Mit einer Sammlung von drei Stücken des Schweizer Schriftstellers Lukas Bärfuss möchte der Wallstein Verlag die Tradition des Dramenlesens wiederbeleben – und beweist dabei, dass gute Theatertexte auch abseits der Bühne zu begeistern wissen.
Von Julian Ingelmann
Wer auf Amazon nach Theatertexten sucht, hat es nicht leicht. Im Gegensatz zu Comicfans und Krimifreunden können Drameninteressierte nicht einfach auf die entsprechende Kategorie klicken, um eine Liste der verfügbaren Bühnenstücke angezeigt zu bekommen. Der Onlinehändler verzeichnet Dramen nämlich nicht als eigene Gattung, sondern subsumiert sie unter dem Oberbegriff »Romane«. Wo sich der Literaturwissenschaftler kopfschüttelnd abwendet, beobachtet der Ökonom mit Schulterzucken. Aus Sicht des Buchhandels sind Dramen völlig unbedeutend – abgesehen von der handvoll kanonisierter Klassiker, die schon Generationen von Schulklassen zur Verzweiflung trieben. Umso höher muss daher der Mut des Wallstein-Verlags bewertet werden, der im Jahr 2005 drei Stücke des Schweizer Schriftstellers Lukas Bärfuss als Druckfassung veröffentlichte. Das Risiko wurde belohnt: 2014 ging die Sammlung aus Meienbergs Tod, Die sexuellen Neurosen unserer Eltern und Der Bus bereits in die vierte Auflage.
Lukas Bärfuss, einer der meistgespielten deutschsprachigen Dramatiker der Gegenwart, ist in Göttingen spätestens seit Frühjahr ein Begriff, als das Deutsche Theater seinen Parzival inszenierte; die restliche Literaturwelt kennt ihn vor allem durch seinen Roman Koala, mit dem er 2014 den Schweizer Buchpreis gewann. In den vorliegenden Stücken, die zwischen 2001 und 2005 uraufgeführt wurden, erweist er sich als bühnennaher Dramatiker mit Sinn für menschliche Abgründe. In schnellen Dialogen seziert er das dysfunktionale Zusammenleben sozialer Gruppierungen: Was passiert, wenn jemand aus dem festen Gefüge eines Schauspielensembles ausbricht? Wie reagieren Eltern, wenn sie die Kontrolle über ihre behinderte Tochter verlieren? Und wie verhält sich ein zusammengewürfelter Haufen von Buspassagieren, wenn sich einer von ihnen als Schwarzfahrer entpuppt? Diese Fragen möchte Bärfuss beantworten. Und so simpel die Prämissen seiner Stücke auch klingen mögen – die Geschehnisse, die er daraus strickt, sind umso verstörender.
2015 feiert das von Thorsten Ahrend verantwortete Literaturprogramm des Wallstein Verlags sein 10-jähriges Jubiläum. Das belletristische Programm steht für anspruchsvolle und preisgekrönte Literatur aus den Bereichen Prosa, Lyrik, Dramatik und Essayistik. Ständig wird es durch zeitgenössische Autorinnen und Autoren erweitert: Bücher von Lukas Bärfuss, Daniela Danz, Ralph Dutli, Dorothea Grünzweig, Maja Haderlap, Harald Hartung, Dea Loher, Sabine Peters, Teresa Präauer, Patrick Roth, Hendrik Rost, Gregor Sander, Ron Segal, Kai Weyand und Matthias Zschokke u.v.m. setzen deutliche Akzente auf die Gegenwartsliteratur. Im August und September gratuliert Litlog, indem es seinen Fokus auf aufgewählte Bücher des Literaturprogramms legt.
