Seelenverwandtschaft – so stellen sich viele Menschen wahre Liebe vor. Alain de Botton glaubt nicht daran. Der Lauf der Liebe begleitet ein Paar durch verschiedene Phasen des Lebens und erklärt, was wahre Liebe wirklich ausmacht. Selbsterkenntnis nicht ausgeschlossen.
Von Regina Seibel
Der Philosoph Alain de Botton beschäftigt sich in seinem Roman Der Lauf der Liebe mit einer uns allen bekannten Frage: Was ist eigentlich Liebe? Seine Antwort auf diese Frage mag dem*der einen oder anderen ziemlich ernüchternd erscheinen. Denn nur wenig hat de Bottons Verständnis von Liebe mit dem romantischen Ideal zu tun, das uns seit Jahren massenmedial vermittelt wird. Intuitives Verstehen, uneingeschränkte Akzeptanz des*der Partner*in, Seelenverwandtschaft – das alles zeichnet in den Köpfen vieler wahre Liebe aus. Alain de Botton befasst sich mit all diesen Aspekten und stellt fest: Nichts davon hat mit seiner Definition von Liebe zu tun. Diese Werte bekämen wir zwar seit dem Bestehen der Gefühlsehe als die einzig richtigen vermittelt, der Realität entsprechen sie jedoch nicht. Zu verrückt und individuell ist jede*r einzelne, als dass er*sie jemals perfekt zu jemandem passen könnte. Kein Wunder also, dass viele Partnerschaften und Ehen nicht lange halten. Am Beispiel des Paares Rabih und Kirsten vermittelt de Botton, was genau er mit seinem Standpunkt meint. Die beiden sind über ein Jahrzehnt verheiratet, bis sie erkennen, was wahre Liebe eigentlich ausmacht.
Rabih und Kirsten sind bereit für die Ehe, weil ihnen sehr deutlich bewusst ist, dass sie nicht zusammenpassen. […] Der richtige Partner zeichnet sich grundsätzlich nicht etwa durch perfekte Übereinstimmung aus, sondern vielmehr durch die Fähigkeit, Unterschiede zu tolerieren.
Doch die ersten Kapitel gleichen einer typischen Liebesgeschichte. Rabih und Kirsten verlieben sich schon beim ersten Treffen ineinander. Die beiden sind geleitet von den Hoffnungen, optimal durch den Partner ergänzt zu werden und das wahre Ich unverfälscht zeigen zu können. Für den Philosophen ist diese Verliebtheit jedoch nicht der Beginn der Liebesgeschichte. Sie beginne danach, nämlich mit dem Versprechen, ein Leben lang zusammenzuhalten. Der Protagonist und die Protagonistin hatten es nicht immer leicht in ihrem Leben: Rabih verliert mit 12 Jahren seine Mutter und wächst danach bei Vater und Stiefmutter auf. Mit 31 lebt er in Edinburgh, wo er mehr schlecht als recht seinen Architektenberuf ausübt. Kirsten lernt er auf der Arbeit kennen. Noch als diese ein junges Mädchen war, verließ ihr Vater die Familie und kehrte nicht zurück.
Nach der Heirat zeigen sich beim jungen Paar die ersten Probleme. Die beiden streiten über sogenannte »Dummheiten«: Die Auswahl der richtigen IKEA-Gläser führt zu Wutanfällen, die Diskussion, ob bei offenem oder geschlossenem Fenster geschlafen wird, endet mit Beleidigungen. Die beiden sind frustriert: Haben sie etwa die*den Falsche*n geheiratet? Wie sollen sie das ihr Leben lang aushalten? Verblendet von den romantischen Vorstellungen wahrer Liebe, glaubt das Paar, dass ihre Ehe nicht normal ist. Viele Jahre später lernen die beiden in der Paartherapie, dass sie es eben doch ist. In der Zwischenzeit hat das Paar zwei Kinder bekommen, die anfängliche Leidenschaft ist verloren, sie haben mit finanziellen Sorgen gekämpft und sich immer wieder gestritten.
