Erste Schritte auf ziemlich unbekanntem Terrain. Die Deutsche Thomas Mann Gesellschaft aus Lübeck traf sich für ihr internationales Herbstkolloquium in diesem Jahr in Göttingen. Das Thema: »Der Zauberer und die Phantastik: Thomas Mann und das phantastische Erzählen«.
Von Alke Brockmeier
Zu Beginn des Monats September 2010 fand in Göttingen das internationale Herbstkolloquium der Deutschen Thomas Mann-Gesellschaft statt (Programm), die damit zum vierten Mal seit ihrer Gründung im Jahr 1965 nicht in der Heimatstadt des Autors der Buddenbrooks, nicht in Lübeck tagte. Dass die Veranstalter, Hans Wyßkirchen (Präsident der Deutschen Thomas Mann Gesellschaft, Lübeck) und Heinrich Detering, gerade diesen Ort wählten, hatte nicht zuletzt auch mit dem Thema der Tagung zu tun: Denn wo wäre die literaturwissenschaftliche Vermessung der Beziehung Thomas Manns zum Phantastischen besser aufgehoben gewesen als an einer Universität, die eine so herausragende Rolle in der Frühromantik gespielt hat?
Am Vorabend der Tagung beschäftigte sich Karsten Blöcker (Lübeck) einführend mit den biographischen Bezügen Thomas Manns zu Göttingen und mit der Frage, ob man sogar von der ›Thomas Mann-Stadt Göttingen‹ sprechen könne. So besuchte Mann im Rahmen seiner Tristan-Lesereise im Jahr 1903 die Stadt, um aus Tonio Kröger vorzutragen.
In einer ersten Gruppe von Vorträgen des Hauptprogramms ging es um den Begriff und die Theorie ›Phantastischen Erzählens‹. Zunächst zeigte Heinrich Detering (Göttingen), dass es sich bei dem Haus der Familie Buddenbrook um ein ›haunted mansion‹ der literarischen Tradition Edgar Allan Poes handelt, wobei das Übernatürliche jedoch »suggeriert, nicht expliziert« werde. Tom Kindt (Göttingen) unternahm den diffizilen Versuch, den in der Theorie vielfältig und zum Teil widersprüchlich verwendeten Phantastikbegriff auf eine kompromissfähige und anwendbare Formel zu bringen. Das Phantastische in Der Tod in Venedig stellte Andreas Blödorn (Wuppertal) vor, der im Besonderen die Bedeutung narrativer Perspektivierungen hervorhob.
Alljährlich wird Studierenden, Promovierenden und Habilitierenden im Rahmen der Thomas Mann-Tagung die Möglichkeit gegeben, laufende Projekte über Thomas Mann überblickshaft oder in Ausschnitten zu präsentieren und zur Diskussion zu stellen. Dabei fügte sich diesmal ein Teil der Vorträge in das Tagungsthema ein. Alke Brockmeier (Göttingen) zeigte, dass sowohl Thomas Manns Buddenbrooks als auch seine phantastische Erzählung Der Kleiderschrank intertextuell mit Erzählungen von Guy de Maupassant vernetzt sind. Einen emotionswissenschaftlichen und didaktisch orientierten Ansatz stellte Gesa Singer (Thessaloniki) vor, die über das »Sehnsuchtsmotiv in Thomas Manns Erzählungen« sprach. Denise Dumschat-Rehfeldt (Bamberg) gab einen Überblick methodischer Zugänge zu »vampirischen Strukturen in Erzählungen Thomas Manns«.
»Psychologischen und anthropologischen Aspekte« des Phantastischen bei Thomas Mann widmeten sich die darauf folgenden Vorträge. Manfred Dierks (Oldenburg) untersuchte die Bedeutung von »Traum und Hypnose im Zauberberg« und ging Thomas Manns Kontakten zu Okkultisten wie Albert von Schrenck-Notzing nach. Marianne Wünsch (Kiel) sprach über den »Okkultismus im Kontext des Zauberbergs« und analysierte in diesem Zusammenhang die Sinnkomplexe – so den Dualismus von Leben und Tod – und die semantisch-räumlichen Strukturen des Romans, die sich in der Opposition von Westen und Osten abzeichnen. Ein weiterer Beitrag zum Zauberberg thematisierte auf mitreißende Weise dessen »Traumphantasien und Romantik«; Luca Crescenzi (Pisa) arbeitete vor allem Thomas Manns Bezüge auf Carl Du Prels Die Philosophie der Mystik (1885) und dessen Somnambulismus-Konzept heraus und las den Roman als Traum Hans Castorps. Elisabeth Galvan (Neapel) stellte Thomas Manns Der Kleiderschrank in den Werkkontext, indem sie auf frühe Vorläufer wie das Prosastück Vision und spätere Texte wie Mario und der Zauberer verwies, und verortete die Erzählung intertextuell, so besonders hinsichtlich der Werke E.T.A. Hoffmanns.
Dass die Phantastik nicht nur im Werk Thomas Manns, sondern auch in demjenigen des Sohnes Golo eine gewichtige Rolle spielte, zeigte Tilmann Lahme (Göttingen). Ausgehend von Überlegungen zu Golo Manns persönlicher Haltung zu Traumdeutung und Sternenglauben exemplifizierte er anhand der Erzählung Vom Leben des Studenten Raimund (1927) dessen literarische Positionierung zum Phantastischen.
Abschließend wurden »literarische Traditionen und Transformationen« im Kontext des phantastischen Schreibens in den Blick genommen. Friedhelm Marx (Bamberg) zeichnete Formen ›bürgerlicher Phantastik‹ bei Thomas Mann nach, indem er intertextuellen Relationen zu E.T.A. Hoffmann nachging. Die Frage, ob es sich beim Doktor Faustus um einen phantastischen Roman handele, stellte Stephan Stachorski (Mainz) und kam zu dem Schluss, dass phantastische Elemente nicht allmächtig in das Romangeschehen eingriffen, sondern dass es sich vor dem zeitpolitischen Hintergrund vielmehr um »das bewusste menschliche Einlassen mit dem Bösen«, um einen »Roman der menschlichen Verantwortlichkeit« handele. Maren Ermisch (Göttingen), Kuratorin der die Tagung begleitenden Ausstellung von Illustrationen zu Thomas Manns Werk, machte deutlich, dass sich die Bildende Kunst schon früh und intensiv mit phantastischen Themen und Motiven bei Thomas Mann auseinandersetzte.
Erklärtes Ziel der Tagung war es, erste Schritte auf dem bisher nicht systematisch und umfassend erforschten Gebiet des Phantastischen bei Thomas Mann zu unternehmen, seine Perspektiven und Möglichkeiten auszuloten und zugleich seine Grenzen aufzuspüren. Einerseits ist deutlich geworden, dass gerade die Heterogenität der Phantastik in Texten Thomas Manns einen differenzierten theoretischen Zugang erfordert. Andererseits aber hat sich tatsächlich erwiesen, dass Untersuchungen dieses vernachlässigten Forschungsgegenstands zu überraschenden und grundlegenden Ergebnissen führen. Und auch in Bezug auf Romane und Erzählungen, die unerwähnt bleiben mussten, dürften diesbezüglich noch fruchtbare Studien zu erwarten sein.