Was sind eigentlich Digital Humanities? Die naheliegendste Erklärung ist sicherlich die einfache Übersetzung: Digitale Geisteswissenschaften. Reichlich unbefriedigend, wie man sich eingestehen muss. Bei digitalen Geisteswissenschaften handelt es sich vielmehr um eine Übertragung aus den Bezeichnungen »Digital Humanities« und »eHumanities« (enhanced Humanities). Sie integrieren die Anwendungen computergestützter Verfahren, die Nutzung digitaler Ressourcen in das Feld der Geisteswissenschaften und sind dabei interdisziplinär ausgerichtet: Hier werden Computer- und Geisteswissenschaften miteinander verbunden.1 Sie versuchen die geisteswissenschaftliche Forschung mit Informationstechnik voranzubringen.
Von Linda Brandt und Niklas Foitzik
Auch in Göttingen sind die Digital Humanities allgegenwärtig: Dazu gehören zum Beispiel das Göttinger Centre for Digital Humanites (GCDH), die Nachwuchsforschungsgruppe »eTRAP« (Electronic Text Reuse Acquisition Project), das Projekt »DARIAH-DE« der Staats- und Universitätsbibliothek (SUB) und das 2013 gegründete Graduiertenkolleg für Literatur und Literaturvermittlung im Zeitalter der Digitalisierung (GRK 1787). All diese Projekte tragen einer kulturellen und auch wissenschaftlichen Entwicklung Rechnung, die uns je nach Gemütslage in erhabenes Erstaunen versetzt – oder in alarmierte Angst. Die digitale Revolution verändert zweifelsfrei unsere Sozialität, unser Denken, unsere Menschlichkeit und in Konsequenz auch die annehmenden Geisteswissenschaften.
Die Digitale RevolutionDer digitale Fortschritt ist in vollem Gange. Computergestützte Forschung wird auch in den Literatur-, Sprach- und Geisteswissenschaften angewendet. Die digitale Revolution als dritte industrielle Revolution,2 der »Digital und Computational Turn« (die Kulturwissenschaft kennt viele Ausdrücke, um die komplexe soziale Entwicklung nach dem Computer zu beschreiben) beeinflusst als technologischer Fortschritt auch die Methodik jener genuin nicht-naturwissenschaftlichen Forschungsfelder. Etablierte Verfahren stehen auf dem Prüfstand, eine ganze Tradition hermeneutischer Erkenntnisgewinnung, die den menschlichen Individualverstand exklusiv machte, muss reflektiert werden und dabei gleichzeitig erhalten bleiben. Innerhalb dieser Dialektik ist es wenig verwunderlich, dass einige aus der Forschungsgemeinschaft ebenso verschreckt wie euphorisch, aber auch skeptisch reagieren.
Wir versuchen dem Ungewissen näher zu kommen und befragen deswegen drei aktive Göttinger WissenschaftlerInnen zum Stellenwert des Digitalen in den Geisteswissenschaften, zur Nachhaltigkeit digitaler Daten, zum Umgang mit Verfahren und Methoden – und lassen sie im O-Ton ein wenig über Zukunft und Entwicklung der Digital Humanities sinnieren, um Antworten zu erhalten.
Dr. Gerhard Lauer, Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaften an der Georg-August-Universität Göttingen, ist einer der Gründungsdirektoren des GCDH. Er beschäftigt sich unter anderem mit der Frage, wie mentale Prozesse und literarische Textstruktur zusammenhängen und welche Gesetzmäßigkeiten der kulturellen Evolution Literatur mit Bedeutung versehen. In seiner Forschung greift er vermehrt auf Modelle und Methoden der Kognitionswissenschaften und Computerphilologie zurück.
Herr Lauer, was leisten Digital Humanities?
Digital Humanities erweitern die Möglichkeiten der Geisteswissenschaften zunächst in methodischer Hinsicht, dann aber auch in der Art, wie Geisteswissenschaften Fragen stellen können und was ihre Gegenstände sind. Innerhalb der Wissenschaften ist dies ein normaler Vorgang, der in anderen Bereichen schon länger zu Fächern wie Bioinformatik, Geoinformatik oder Computational Chemistry geführt hat. Sie ermöglichen es, in diesen Fächern ihre Forschung zu verbessern. In den Geisteswissenschaften ist die Integration nicht ganz so einfach, da formale und quantifizierende Verfahren weniger etabliert sind und eine kontrollierte Methodik nicht zu den ersten Anforderungen in den Fächern gehört.
Und was verstehen Sie unter dem Begriff der digitalen Kultur und web 2.0?