Liebe muss erlernt werdenDer ganz normale Beziehungswahnsinn wird immer wieder durch de Bottons kursiv gedruckte Erklärungen unterbrochen, in denen er den vorherrschenden Konflikt oder die beschriebene Situation analysiert und erklärt: Wenn der*die Partner*in beleidigt oder unerklärt wütend ist, ist Mitgefühl und Verständnis angebracht, genauso als wäre er*sie ein Kind. Boshaftigkeit sei nicht immer gegen den*die Partner*in persönlich gerichtet. Einige der Verhaltensweisen, die das Beispielpaar an den Tag legt, erklärt de Botton mit dem traumatischen Verlust eines Elternteils in der Kindheit und den daraus resultierenden Folgen für die Persönlichkeit. Dies mag sicherlich vereinfacht sein, wirkt im Roman jedoch schlüssig. Jeder Mensch habe Schwächen. Es sei immer möglich, voneinander zu lernen. Sich immerzu zu bemühen und das eigene Wohl zurückzustellen – das versteht der Philosoph unter wahrer Liebe. Sie müsse schmerzlich erlernt werden und sei nicht einfach von alleine da. Das sei nicht immer leicht.
[D]ie Schwierigkeiten des Ehelebens irgendwie mehr oder weniger angemessen durchzustehen – dies ist der wahre Mut, dies ist ein Heldenmut ganz eigener Art.
Der Höhepunkt ist erreicht, als Rabih auf einer Dienstreise seine Frau betrügt. Nach langem Überlegen entscheidet er sich, seinen Seitensprung für sich zu behalten. Dies unterstützt de Botton, auch wenn er Ehebruch an sich als Fehler ansieht. Die Beziehung würde durch das Geständnis zerstört werden. Wer wirklich liebt, dürfe nicht immer offen sein, hin und wieder müssten Geheimnisse bewahrt werden. Rabih müsse außerdem akzeptieren, dass er nicht alles in seinem Leben haben kann, so frustrierend das auch ist.
Falsche IdealeJemanden zu heiraten, selbst den noch so passenden Menschen, heißt letztlich zu wählen, für welche Kombination von Leiden wir uns aufopfern möchten.
Zugegeben, der recht pessimistische Ton des Buches wirft auf den ersten Blick nicht den besten Blick auf ein Leben als Paar und im Bund der Ehe. Nach dem ersten Lesen kann sich Empörung oder auch Enttäuschung
Darüber hinweg tröstet nur der Schluss: Rabih und Kirsten stehen auch nach 14 Jahren immer noch Seite an Seite, egal wie schwer es gewesen sein mag. Die Liebe ist da, um die beiden vor Einsamkeit zu beschützen. Dafür nehmen sie gelegentliche Streitereien und Probleme gerne in Kauf. Die Lektüre lenkt den Fokus nicht auf all das, was im Leben des Paars schiefgelaufen ist, sondern vielmehr auf die Nachricht dahinter: Zusammenbleiben ist eine verrückte Leistung, aber sie ist möglich.
Ein neuer Blick auf die LiebeGeschickt bezeichnet de Botton diese Geschichte als Roman und führt uns damit in die Irre. Wir erwarten eine aufregende Geschichte, bestehend aus furchtbaren Katastrophen und unvergesslichen Glücksmomenten. Tatsächlich aber präsentiert uns der Philosoph eine langatmige Schilderung des Alltäglichen, die uns allen mehr oder weniger bekannt vorkommen dürfte. Passend dazu ist der Schreibstil schlicht, sachlich und wenig mitreißend. Das mag langweilig erscheinen, schließlich verspricht ein Roman normalerweise mehr. Doch die Geschichte von Rabih und Kirsten spiegelt das wahre Leben wider, und das eigene Leben dürften die meisten keineswegs als langweilig empfinden. De Botton führt uns die eigene hohe Erwartungshaltung vor Augen. Das Alltägliche ist es wert, aufgeschrieben zu werden und deshalb kann der Autor diese Geschichte einen Roman nennen. Das Leben und die Liebe sind wertvoll, auch wenn sie nicht dem Vorbild in einem Roman gleichen. Den Glauben an die wahre Liebe nimmt de Botton mit diesem Roman nicht. Er vermittelt bloß einen neuen Blick auf sie.
Der Aufbau des Romans und die Denkanstöße des Autors entsprechen einem Ratgeber. Mit Bezug auf einen konkreten Fall zeigt de Botton Fehlverhalten und Missstände, die zutiefst menschlich sind. Es fällt dadurch leicht, die Begebenheiten im Buch auf das eigene Leben zu übertragen, selbst wenn wir uns mit einem*r Partner*in noch nie über IKEA-Gläser gestritten haben. Die Aussage ist klar verständlich: Niemand ist den Zufällen des Lebens vollkommen ausgeliefert. Eine gute und langjährige Partnerschaft ist – mit etwas Opferbereitschaft und dem Ändern von bestimmten Verhaltensweisen – möglich. De Botton selbst ist seit über 15 Jahren verheiratet und hat somit sicher einiges an eigenen Erfahrungen miteinbringen können.