Impressum Disclaimer Über Litlog Links
Kolumne: Schimpfen über …
Deutschpop

Deutsche Radiomusik ist eintönig und langweilig und schlafinduzierend. Trotz der ganzen verschiedenen Namen – alle super fürs Branding natürlich – lassen sich die Interpret*innen nicht mehr auseinanderhalten. Es nervt, macht wütend und macht eigentlich nur traurig.

Von Frederik Eicks

Die Konsument*innen der 18 führenden Musikmärkte (zu diesem an sich schlimmen Begriff später mehr), darunter auch Deutschland, hören durchschnittlich zweieinhalb Stunden Musik pro Tag. Das sind aufs Jahr gerechnet rund 38 Tage, ja wirklich, 38 Tage – die größtenteils mit dem Abfeiern der immer gleichen drei Songs zugebracht werden. Das sollte mich eigentlich traurig stimmen und dazu veranlassen, in embryonischer Stasis in einer Ecke zu kauern. Doch bevor ich mich verkriechen kann, bin ich leider schon vor lauter Langeweile eingeschlafen. Gähn.

Bitte, man muss mir glauben, dass ich jetzt gerne einige aussagekräftige Beispiele anführen würde, aber ich habe noch nie auch nur ein einziges dieser Lieder zu Ende hören können, es ist faktisch unmöglich. Setzt die Musik ein, spüre ich gerade noch meine Augenlider, wie sie laangsaaam schwerer werden und mich in einen Schlafzustand befördern, dessen Zufluchtsqualitäten täuschen: Schlafe ich den Schlaf der Deutschpopgeplagten, werde ich im Traum von Brille, Cap und Dreitagebart tragenden Durchschnittsmännern sowie blonden, durchtrainierten, nach gängigen Idealen ›schönen‹ Frauen besungen (zwei Beschreibungen, die auch eine Menge darüber verraten, was Männer in diesem Business leisten müssen, was Frauen). Schnarch. Warte, was macht denn Robbie Williams hier?

Beim Bügeln stört hierzulande schon lange nichts mehr (es tut mir genauso weh wie dir, Judith) – nicht einmal die faltenfreien Namen der per Digital Audio Workstation geglätteten, alle nach demselben weißen Hemd klingenden Singstimmchen kann ich mir merken. Sicher ist: Es gibt die Schlagertante (in cool) Wanessa Weiss und diesen EINEN

Kolumne

Schimpfen über …
In der neuen Semesterferienkolumne versucht Litlog eine Rehabilitation des Schimpfens. In unregelmäßigen Abständen erscheinen hier Texte, die über die polemische Auseinandersetzung eine neue Perspektive auf ihren Gegenstand eröffnen. Alle Beiträge im Überblick findet ihr hier.

 
 
Musterschwiegersohn (der es kaum erwarten kann, eine Familie – natürlich mit einer Frau – zu gründen und alt zu werden, aww) Vincent Mai, nee, Vincent war doch dieser Song von Sarah Connor und wäre es nicht aus marketingtechnischen Gründen viel klüger, sich Sarah Fischer zu nennen, deutsch ist doch ›in‹ jetzt?

Ausnahme bei diesem Namenschaos: Ex-DSDS-Gewinner Pietro Lombardi. Ja, den kann ich mir merken. Ist er unter den Weißhemden vielleicht das knallpinke Nike-Shirt, wie er es auch im Video zu Macarena trägt? Nö. Pietro hat aber dafür gesorgt, dass ich mir dasselbe Lied viermal angehört habe. Sein Erfolgsgeheimnis: Getreu dem Cantinabandcredo spielt er einfach denselben Song nochmal. Version 1: Señorita zusammen mit Kay One, Version 2: Bella Donna, Version 3: das bereits erwähnte Macarena. Alle weisen nicht nur durch die südländischen Titel, sondern auch durch Instrumentierung, Melodien etc. ganz erstaunliche Ähnlichkeiten zueinander und vor allem auch zu Luis Fonsis globalem Megahit Despacito auf. Wirklich ganz, ganz erstaunlich.

Und wie traurig ist es, dass sich die Leute solche musikalischen Wegwerfprodukte andrehen lassen. Klar, nach dem dritten Mal haben auch die meisten Pietro-Fans verstanden, dass das ja irgendwie ähnlich klingt. Ob ihnen aber klar wird, dass mit solchen Liedern ausschließlich das Ziel verfolgt wird, mit minimalem Aufwand maximalen Gewinn einzufahren? Dass bei genauerem Hinhören nicht nur Pietros drei Lieder gleich klingen, sondern der deutsche Mainstreampop selbst nur dieselben drei Songs wiederkäut und dass dann als etwas Neues verkauft? Ob sie merken, dass irgendein PR-Team den nächsten Michael, Max, Mark oder meinetwegen auch Mickie (gibt sich musikalisch ja nicht viel) für Sympathiepunkte bloß als Singer-Songwriter vermarktet, obwohl der seine Lieder nicht selbst schreibt? Ob ihnen das schlicht egal ist? In einem paradoxen Move liefert die Musikindustrie eins der besten Mittel gegen den Permaschlafmangel unserer koffeinierten Turbogesellschaft, deren Auswuchs sie selber ist und … Schnarch.

Schlafe ich den Schlaf der Deutschpopgeplagten, träume ich selten auch von Menschen, die die unfassbar große Vielfalt von Musik und die unendlichen Möglichkeiten von musikalischem Ausdruck wertschätzen und unterstützen, statt sich das x-te perfekt zugeschnittene weiße Hemd zu kaufen.



Metaebene
 Autor*in:
 Veröffentlicht am 11. März 2020
 Kategorie: Misc.
 via Pxhere, CC0
 Teilen via Facebook und Twitter
 Artikel als druckbares PDF laden
 RSS oder Atom abonnieren
 Keine Kommentare
Ähnliche Artikel
  • Harry PotterHarry Potter Harry Potter ist schon lange nicht mehr das Problem, die Fans sind’s... Von Theresa Croll.
  • Das WetterDas Wetter Kein Tag ohne Wettertalk, kein Wettertalk von Relevanz. Von Lisa M. Müller.
  • Fälschliches FlektierenFälschliches Flektieren Es hat sich ausgewinkt. Hier wird ab jetzt geschumpfen! Von Tanita Kraaz.
  • Life-HacksLife-Hacks Warum sich der Shortcut über den Lebensquellcode nicht lohnt. Von Oke-Lukas Möller.
  • Ich wollt‘ noch Danke sagen…Ich wollt‘ noch Danke sagen… … die Dankbarkeit als Gegenentwurf zur selbstverständlichen Annahme.
Keine Kommentare
Kommentar schreiben

Worum geht es?
Über Litlog
Mitmachen?