Seit jeher ist das Theater ein Ort der Diskussion über das Theater. Das bekannteste Beispiel für die dramatische Selbstreflexion ist wohl Ludwig Tiecks Komödie Der gestiefelte Kater, die nicht nur die bekannte Märchengeschichte erzählt, sondern auch die Bedeutung der Schauspielkunst für die Gesellschaft diskutiert. In diese Tradition stellt sich Lukas Bärfuss mit seiner Groteske Meienbergs Tod, welche die Wallstein-Sammlung eröffnet. Bärfuss verwebt hier zwei Handlungsstränge miteinander: Der Text beginnt als dramatisierte Biographie des Schweizer Journalisten Niklaus Meienberg, der von einem Chor vorgestellt und auf dem Weg zu seiner ersten Reportage gezeigt wird. Doch dann bricht Meienberg-Darsteller Daniel plötzlich mit seiner Rolle: »Schluß! Aus! Genug Didaktik! Soll ein anderer diesen Meienberg spielen. Oft genug bin ich in dieser Rolle verschwunden. Es ist unergiebig. Frustrierend. Zermürbend. Und zudem schlecht bezahlt.«
Daniels Verweigerung entfacht eine ausgiebige Debatte im Ensemble. Die Schauspieler verhandeln, wie ein künstlerisch anspruchsvolles Theater in der Eventkultur überleben kann und wo sich die Schauspielkunst im Spannungsfeld zwischen Bildungsauftrag und massenwirksamem Bühnenspektakel positionieren sollte. Während sich Daniels Kollegen vor allem als Dienstleister des Publikums und damit als ausführende Handwerker verstehen, verfolgt er selbst ein höheres Ideal. Er möchte aufrütteln und schockieren, die entspannte Haltung der Zuschauer aufbrechen und das Theater als kritische Stimme im gesellschaftlichen Diskurs (re-)etablieren. Was als verbaler Konflikt zwischen Kollegen beginnt, entwickelt sich zur gewalttätigen Auseinandersetzung. Schnell überlagern private Zwistigkeiten die professionelle Debatte. Die sieben Figuren des Stücks verwickeln sich immer weiter in einem komplexen Beziehungsnetz, das für den Leser nicht immer überschaubar bleibt. Zunehmend greift der Streit hinter den Kulissen auf das Bühnengeschehen über. So wird etwa ein geplanter Dialog zwischen Meienberg und dem chilenischen Dichter Pablo Neruda zum Monolog, weil Hauptdarsteller Daniel nach einer Prügelei verletzt am Boden liegt. In Szenen wie dieser erweist Bärfuss sein Talent als – freilich zynischer – Komödienautor.
Im weiteren Verlauf der Handlung verschmelzen die Welten auf und hinter der Bühne zunehmend miteinander, bis sie im fatalen Finale des Dramas nicht mehr voneinander zu unterscheiden sind. Im Tod vereint sich Daniel ein letztes Mal mit seiner Figur – und erreicht damit schließlich sein Ziel, die sakrosankten Regeln des Theaters aufzubrechen, zu schockieren und aufzurütteln: »Die Spießer denken, es ist gefahrlos, ins Theater zu gehen. Daß sie zugucken können, wie wir uns hier oben auskotzen, ausvögeln und ausscheißen, und sie haben dabei eine echt klasse Zeit, einen wirklich tollen Abend, und hinterher gehen sie ficken oder lassen sich ficken und danach hauchen sie ›Das war ein toller Abend, Schatz‹ oder ›Holst du mir noch ein Glas Wein‹ oder ›Gute Nacht, Liebes‹, und dann löschen sie das Licht und freuen sich im Einschlafen auf ein tolles Frühstück mit Käse und Schinken, Butterzopf, Gipfeli, Orangensaft.« Was im Stück als trotziger Alleingang eines frustrierten Schauspielers daherkommt, scheint Bärfuss als sein poetologisches Programm zu verstehen. Er möchte seinen Zuschauern keinen unterhaltsamen und entspannten Abend bereiten, sondern in gesellschaftlichen Wunden bohren. Seine Stücke sollen Tabus entlarven, verborgene Perversionen offenlegen und soziale Zwänge vorführen. Das gelingt ihm besonders im zweiten Stück des Bands, Die sexuellen Neurosen unserer Eltern, ganz ausgezeichnet.
Behindertensexualität zwischen Tabu und NeuroseDie sexuellen Neurosen unserer Eltern erzählt von Dora, einer geistig behinderten Jugendlichen, die seit Jahren unter dem Einfluss sedierender Medikamente steht. Das Stück beginnt, als Doras Mutter entscheidet, die Präparate versuchshalber abzusetzen. Zunächst zeigt die abgebrochene Behandlung Erfolg: Dora beginnt zu sprechen und lernt lesen, erweist sich als genaue Beobachterin ihrer Umwelt. Doch schnell fühlen sich die Eltern von der Entwicklung ihrer Tochter überfordert. Sie haben sich so gut mit ihrer komatösen Tochter arrangiert, dass sie mit der hereinbrechenden Normalität nun völlig überfordert sind. Hilflos reagieren sie auf Dorase Pubertät und erwachenden Sexualtrieb. Auch der Arzt, ein wichtiger Vertrauter der Familie, ist keine große Hilfe: Auf sechs Seiten stottert er sich durch ein unbeholfenes Aufklärungsgespräch, weil ihm seine eigene Verklemmtheit im Wege steht – und scheitert damit. Dora wird schwanger und zur Abtreibung gezwungen – ein Vorgang, der nur wenige Textzeilen in Anspruch nimmt. So etwas passt eben nicht ins Weltbild der neurotischen Elterngeneration.