Damit sind nicht nur die umfangreichen Retro-Digitalisierungsprojekte gemeint, die unvorstellbar große Mengen des kulturellen Erbes zugänglich machen, z.B. europeana.eu, sondern auch die digital entstehende Kultur, etwa die Millionen Menschen, die auf wattpad.com Bücher schreiben, lesen und kritisieren. Schon allein deswegen müssen sich Fächer wie die Germanistik überlegen, wie sie mit diesen kulturellen Dingen umgehen wollen. Digital Humanities ist ein Weg, nicht der einzige, aber aufgrund seiner sich schnell fortentwickelnden Methodik in der Lage, mit der digitalen Kultur umgehen zu können.
Wie nachhaltig sind für Sie digitale Textkorpora?
Der größte Teil der Manuskripte und Bücher ist unwiederbringlich verloren. 250-300 Neuerscheinungen pro Tag auf dem deutschen Literaturmarkt lassen hohe Erwartungen an die Nachhaltigkeit dieser Neuerscheinungen schnell sinken. Das gilt auch für die digitalen Editionen und Korpora. Sie werden nur dauerhafter sein, wenn es uns gelingt, Bibliotheken und Archive, Museen und Datenzentren so zu konzipieren, dass eine längere Nutzung und vor allem Vernetzung der Bücher und Artefakte möglich ist. Auch hier ist die Frage, ob sich Geisteswissenschaften solchen Herausforderungen überhaupt stellen. Für die computergestützten Methoden dagegen gilt, dass sie sich schnell entwickeln werden, in den Geisteswissenschaften nur gebremst durch die immer noch vergleichsweise geringe Zahl der in diesem Feld arbeitenden Kolleginnen und Kollegen.
Welche Entwicklungen sehen Sie für die Geisteswissenschaften im Kontext der Digitalisierung?
Die computergestützten Methoden werden ein selbstverständlicher Teil der Geisteswissenschaften sein und sind es in Fächern wie der Archäologie schon länger. Hauptschwierigkeit ist hier, dass sich die Forscherinnen und Forscher zwei Felder erarbeiten müssen: ihr traditionelles Fach und die Fachinformatik, d.h. Digital Humanities. Das ist schwieriger und zeitaufwändiger und das wird nur jemand längerfristig tun, wenn er dafür im Fach auch Anerkennung findet. Dies ist in der Germanistik derzeit noch nicht der Fall, wird sich aber ändern, wenn die Ansätze der Anfangsphase entwachsen sind.
Dr. Marco Büchler, Informatiker und Leiter der interdisziplinär und international ausgerichteten Nachwuchsforschungsgruppe »eTRAP«, arbeitet am Göttinger Centre for Digital Humanities in enger Zusammenarbeit mit dem Institut für Informatik. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Anwendung von Methoden der automatischen Sprachverarbeitung auf große Datenmengen (Big Data) aus den Geisteswissenschaften.
Herr Büchler, was ist Ihrer Meinung die Kernaufgabe der Digital Humanities?
Digital Humanities sind für mich ein spannender Forschungsbereich, der kulturelles Erbe in Digitale Ökosysteme transferiert und dort zur weiteren Verarbeitung zur Verfügung stellt. Für mich ist das Projekt zum Codex Sinaiticus3 das beste Paradebeispiel hierfür. Die originalen Manuskripte zum Codex aus der British Library, der National Library of Russia, dem St. Catherines Monastery auf der Halbinsel Sinai sowie der Universitätsbibliothek Leipzig wurden digitalisiert und anschließend zusammengeführt.
Es steht nun eine ganzheitliche Möglichkeit zur Verfügung, in allen Datenbeständen zeitgleich zu forschen, ohne dabei alle relevanten Standorte persönlich besuchen zu müssen. Das Beispiel des Codex Sinaiticus hat für mich auch deswegen einen besonderen Stellenwert, da durch die digitale Präsenz es zwar vielleicht wünschenswert, jedoch nicht mehr notwendig ist, die Originale einzusehen. Insbesondere mit Blick auf Sicherheits- und Reisewarnungen des Deutschen Auswärtigen Amtes wird es den Forschern zunehmend erschwert, in bestimmte Gebiete zu reisen, um dort an den Originalen zu forschen. Durch die digitale Darstellung und Speicherung von kulturellem Erbe werden derartige Fragen zunehmend keine Rolle mehr spielen.
Wie nachhaltig sind digitale Korpora, wie nachhaltig die angewandten Verfahren?
