigkeit zeichnet. Thies, der als freischaffender Quasi-Journalist ein besonderes Interesse an den sich in der Künstlerszene tätig glaubenden Individuen hat; Wanda, die von einem PR-Praktikum ins nächste hetzend an dem ehrgeizigen Plan arbeitet, mit einem eigenen Modelabel in der Fashionwelt Berlins aus ihrer Kreativität Geld zu machen; Jasper – nun, über Jasper wissen wir bereits Bescheid; und zu guter Letzt die Zwillinge Jonte und Pelle: Der Eine zeichnet, der Andere komponiert. Diese fünf Figuren und ihre temporär begrenzten Bekanntschaften sind es, mit denen uns Lesern überdeutlich gemacht wird, dass die Kombination aus bestem Lebensalter, beruflichen Ambitionen und Visionen, der großen Liebe sowie der Suche nach sexueller Befriedigung nicht unbedingt das ist, was nach einem erfüllten Leben schreit. Ganz im Gegenteil, keiner der Protagonisten scheint in der Lage zu sein, das zu leben, was er sein möchte. Also geht man lieber auf die Jagd. Und auch Jagd bedeutet – natürlich – Arbeit.

»Wie kommen wir je wieder davon weg, nur glücklich zu sein, wenn wir arbeiten? Wobei es nie nach Arbeit aussehen darf, nur nach Spaß.«

Diese Formel lässt Jörg Albrecht von seinen Figuren immer wieder durchexerzieren: Sei es auf einer hippen Party in hipper Location mit noch hipperen Gästen (wahrscheinlich sollte man lieber sagen: Hipster-Gästen) oder einem der unzähligen Bio-Cafés der laktose- und glutenfreien Hauptstadt – an jedem erdenklichen Ort kann zu jeder erdenklichen Zeit das große Glück zum Greifen nah sein. Man muss nur den richtigen Leuten begegnen, die richtige Kleidung tragen und die richtigen Worte finden. Blöd nur, dass das keinem aus der Clique so richtig gelingt. Und so werden wir Zeugen individueller – oder zumindest halb-individueller – Lebenswege, denen zu folgen keine leichte Aufgabe ist. Denn nicht nur inhaltlich, sondern auch formal hat es Jörg Albrechts Roman in sich. Wer auf der Suche nach einem stringenten Handlungsverlauf ist, wird erst nach vielen Seiten fündig, da erst beim Einsetzen eines Thriller-Plots – an einigen Hauswänden in einem der angesagtesten Stadtviertel tauchen Blutspuren auf, in Tatzenform! – so etwas wie ein halbwegs chronologisches Erzählen einsetzt. Bis dahin serviert der Autor uns Ausschnitte aus immer wieder wechselnden Erzählperspektiven, Interviewschnipsel und Kurzzusammenfassungen von – man ahnt es – Werwolffilmen. Das Personenregister wirkt auf den ersten Blick unüberschaubar, immer wieder treten neue Figuren auf, deren Signifikanz beim Voranschreiten der Handlung teilweise überrascht, hin und wieder allerdings auch irritiert.

Jörg Albrecht lässt in seinem Roman kein Klischee, keinen Stereotypen und keine wie auch immer geartete Subkultur aus, präsentiert uns feinsinnige Beobachtungen eines Milieus, das sich selbst zugrunde richtet, und lässt uns teilhaben an Innenansichten junger Kreativer, die mal mit unheimlich viel Witz und hochironisch daherkommen, mal allerdings auch an Frustration und Resignation kaum zu übertreffen sind. Die den Roman bestimmende Thematik ist natürlich keine neue: Was Kathrin Röggla in Wir schlafen nicht vormachte und von Holm Friebe und Sascha Lobo mit Wir nennen es Arbeit auf eigensinnige Weise neu beleuchtet wurde, findet in Jörg Albrechts drittem Roman ein ganz eigenes, man mag fast sagen: sehr künstlerisches, Sprachrohr. Denn Albrechts Sprache ist Kunst. Mit nicht enden wollenden Sätzen und dann wieder abgehakten Gedankenfetzen schafft er es mit unkonventionellen Mitteln, den Leser in einen regelrechten Bann zu ziehen – wenn man sich darauf einlässt. Ganz einfach ist die Lektüre dieses Werkes nämlich nicht, es braucht ein gesundes Maß an Konzentration, um dem Freundeskreis rund um Thies komplett folgen zu können. Belohnt wird der ausdauernde Leser dafür mit sprachlicher Finesse und Interpretationsangeboten eines Milieus, das sich um seiner selbst willen feiert. Und inszeniert. Sich also inszeniert feiert. Und am Ende doch nur wieder arbeitet. So wie wohl auch der vielseitig begabte Jörg Albrecht selbst, von dem wir auch in Zukunft hoffentlich noch das eine oder andere großartige Werk erwarten dürfen.



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 Autor*in:
 Veröffentlicht am 22. August 2015
 Kategorie: Belletristik
 Bild von Jonathan Vez via Unsplash
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