Mit Dora zeichnet Bärfuss eine komplexe Figur, die mal als naives Kind und mal als selbstbewusste Frau mit starkem Sexualtrieb daherkommt. Ihre Weltsicht changiert zwischen brutaler Ehrlichkeit, trockener Analyse und totaler Ahnungslosigkeit. Ihr Charakter ist als tragikomischer Gegenpol zur spießbürgerlichen Pseudoidylle ihrer Eltern konzipiert. Besonders brisant ist Doras Beziehung zu ihrem Partner, der im Personenverzeichnis nur als »der feine Herr« bezeichnet wird. Der Text verschleiert die Motive dieser Figur und lässt den Leser mit unbehaglichen Fragen zurück: Nutzt er Doras Unwissenheit schamlos aus, um seine eigenen Triebe zu befriedigen? Vergewaltigt er das Mädchen gar? Oder erfüllt er nur die etwas unkonventionellen Wünsche einer sexuell unerfahrenen Jugendlichen? Über die Details dieser Beziehung schweigt Bärfuss ganz bewusst. Lieber erschöpft er sich in Andeutungen. Und doch möchte man als Leser – und das zeigt die Qualität dieses Dramas – am liebsten dazwischengehen, weil man das Gefühl hat, da könne doch irgendetwas nicht mit rechten Dingen zugehen.
In Die sexuellen Neurosen unserer Eltern, das 2015 unter der Regie von Stina Werenfels verfilmt wurde, stellt Lukas Bärfuss Fragen über das Selbstbestimmungsrecht von Personen, die häufig unreflektiert als schutzbedürftig angesehen werden. Und er führt eindrucksvoll vor, was passiert, wenn man diese Fragen falsch beantwortet oder sie gleich ganz ignoriert. Doch das Stück greift nicht nur das tabuisierte Thema der Behindertensexualität auf, sondern geht auch stilistisch an die Nieren: »Arzt: Fühlst du dich nicht traurig. / Dora: Ich fühle mich immer traurig. Außer beim Ficken. / Arzt: Denkst du manchmal ans Kind. / Dora: Weg ist weg.« Diese gnadenlose Sprache, dieser unwissende Zynismus der Protagonistin, tun weh. Vor allem zeigen Textstellen wie diese aber auch den Mehrwert des Dramenlesens. Was auf dem Theater schnell verhallt und im allgemeinen Trubel des Bühnengeschehens untergeht, bleibt bei der Lektüre lange im Gedächtnis.
Ähnlich drastisch geht es auch im Schauspiel Der Bus zu, für das Bärfuss 2005 mit dem Mühlheimer Dramatikerpreis ausgezeichnet wurde. Es handelt von der Pilgerin Erika, die auf ihrem Weg ins polnische Tschenstochau versehentlich in den falschen Bus einsteigt. Als Busfahrer Hermann die vermeintliche Schwarzfahrerin bemerkt, gerät seine Welt aus den Fugen. Erika stört als fremdes Element die wacklige Harmonie der Reisegruppe – und wird dafür bestraft. In bester Herr-der-Fliegen-Manier gerät ein zufälliges Zusammentreffen zur Gewaltorgie. Die religiöse Protagonistin entwickelt sich zum Hassobjekt einer gottlosen Busbesatzung. Die Geschichte mit schleppendem Anfang und alltäglicher Prämisse entfaltet sich zu einem verstörenden Einblick in die Abgründe des sozialen Zusammenlebens der Menschheit.
Der Bus schließt die Wallstein-Sammlung würdig ab und macht deutlich, dass alle drei Stücke mehr verbindet, als nur der Bucheinband. Obwohl Bärfuss sehr unterschiedliche Themen behandelt, interessieren ihn ähnliche Probleme: Er dokumentiert, wie Einzelne plötzlich aus scheinbar funktionierenden Gruppengefügen ausbrechen und damit nicht nur sich selbst, sondern auch ihre Mitmenschen in den Abgrund stürzen. Vor allem aber zeigt er, was für eine eindrückliche Leseerfahrung Dramentexte sein können. Die Wallstein-Sammlung macht deutlich, wie sich auch in dramatischen Texten der charakteristische Erzählstil eines Autors einschreibt – und welch spannenden Erzählstil Lukas Bärfuss hat.