Reinhard Förtsch, IT-Direktor des Deutschen Archäologischen Institutes, hat bzgl. der Daten einmal in einem Interview gesagt, dass XML die DNA für Daten sei. Dem ist nicht viel hinzuzufügen. Im gleichen Interview meinte er auch, dass möglichst viele Informationen nicht in den Anwendungen »stecken« sollten, sondern in den Daten. Auch dem kann ich nur voll zustimmen. Die Geisteswissenschaften und die Informatik befinden sich in einer unterschiedlichen Entwicklungsgeschwindigkeit. In der IT haben wir Technologie-Generationen, die oftmals nur fünf bis sieben Jahre umfassen. Für die Digital Humanities bedeutet dies, dass einmal erlerntes Wissen bzw. erworbene Fähigkeiten vielleicht in den typischen 3-Jahresprojekten dem aktuellen IT-Forschungsstand entsprechen, aber über den Projektförderzeitraum mittelfristig eher nicht mehr gültig sind. In diesem Kontext macht dann auch das obige Zitat von Reinhard Förtsch wieder Sinn. Wenn so viel Information wie möglich in den Daten steckt, dann ist es auch einfacher, die Anwendungen und Verfahren durch modernere auszutauschen, ohne einen Informationsverlust hinnehmen zu müssen. Kurz: Für die Textdaten sehe ich eine gute Nachhaltigkeit gegeben. Bei den Verfahren bin ich eher pessimistisch.
Welche Entwicklungen werden die Digital Humanities Ihrer Meinung in Zukunft unterliegen?
Die Entwicklung der Digital Humanities ist für mich schwierig einzuschätzen, da diese aus meiner Sicht in Deutschland in erster Linie durch politische und nicht durch inhaltliche Faktoren beeinflusst werden. Im Wesentlichen gibt es zwei grundlegende Standpunkte mit mehreren unterschiedlichen Facetten.
Vom ersten Standpunkt aus gesehen sind die Digital Humanities eine Hilfswissenschaft der Geisteswissenschaften und gehören in die entsprechenden geisteswissenschaftlichen Fakultäten. Die zweite Sichtweise versucht die Digital Humanities als eigene Disziplin zu verstehen.
Welche Richtung sie einschlagen werden, ist schwer vorhersehbar und wird sicherlich auch von Förderrichtlinien abhängig sein.
Was kann dem Nachwuchs empfohlen werden?
Die Stellenausschreibungen auf dem Jobmarkt für die Digital Humanities fragen zunehmend nach digitalen Fähigkeiten und Kompetenzen. Ich erwarte daher einen starken Zuwachs an Ausbildungsprogrammen nicht nur für Studierende in Bachelor- und Master-Programmen der Digital Humanities, sondern auch für etablierte Wissenschaftler, Post-docs und Promotionsstudierende. Vermutlich werden die in Stellenausschreibungen immer stärker geforderten digitalen Fähigkeiten und Kompetenzen über Jobs entscheiden und weniger die geisteswissenschaftliche Ausbildung. Mein Tipp speziell an die Studierenden ist daher, sich die Ausbildungsprogramme sehr genau anzusehen und genau mit Stellenbeschreibungen auf dem Jobmarkt und deren Entwicklungen zu vergleichen, um dann eine qualifizierte Entscheidung für ein Programm zu machen.
In welcher Weise werden sich die Digital Humanities an den Universitäten etablieren?
Universitäten sind in fachspzeifischen Fakultäten und Institute gegliedert. Damit sich die Digital Humanities an Universitäten etablieren können, halte ich es für notwenig, dass Strukturen, wie beispielsweise eigene Institute, für ein interdisziplinäres Zusammenarbeiten geschaffen werden. DH-Aktivitäten werden meistens von einer Fakultät aus koordiniert, wodurch eine ehrliche Interdisziplinarität an einer Universität nicht wirklich zustande kommen kann. Bei den bisherigen universitäten Strukturen halte ich das Konzept für ein Institut am vielversprechendsten. Da es aktuell sehr unwahrscheinlich ist, dass dies geschieht, gehen meine Erwartungen dahin, dass bestimmte Themenbereiche zukünftig entweder in den Geisteswissenschaften oder der Informatik angesiedelt sein werden. So bleibt zu erwarten, dass Themen wie »Digital Scholarly Editing«4 oder Toolkritik (die kritische Evaluation von Programmen hinsichtlich ihrer funktionellen Zielsetzung und Effektivität) eher an den geisteswissenschaftlichen Fakultäten thematisiert werden, während sich Themen wie »Digitale Transformation« oder »Automatische Sprachverarbeitung« auf historischen Daten in der Informatik ansiedeln werden. Dies mag sich vielleicht negativ und schwarzmalerisch anhören, ist aber eigentlich genau das Gegenteil. Mitte der 1990er-Jahre war der Bereich Multimedia eines der am meisten diskutierten Themen – ähnlich wie es die Digital Humanities heute darstellen. Im Laufe der Zeit ist das Wort »Multimedia« sukzessive aus dem Sprachgebrauch verschwunden, auch wenn wir heutzutage in einer Multimedia-Welt leben, von der man Mitte der 1990er wahrscheinlich bestenfalls geträumt hat. Anstelle der überladenen Terminologie Multimedia stehen heute die Teilaspekte prominent im Sprachgebrauch. Ich wäre nicht überrascht, wenn wir in zehn Jahren nicht mehr von den Digital Humanities als solche reden, sondern die Teilbereiche im Vordergrund stehen.
