Der Briefwechsel zwischen Lou Andreas-Salomé und Anna Freud gewährt Einblick in das Leben und die Gedanken zweier Frauen, die die Psychoanalyse entscheidend geprägt haben. Caren Schwenke über ein eindringliches Lesungsformat im Deutschen Theater.
Von Caren Schwenke
Das Interesse an der außergewöhnlichen Psychoanalytikerin und Schriftstellerin Lou Andreas-Salomé war nach dem gleichnamigen Kammerspiel so groß, dass eine Lesung aus dem Briefwechsel zwischen Lou und ihrer Brieffreundin Anna Freud in das Programm des DTs aufgenommen wurde. Mit Witz und viel Charme lasen am 18.7.2014 die Göttinger Psychoanalytikerin Dr. Susanne Nunnendorf und die Literaturwissenschaftlerin Dr. Heidi Gidion (Vandenhoeck&Ruprecht) aus den insgesamt 419 Skripten der 2001 im Göttinger Wallstein erschienenen Briefe, vor. Die unter dem Titel …als käm ich heim zu Vater und Schwester veröffentlichten Texte stammen aus dem Zeitraum von 1919 bis 1937 und sind nicht nur ein interessanter Nachlass zweier grandes dames der Psychoanalytiker-Szene, sondern dokumentieren auch schmerzliche Erinnerungen und historische Ereignisse, wie die öffentliche Verbrennung Sigmund Freuds Schriften durch die Nationalsozialisten. Die Briefe fanden ihren Weg von Lou, die sie dem Arzt und ihrem Freund Ernst Pfeiffer hinterließ, über dessen Schwester Dorothee Pfeiffer an die Öffentlichkeit.
Gleich zu Anfang der Lesung stellte die Psychoanalytikerin Dr. Inge Weber, die im Verlauf der Lesung für die Kommentare zuständig war, die Frage, ob eine solche Veranstaltung überhaupt sinnvoll sei – »ja, das Publikum ist die Antwort auf diese Frage«. Tatsächlich lauschte das vornehmlich weibliche Publikum mit großen Interesse den oft frech-humorvollen Zeilen Lous an ihre jüngere Brieffreundin Anna. Da geht es um Gewaltphantasien, »erotisierte Nasen« und blühende Apfelbäume. Man fragt sich, wie viele ZuhörerInnen aus dem Auditorium wohl tatsächlich als PsychoanalytikerInnen tätig sind, wer nur kommt, um von potenziellen KollegInnen gesehen zu werden oder wer schlicht mehr erfahren möchte, über die Frau, die meinte, dass die Liebe häufig zu ernst genommen wird.
Laienhafte AuthentizitätDie Lesung findet, wie das Kammerspiel, in dem kleinen Studio statt. Ein minimalistisches, dunkles Arrangement von drei schwarzen Tischen, punktuell ausgeleuchtet, lässt die Stimmen der Vorleserinnen und die Reflexionen von Anna Freud und Lou Andreas-Salomé ins Zentrum rücken. Etwas abgenutzte, ebenfalls schwarze Schreibtischlampen tauchen die Gesichter der drei Frauen in ein grelles, aber noch warmes Licht. So geht keine Mimik, kein Stocken und kein Schmunzeln verloren. Das laienhafte Vorlesen der Psychoanalytikerin und der Literaturwissenschaftlerin erzeugt eine Authentizität, die wohl keine professionelle Schauspielerin entstehen lassen könnte. Die »Stimme der Lou« ist nicht mehr ganz voll und stolpert gelegentlich über die ein oder andere Silbe. Die Interpretin von Anna Freud schafft es, den noch leicht naiv-neugierigen Blick mit der unvoreingenommenen Gelassenheit einer Mittezwanzigjährigen zu verbinden. Vielleicht hätte eine etwas jüngere Frau Anna Freud noch authentischer interpretieren können – jene war knapp 30 Jahre jünger als Lou – doch achtet man als Zuhörerin eher auf die Stimmen, deren Klang und auf die Bilder, die beim Zuhören entstehen, als auf unerhebliche Äußerlichkeiten.
Unmittelbarkeit vs. literarische ZuspitzungInge Weber macht auf die mediale Wichtigkeit des Briefes als Kommunikationsmittel im 19. und 20. Jahrhundert aufmerksam. Briefe seien nicht nur eine papierene Form der Informationsübermittlung, sondern könnten wahrscheinlich als die unmittelbarsten adressierten schriftlichen Zeugnisse überhaupt gelten. Private Briefe hätten etwas diaryhaftes, enthüllten und verhüllten gleichzeitig intimste Gedanken in einen Umschlag. So vertraute Anna Lou in ihren Skripten beispielsweise ihre erotisch-nächtlichen Träume über Frauen an und konnte durch das Losschreiben eine kathartische Läuterung erfahren. Der Unterschied zu dem Theaterstück ist demnach vor allem die Unmittelbarkeit des tatsächlich Gesagten. Lou Andreas-Salomé wird nun nicht, wie in dem Kammerspiel, als Trophäe männlicher Intellektueller wie Nietzsche oder Rilke inszeniert, sondern erhält eine reale Stimme, die die »literarische Erfindung« verdrängt.
1000 Küsse hin und herWie man den Worten Webers entnehmen kann, war Lou diejenige, die den Kontakt zu Freuds Tochter begann. Sie war neugierig auf die jüngere Frau, die sich wie sie für die Psychoanalyse interessierte. Anna hatte später vor allem in dem Bereich der Kinderpsychoanalyse geforscht und verfasste einige populäre Schriften. Doch was die beiden Frauen vordergründig verband, war nicht nur das Parlieren über wissenschaftliche Erkenntnisse – schnell pflegten sie einen freundschaftlichen, engen Kontakt und tauschten sich auch über Alltägliches aus: So fragte Anna, die als »Mädchen der époque« nähte und strickte, nach Lous Körpermaße, um für ihr Vorbild ein Kleidungsstück anzufertigen. Dabei stellte Lou in einer für die Zeit erstaunlich familiären Diktion fest, dass ihr linker Arm geradezu »affenartig lang« sei, obwohl sich der menschliche Arm doch eigentlich evolutionär hätte verkürzen müssen. Vielleicht schon etwas provozierend schließt Lou den ersten Brief an Anna mit den Worten: »Dich küsst auf den Mund, Lou«. Es klingt, als würde sie einen Anspruch auf die noch Unbekannte erheben. Sowieso ist ihre Façon zu schreiben oftmals frech, als würde sie die Dinge immer direkt angehen und sie geradeheraus wieder so `ausspucken` wie es ihr passt.
Die Lesung ermöglichte es den ZuhörerInnen nicht nur in die Gedankenwelt zweier extraordinärer Frauen einzutauchen, sondern gab gleichzeitig kleine Einblicke in das Zeitgeschehen um 1920 bis 1940 und die Entwicklung der Psychoanalyse. Rundum ein gelungenes Lesungsformat: als Appendix für das Theaterstück, für Fachkundige der Psychoanalyse oder Fans von starken Frauen.