Dr. J. Berenike Herrmann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Deutsche Philologie der Universität Göttingen und Postdoc-Mitglied am GCDH und Courant Forschungszentrum Textstrukturen. Sie erhielt in Anerkennung ihrer Arbeiten auf dem Gebiet der korpusgestützten Metaphernforschung den Preis für Geisteswissenschaften der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Frau Herrmann analysiert mit Hilfe digitaler Methoden narrative Texte der literarischen Moderne auf stilistische Phänomene, wie zum Beispiel Metaphern oder auch Modalpartikel. Dabei integriert sie auch psycholinguistische Ansätze, um literarische Texte hinsichtlich ihres Effektpotenzials auf die Lesenden empirisch zu untersuchen. Weiterhin leistet sie wichtige Grundlagenforschung zur Methodologie der Digital Humanities, mit Rücksicht auf reflektive Adäquatheit des Faches.
Frau Herrmann, welchen konkreten Fragestellungen gehen Sie in Ihrer Arbeitsstelle nach?
Wir, d.h. Prof. Gerhard Lauer und ich, zusammen mit einem Göttinger Team und teilweise auch in Kollaboration mit ForscherInnen aus dem In- und Ausland, arbeiten hier mit einem besonderen methodologischen Werkzeugkasten, in dem neben hermeneutischen Verfahren und Begriffsklärungen auch empirisch validierte Methoden der quantitativen Stilistik und des Textmining stecken. Ganz konkret beantworten wir mit diesem Ansatz Fragen nach dem Stil und Wirkungspotenzial von Texten der literarischen Moderne. Dazu untersuchen wir größere Textstichproben5 auf solche Merkmale der »elocutio«, wie Satzlänge oder Wortart, die für die Maschine lesbar sind – und die mit einiger Wahrscheinlichkeit sinnvolle Unterscheidungen zulassen.
Welchen Stellenwert in den Geisteswissenschaften haben Digital Humanities im Moment?
Ich habe in den letzten sechs Jahren, seit ich aus den Niederlanden nach Deutschland zurückgekommen bin, eine geradezu epidemische Entwicklung beobachtet. Die Digitalen Geisteswissenschaften wachsen von Jahr zu Jahr – so hat die Internationale Fachtagung 2016 in Krakau schon 900 TeilnehmerInnen gesehen, wo noch vor wenigen Jahren um die 200 zu verzeichnen waren. Deutsche WissenschaftlerInnen sind hier im internationalen Vergleich besonders zahlreich. Dies liegt nicht zuletzt an »top-down«-Fördermaßnahmen auf Bundes- oder Länderebene, wie auch der Einrichtung von Digital Humanities-Professuren, aber auch an einer »bottom-up«-Bewegung, aus den Seminaren und Institutionen heraus, getrieben durch das Interesse von Einzelnen und kleiner Gruppen. Immer mehr Studierende nehmen an unseren Digital Humanities-Veranstaltungen teil, wie zum Beispiel am Seminar »TextLab«, in dem wir einen experimentellen Ansatz der Gamification (siehe Artikel Gamification – spielend leben von Myrin Sumner) zum alten narratologischen Thema der Redewiedergabe verfolgt haben.6 Und immer mehr KollegInnen beginnen digitale Forschungsprojekte ganz unterschiedlicher Art.
Wie nachhaltig ist Ihrer Meinung die digitale Erfassung und Erschließung von Texten?
Hier gibt es sehr gute Initiativen zur Langzeitarchivierung, gerade auch in Deutschland, aber auch auf internationaler Ebene. Eine besondere Rolle spielt natürlich das Internet mit den dort zugänglichen Repositorien wie dem Vorreiter gutenberg.org und den Möglichkeiten, das dort enthaltene Wissen auch nachhaltig zu sichern. Gleichzeitig ist traditionell immer noch eine Tendenz zu beobachten, selbst zu digitalisieren ohne die Digitalisate weiteren potenziell Interessierten zugänglich zu machen. Hier ist natürlich das geltende (und kommende) Urheberrecht ein ganz wichtiger Faktor, der leider dem Aufbau von leicht zugänglichen und langfristig angelegten Repositorien manchmal ganze Gebirgsketten in den Weg legt. Ein anderer Faktor ist ein finanzieller: Langfristige Lösungen brauchen auch monetäre Unterstützung.
Welche Ziele verfolgen die Digital Humanities?
Die Digitalen Geisteswissenschaften sind im Grunde so heterogen wie die Geisteswissenschaften im Ganzen – hier gibt es ganz unterschiedliche Traditionen und Bestrebungen, Fragen und Herangehensweisen. Ich würde mich aber freuen, wenn das Feld, das ja durch einen Pioniergeist geprägt ist, ganz generell einen bewussten und reflektierten Umgang mit seinen Grundaxiomen und Methoden pflegt. Hier geht es darum, das eigene hermeneutische Erbe ernst zu nehmen – und auf einer neuen Stufe weiterzuentwickeln. Verbindliche Gütekriterien für die Forschung sind hierbei sehr wichtig. Es geht aber genauso darum, die digitalen, gerade auch die statistisch-quantifizierenden Methoden in Anschlag zu bringen, und dabei nicht zu vergessen, sie auf Herz und Nieren zu prüfen: Welche epistemologischen Modelle stecken in bestimmten Algorithmen? Welche statistischen Modelle sind geeignet für bestimmte Fragestellungen? Welche Grundannahmen haben sie? Dies kann kein/e GeisteswissenschaftlerIn allein, sondern da braucht es eine intensive Interaktion mit StatistikerInnen, InformatikerInnen und anderen datenwissenschaftlich Ausgebildeten.
Was möchte gerade der Standort Göttingen leisten?
Meines Erachtens ist der Boden für diese Interaktionen in Göttingen besonders fruchtbar, wie sich nicht zuletzt an der Vielzahl an Projekten, Arbeitsgruppen und Initiativen am Campus zeigt, und bei denen die SUB und GWDG wichtige Partner sind. Auch das Präsidium fördert den Digital Humanities-Standort Göttingen, – zum Beispiel durch die Einrichtung der Professur Digital Humanities und das Göttingen Center for Digital Humanities, um nur zwei Leuchttürme zu nennen – zuletzt durch das Campuslabor Digitalisierung, bei dem wir derzeit mit zwei Projekten dabei sind, und das sich unter Leitung von Prof. Caroline Sporleder als Ansprechpartner für alle Digital Humanities-Interessierten auf dem Campus versteht. Ein dritter Leuchtturm ist sicherlich das in Göttingen angesiedelte und extrem rührige Projekt »eTRAP«. Göttingen hat in Bezug auf die Textwissenschaften eine ausgeprägte Tradition der philologischen Genauigkeit, die sich gleichzeitig nicht scheut, so mancher heiligen Kuh des Fachs zu Leibe zu rücken und innovativ zu denken. So gab es mit dem Projekt literarischesleben.uni-goettingen.de in Zusammenarbeit mit der GWDG schon sehr früh (im Jahr 2000) ein Digital Humanities-Projekt am Deutschen Seminar. Eine andere Tradition direkt am Deutschen Seminar ist die einer Quantitativen Linguistik/Stilistik, die in Nachfolge Fucks’ und vordem des Russischen Formalismus geforscht hat.
Der digitale Boden ist also fruchtbar am Göttinger Campus, wo Initiativen wie das Campuslabor Digitalisierung gerade dabei sind, sich zu entfalten und sicherlich zu einem besonders spannenden Digital Humanities-Standort erblühen werden.
Herr Prof. Dr. Lauer folgt dem Ruf auf den neu entstandenen Lehrstuhl für Digital Humanities an der Universität Basel. Frau Dr. J. Berenike Herrmann hat im August ebenfalls eine Anstellung am DHLab der Universität Basel angetreten. Herr Dr. Marco Büchler ist seit Juli als Leiter der Abteilung Digitale historische Forschung am Leibnitz-Institut für Europäische Geschichte in Mainz tätig. Es bleibt abzuwarten, wie die Universität den Verlust an wissenschaftlichem Know-how in Forschung und Lehre zu ersetzen gedenkt.